Krisenprävention und Rüstungslieferungen: Von der Notwendigkeit, genau hinzuschauen

21. März 2017   ·   Sebastian Nieke, Jan Fuhrmann

Deutsche Waffenlieferungen in Krisengebiete sind umstritten, aber erstmals politisch diskutabel, wie die Unterstützung der kurdischen Peschmerga im Nordirak zeigt. Eine solche Ertüchtigung durch Ausbildung und Ausrüstung kann taktische Erfolge erbringen. Um aber langfristig zu Stabilisierung beizutragen und Risiken zu reduzieren, bedarf es einer strategischen Zielsetzung, eines ganzheitlichen Engagements und strikter Bedingungen gegenüber den Empfängern.

Deutsche Rüstungslieferungen in Krisengebiete galten jahrzehntelang als ein politisches No-Go. In der 2011 erschienenen Toolbox Krisenmanagement von Forschern der SWP und des ZIF etwa tauchen Ertüchtigung, geschweige denn Rüstungslieferungen noch gar nicht auf. Dass sie – wie im Rahmen der sogenannten Ertüchtigungsinitiative oder im Weißbuch 2016 vermerkt – ein Instrument deutscher Krisenpräventionspolitik sein können, ist ein echtes Novum. In der Forschung und in der politischen Öffentlichkeit sind solche Waffenhilfen für regionale Partnerakteure derweil umstritten, wie auch beim PeaceLab2016-Workshop "Krisenprävention und Rüstungslieferungen – Passt das zusammen?" an der Universität Heidelberg deutlich wurde. Potentielle Eskalationsspiralen, die Gefahr, dass Waffen in falsche Hände gelangen können, und eine militärische Zurückhaltung als zentraler Wesenszug deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sind gewichtige Argumente, die auch bei der vom Bundesverband Sicherheitspolitik an Hochschulen organisierten Veranstaltung zur Sprache kamen.

Die kurdische Kontrastfolie

Zugleich steht mit der 2014 begonnenen deutschen Ausrüstungshilfe für die kurdischen Peschmerga gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) ein Fall im Raum, bei dem Deutschland in durchaus umfassendem Maße erstmals auch Waffen und Kampfmittel direkt in eine kriegerische Auseinandersetzung hinein geliefert hat. Über 24.000 G3- und G36-Gewehre mit mehr als 30 Millionen Schuss Munition, 1.200 MILAN Panzerabwehrraketen und 20.000 Handgranaten wurden seit 2014 in den Nordirak geliefert.

Doch stellt die deutsche Waffenhilfe für die Peschmerga tatsächlich einen Paradigmenwechsel dar, wie von manchen Kommentatoren befunden, von Bundesaußenminister Steinmeier hingegen verneint? Die Diskussion während der PeaceLab2016-Veranstaltung des BSH verdeutlichte, dass der kurdische Fall zunächst mehr als Kontrastfolie denn als Blaupause taugt – allein, da es sich hier gerade nicht um eine präventive Politik im eigentlichen Sinne, sondern um eine unter akutem Handlungsdruck erfolgte Maßnahme handelte. Mit Blick auf die Frage nach Rüstungslieferungen als etwaigem Teil von Krisenprävention lassen sich daraus zumindest fünf Schlussfolgerungen ziehen.

Zwingend erforderlich: Eine politische Strategie

Die Entscheidung zur Unterstützung der Peschmerga kam einer Nothilfemaßnahme gleich und insbesondere unter dem Eindruck eines drohenden Völkermordes an den Jesiden und anderer offenkundiger Gräueltaten des IS zustande, wie auch Bundeskanzlerin Merkel betonte. Die deutsche Waffenhilfe ist ohne Zweifel unter dem Ziel der internationalen Staatengemeinschaft, den IS zu zerschlagen, zu subsummieren. Offen bleibt hingegen die Frage nach der Rolle der begünstigten Kurden in einer künftigen Ordnung in Syrien und Irak – welche sich spätestens nach der Rückeroberung Mossuls unausweichlich stellen wird. Während demnach hier ein überaus reaktiver Ausnahmefall mit Nothilfecharakter vorliegt, sind im Regelfall einer präventionsorientierten Ertüchtigung gerade solche strategischen Fragestellungen im Vorfeld zu beantworten.

Politische Debatte: Öffentliche Ablehnung ist nicht vorprogrammiert

Die Öffentliche Meinung in der Bundesrepublik ist über Rüstungslieferungen als etwaiges Mittel deutscher Sicherheitspolitik schon dann mehr als gespalten, wenn verbündete Staaten der Adressat sind, wie Erhebungen zeigen. Daraus auf eine pauschale Unvermittelbarkeit gegenüber der Bevölkerung zu schließen wäre allerdings verfehlt: Eine Entscheidung zur Waffenhilfe in Krisenregionen bedarf in besonderem Maße stichhaltiger politischer Begründung – und der Peschmerga-Fall zeigt, dass diese erfolgreich sein kann. So stimmten laut einer Studie im Auftrag des Verteidigungsministeriums Ende 2015 rund 43 Prozent der Deutschen den laufenden Waffenlieferungen an die Peschmerga zu, während sich 26 Prozent ablehnend äußerten. Allerdings war die deutsche Waffenhilfe Ende 2015 in der öffentlichen Diskussion kaum mehr präsent. Ganz anders Ende 2014, als zuvor Bundeskanzlerin Merkel, Außenminister Steinmeier gemeinsam mit Verteidigungsministerin von der Leyen und eine große Mehrheit des Deutschen Bundestages sich medienwirksam dafür ausgesprochen hatten: Während sich auch damals schon 26 Prozent der Deutschen ablehnend äußerten, befürwortete zugleich eine Mehrheit von 52 Prozent die Waffenlieferungen.

Engagierte und stichhaltige Argumentation vermag somit durchaus Zustimmung in diesem umstrittenen Handlungsfeld zu gewinnen. Gerade die Einbeziehung des Bundestages – im Peschmerga-Fall geschah das erst kurz vor der Entscheidung – kann dabei zur breiten und nachhaltigen Begründung deutlich beitragen. Gestützt auf einen Parlamentsbeschluss (auch wenn dieser allein konsultativer Natur ist) erhält die betreffende Entscheidung weitere Legitimation. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Debatte über Ertüchtigung in der politischen Auseinandersetzung konsequent von jener um die Exporte deutscher Rüstungsunternehmen in umstrittene Empfängerstaaten unterschieden werden muss. Auch wenn die Ertüchtigungsinitiative bei ihrer Genese 2011 dort zunächst noch eine mögliche Verbindung vorsah, verdeutlicht die zwei Jahre darauf durch Deutschland in die EU eingebrachte Enable and Enhance Initiative ("E2I"), dass hier zweierlei Komplexe zu diskutieren sind. Ausrüstungs- und Waffenlieferungen im Sinne der Initiative können demnach keine Konsolidierungshilfe für die Verteidigungsindustrie sein. Das wird schon am finanziellen Rahmen von 130 Millionen Euro deutlich, die ab 2017 jährlich im Bundeshaushalt für Ertüchtigungsvorhaben eingeplant sind.

Effektivität durch Ausbildung und Ausrüstung

Die Peschmerga haben sich – durchaus entgegen manch anfänglicher Einschätzung – im Kampf gegen den IS mithilfe westlicher Unterstützung als durchsetzungsfähig erwiesen und der Terrororganisation substanzielle Gebietsverluste zugefügt. Dass die deutsche Waffenhilfe hierzu einen wichtigen Beitrag leistet, ist anzunehmen. Insbesondere der Panzerabwehrrakete MILAN wird eine entscheidende Wirkung im Kampf gegen gepanzerte Fahrzeuge des IS bescheinigt, gegen die den Peschmerga zuvor effektive Waffen fehlten. Doch, um beim MILAN-Beispiel zu bleiben, macht die Lieferung von Raketen allein noch keine Soldaten, die damit zielsicher treffen, geschweige denn Vorgesetzte, die sie im taktischen Zusammenspiel mit anderen Waffen einzusetzen verstehen. Die kurdischen Erfolge gegen den IS unterstreichen demnach, dass Waffen und Gerät allein nicht ausreichen, sondern dass es ebenso sehr der Ausbildung durch professionelles Militär bedarf.

Konditionalität: Harte Währung gegenüber substaatlichen Akteuren

So führen derzeit über zehn westliche Staaten, darunter seit Anfang 2015 auch die Bundesrepublik, Ausbildungsmissionen im Nordirak durch. Über 15.000 Peschmerga haben deren Trainings und Schulungen bis heute durchlaufen. Das Spektrum reicht allein von deutscher Seite vom anfänglichen Schwerpunkt infanteristischer Grundfertigkeiten über die mittlerweile stattfindende Schulung militärischer Führungskräfte für komplexere Gefechtssituationen bis hin zu Ausbildungen für Mechaniker oder für den Umgang mit Sprengfallen. Wird diese sehr diverse Kompetenzvermittlung an Bedingungen geknüpft, kann sie im Dickicht der indirekten Einflussnahme in einem Konflikt – gerade gegenüber einem substaatlichen Akteur wie den Peschmerga – eine harte Währung sein. Dasselbe gilt für die materielle Komponente, die nicht zuletzt aus diesem Grund in Tranchen erfolgt sein dürfte. Konditionalität setzt allerdings regelmäßige Evaluierung und damit abermals den kritischen Blick eigener Kräfte vor Ort voraus.

Risiken mindern, aber mit realistischen Erwartungen

Ohne "Boots on the Ground" funktioniert Ertüchtigung demnach nicht – und kann darüber hinaus womöglich sogar die Probleme verschärfen. Das zeigt sich zuvorderst an der Frage des Endverbleibs. Im Gegensatz zu wartungsintensiven Waffensystemen wie einem Kampfflugzeug oder einem Panzer büßen "Small Arms and Light Weapons", wie sie die Peschmerga erhalten haben, auch ohne Instandsetzung noch nach Jahrzehnten nur wenig von ihrer potentiell tödlichen Wirkung ein. Die aus Bundeswehrbeständen an die Peschmerga gelieferten Gewehre G3 etwa wurden zuletzt in den Achtzigerjahren hergestellt. Solche Halbwertszeiten lassen die Frage nach dem Endverbleib der gelieferten Waffen gerade vor dem Hintergrund einer langfristigen "Erosion von Staatlichkeit" (Bundesaußenminister Steinmeier) in den etwaigen Zielregionen einer Ertüchtigungspolitik in völlig neuem Licht erscheinen.

Zwar hat die kurdische Regionalregierung Endverbleibserklärungen unterzeichnet und bislang halten sich die ohnehin nicht auszuschließenden Fälle von Schwarzmarktverkauf oder auch feindlicher Erbeutung gelieferter Waffen in engen Grenzen. Letztlich bleiben Verbleibskontrollen in Konfliktgebieten aber schwierig bis unrealistisch, sodass der Einbettung in ein Maßnahmenspektrum aus Ausbildung und Beratung auch zentrale Bedeutung für die Risikominderung zukommt. Ein Beispiel hierfür ist der Aufbau eines Physical Security and Stockpile Managements (PSSM) zur sicheren Verwahrung von Waffen, um deren unkontrollierte Verbreitung zu verhindern. Wie etwa das deutsche PSSM-Kooperationsprojekt zwischen GTZ (heute GIZ) und Bundeswehr in Kambodscha gezeigt hat, führt allerdings auch hier kein Weg um die Präsenz eigener ziviler und militärischer Expertise vor Ort herum.

Unter dem Strich: Genau hinschauen, Ziele setzen und Dilemmata managen

Um zwei extreme Szenarien für den Peschmerga-Fall zu skizzieren: Entweder könnte die militärische Ertüchtigung mittelfristig in ein umfassenderes ziviles Engagement im Zweistromland übergeleitet werden, darunter insbesondere Elemente einer Sicherheitssektorreform. In diesem optimistischen Szenario wären die Waffenlieferungen dann rückblickend ein erster Schritt in einem politischen Prozess zur Stabilisierung des Post-IS-Irak unter Einbindung der Kurden. Ebenso könnten jedoch in einem pessimistischen Szenario nach erfolgreichem Vorgehen gegen den IS im Irak auch die latenten Konfliktlinien zwischen den Kurden, Sunniten und Schiiten gewaltsam aufbrechen. Würden die erhaltenen Waffen und Fähigkeiten dann missbraucht werden, müsste das deutsche Engagement einer grundsätzlichen Überprüfung unterzogen werden. In beiden Szenarien schließt sich der Kreis zur eingangs aufgeworfenen Frage nach der strategischen Zielsetzung.

Rüstungslieferungen in Krisengebiete waren und sind demnach mit guten Gründen ein umstrittenes Terrain. Für Fälle in der Zukunft, die dem der Peschmerga ähneln, gilt es demnach, die mit einer Waffenhilfe verbundenen Dilemmata nicht nur anzuerkennen, sondern sie aktiv zu managen. Das bedeutet als erstes den Versuch, Risiken umfassender und früher zu identifizieren, sie zu bewerten und zu benennen, um schließlich zu ihrer Begrenzung beizutragen. Einen allgemeinen Vorschlag zur Auflösung von Dilemmata darf man von den neuen Leitlinien zur Krisenprävention nicht erwarten. Vielmehr braucht es den genauen Blick auf den Fall selbst, um Risiken und Zielkonflikte zu verstehen und sie dann reduzieren zu können.

Wirkungen müssen regelmäßig neu evaluiert und Maßnahmen an Bedingungen geknüpft werden, um Lieferungen nach dem Gießkannenprinzip zu verhindern. Mittel zu einer aktiven Minimierung von Risiken finden sich bereits in der eingangs erwähnten Toolbox Krisenmanagement. Der Rückgriff darauf bedeutet allerdings im Zweifel mehr und nicht weniger sicherheitspolitisches Engagement – ein "Krisenmanagement light" allein durch Ausbildung und materielle Unterstützung ist keine Option. Soll also Ertüchtigung einschließlich der Lieferung von Waffen ein Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik werden, braucht es den Blick auf den Einzelfall – und da gilt es vor allen Dingen, genau hinzuschauen.