Präventiver, strategischer, substantieller: Krisenprävention weiterentwickeln

21. Juli 2016   ·   Niels Annen

Die Flüchtlingskrise zeigt die Defizite der Krisen- und Konfliktprävention: diese muss strategischer ausgestaltet und kohärenter mit Sicherheits- und Entwicklungspolitik verknüpft werden. Dazu gehört auch eine selbstkritische und ambitionierte Diskussion über strukturelle und finanzielle Verbesserungen.

Mit der Verabschiedung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ im Jahr 2004 leitete die damalige rot–grüne Bundesregierung einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Konflikten und Fragilität ein: Sie verankerte das Engagement für Frieden und Sicherheit als politische Querschnittsaufgabe. Seither ist der Stellenwert der zivilen Krisenprävention in der deutschen Politik kontinuierlich gewachsen – eine Steigerung des Budgets um über das Zehnfache ist nur ein Indikator dafür – und Deutschland hat bei der Entwicklung und Umsetzung ziviler Maßnahmen eine weltweite Führungsposition eingenommen.

Seit Inkrafttreten des Aktionsplanes vor nunmehr zwölf Jahren haben die außen– und sicherheitspolitischen Herausforderungen Deutschlands jedoch an Anzahl und Komplexität zugenommen. In der Zwischenzeit ist die Zahl der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden erstmalig seit dem Zweiten Weltkrieg auf über 65 Millionen gestiegen. Das Thema Flucht ist auch im Herzen Europas angekommen und führt einmal mehr vor Augen, wie sehr uns weltweite Krisen und Fragilität direkt betreffen. Generell ist die globale Dimension von vermeintlich lokalen Konflikten gewachsen, wie die Bürgerkriege in Syrien und im Jemen zeigen. Auch die Zunahme des internationalen Terrorismus stellt uns vor immer größere Herausforderungen. Diese Entwicklungen gehen einher mit dem wachsenden Bewusstsein der internationalen Verantwortung zur Lösung der gegenwärtigen Krisen. Insbesondere die Erwartungen an Deutschland – national und international – haben sich verändert: Immer öfter wird gefordert, Deutschland müsse seiner gestiegenen politischen und wirtschaftlichen Verantwortung stärker gerecht werden.

Chance für eine kohärente Strategie als Baustein vorsorgender Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik

Die aktuellen Fluchtbewegungen offenbaren auch die Defizite der internationalen Krisenprävention. Gerade angesichts der zahlreichen Krisen von heute müssen wir denen von morgen noch stärker vorbeugen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich den angestoßenen Prozess zur Erstellung eines neuen Grundlagendokumentes, das ressortübergreifend neue Leitlinien der Bundesregierung für Krisenprävention und Friedensförderung erarbeitet und damit ein Nachfolgedokument des Aktionsplanes von 2004 bildet.

Auch im Sinne des Friedensauftrags des Grundgesetzes und der Fortführung des bisherigen Aktionsplanes kann und muss die Krisenprävention substanziell weiterentwickelt und strategischer Baustein vorsorgender Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden. Dabei ist es wichtig, dass der Leitlinienprozess komplementär an andere Prozesse der Bundesregierung und der einzelnen Ressorts anknüpft und diese zusammenführt. Hierzu zählen das „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr“, der „15. Entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung“ wie auch die „deutsche Nachhaltigkeitsstrategie“ zur Umsetzung der Agenda 2030. Zielkonflikte zwischen Politikfeldern müssen dabei klar benannt und politische Prioritäten auf der Grundlage unserer Ziele und Werte festgelegt werden. Nur so wird es möglich sein, Friedensförderung noch stärker als bisher als strategische Querschnittsaufgabe in der deutschen Politik zu verankern. Zudem gilt es, einen Fokus auf die Prävention von Konflikten zu legen und vermehrt die zivile Perspektive in Bezug auf die Vorbeugung von Krisen sowie die Konsolidierung von Frieden einzubringen.

Wenngleich der Aktionsplan von 2004 erstmals in umfassender Weise dringend notwendige Handlungsfelder im Bereich der zivilen Krisenprävention aufzeigt und das Spektrum präventionspolitischer Ansätze darlegt, folgte daraus jedoch bisher keine kohärente Strategieentwicklung. Das neue Leitlinienkonzept bietet hier eine Chance, diese Lücke zu schließen. Es darf jedoch nicht nur ein abstraktes Strategiepapier bleiben, sondern muss auch konkrete Handlungsanweisungen enthalten oder diese zumindest anschließen.

Für den Leitlinienprozess wünsche ich mir eine breite und transparente Debatte, in der ressortübergreifend und mit Einbindung nationaler und internationaler zivilgesellschaftlicher Akteure Ideen und Perspektiven zusammen getragen werden. Dadurch kann auch für die Aufmerksamkeit gesorgt werden, die diese Leitlinien verdienen. In Bezug auf Sichtbarkeit über den üblichen Expertenkreis hinaus gilt: Konkrete politische Erfolge sind die beste Möglichkeit, um Sinnhaftigkeit und Nutzen von Krisenprävention und Friedenspolitik deutlich zu machen. Eine Einbeziehung des Bundestages in den Leitlinienprozess ist aus meiner Sicht unerlässlich, um im Endergebnis ein Konsens erzeugendes, mehrere Legislaturperioden überdauerndes Dokument zu erhalten.

Langfristige und ressortübergreifende Finanzmittel diskutieren

Um gewaltsame Konflikte bereits im Vorfeld ihres Entstehens zu verhindern, sind soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und die Schaffung von Lebensperspektiven zentral. Die langfristige bi- und multilaterale Unterstützung der deutschen Partner beim Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen und inklusiver, partizipativer Gesellschaften sowie bei der Gestaltung von Transformationsprozessen leistet hierzu einen wichtigen Beitrag und schafft Stabilität. Schwerpunkte sind u.a. gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratisierung und Menschenrechte.

Das Leitlinienpapier muss nun den politischen, institutionellen und finanziellen Rahmen aufzeigen, um diese Schritte noch kohärenter umsetzen und Gewaltkonflikte besser vorhersehen zu können. Dazu gehört beispielsweise die Diskussion über die langfristige und ressortübergreifende Verfügbarmachung von Finanzmitteln sowie eine mögliche Aufwertung des Ressortkreises „Zivile Krisenprävention“. Auch gilt es, Lehren aus dem bisherigen Engagement zu ziehen und einen Beitrag dazu zu liefern, die eigenen Möglichkeiten in Zukunft genauer abschätzen zu können. Es ist an der Zeit, die Umsetzung und Wirkung verschiedener Instrumente kritisch zu evaluieren und gegebenenfalls zu ersetzen. Aus Positivbeispielen lassen sich auch wichtige Lehren ziehen. Auch der gestiegenen Bedeutung internationaler, nationaler und vor allem lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure sowie Religionsgemeinschaften muss Rechnung getragen werden, denn die Vermeidung und Stabilisierung von Krisensituationen ist nicht nur eine staatliche, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dazu – und das wurde in der Vergangenheit noch nicht ausreichend berücksichtigt – zählt auch die Umsetzung der Resolution 1325 (2000) des VN-Sicherheitsrates vom 31. Oktober 2000, die die wichtige Rolle von Frauen bei der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung herausstellt.

Multilaterale Organisationen praktisch handlungsfähiger machen

Die konzeptionellen und institutionellen Grundlagen des friedensfördernden Handelns, müssen weiterhin bedarfsgerecht ausgebaut und gestärkt werden – in Deutschland, in den Partnerländern aber auch und vor allem auf multilateraler Ebene. Die Gewissheit, dass die globalen Herausforderungen der Zukunft nicht von Nationalstaaten alleine, sondern nur gemeinsam gelöst werden können, muss dazu führen, dass wir multilaterale Institutionen handlungsfähiger machen. Bei den Vereinten Nationen sind es hauptsächlich die operativen Strukturen für Friedensförderung und Konflikttransformation, die es verdienen, ausgebaut zu werden. Auch im Europarat, beim IWF und der Weltbank steht Deutschland in der Verantwortung, sein politisches Gewicht für diese Themen einzubringen. Der integrierte Ansatz der Europäischen Union, der auch in der vor kurzem veröffentlichten Global Strategy betont wird, sollte durch den deutschen Leitlinienprozess dabei Unterstützung erfahren. Darüber hinaus gilt es, die OSZE als Sicherheits- und Friedensgemeinschaft wieder zu stärken und die Abstimmung mit der NATO verbessern. Zugleich sollten wir uns in der EU und den VN dafür einsetzen, die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Regional – und Subregionalorganisationen (z. B. AU, ASEAN, UNASUR, ECOWAS, SADC) auszubauen und deren friedenspolitisches Engagement zu vertiefen.

Schließlich bedarf die Umsetzung einer umfassenden Strategie für Friedensförderung und Konflikttransformation neben starker politischer Führung auch angemessener Ressourcen, deren Bereitstellung langfristig gesichert werden muss.