Ausweg oder Sackgasse? Die wachsende Verzahnung von humanitärer Hilfe und Friedensarbeit

31. August 2016   ·   Marina Peter

In einem Beitrag für die Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt) im April 2016 zeigt Marina Peter am Beispiel des Südsudan auf, dass eine verstärkte Koordination und Zusammenarbeit zwischen humanitären, Entwicklungs- und Friedensakteuren notwendig ist bei einer klaren Rollenverteilung und unter maßgeblichem Einfluss lokaler Akteure.

Im März 2016 hob Helen Clark, Leiterin des United Nations Development Programme, anlässlich der Internationalen Konferenz Humanitäre Hilfe und Entwicklung die Notwendigkeit hervor, Silos aufzubrechen. Die Koordination zwischen humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensarbeit müsse schnell gestärkt werden, wenn die Verpflichtung der Agenda 2030 „to leave no one behind“ ernst genommen werden soll.

Es muss sich etwas ändern

Niemand kann mehr ernsthaft bezweifeln, dass sich dringend etwas ändern muss, will man die gegenwärtigen humanitären Krisen, die heute komplexer und langanhaltender als je zuvor sind, in den Griff bekommen. In „multidimensionalen Dauerkrisen“ werden unter anderem mit Menschen-, Drogen- und Waffenhandel Milliardenumsätze gemacht, mit welchen sich nicht zuletzt auch internationale Terrororganisationen finanzieren. Dem gegenüber stehen in den letzten 20 Jahren Ausgaben der internationalen Staatengemeinschaft in Höhe von rund 20 Billionen US Dollar, um die Folgen auch krimineller Machenschaften für die betroffenen Menschen zumindest zu lindern. Es wird immer schwerer, den wachsenden Finanzbedarf zu decken. Durch die Klimaveränderungen ist davon auszugehen, dass die Kosten zusätzlich dramatisch steigen werden.

Aus diesem Grund wird am 24. und 25. Mai in Istanbul der erste World Humanitarian Summit stattfinden. Die im Vorfeld vom UN-Generalsekretär postulierte „Agenda for Humanity“ benennt fünf Hauptverantwortlichkeiten:

  1. Verhinderung und Beendigung von Konflikten;
  2. Respektierung der internationalen Kriegsrechtsvereinbarungen;
  3. Einbeziehung aller Menschen;
  4. Entwicklung anderer Ansätze, um dem Bedarf gerecht zu werden;
  5. Investition in Menschlichkeit: lokale Kapazitäten fördern, Risiken mindern und effektive, inklusive Institutionen besonders in fragilen Kontexten aufbauen.

Vorbild Südsudan?

Im Folgenden wird am Beispiel des Südsudan diskutiert, ob die geforderte Stärkung der Koordination den entscheidenden Weg vorwärts weist.

Die knapp fünf Jahre alte Republik bietet neben zutiefst frustrierenden Erfahrungen auch jede Menge bedenkenswerter Ansätze, um langfristig eine anscheinend permanente Hoffnungslosigkeit zu überwinden. Diese näher zu beleuchten – wesentlich tiefer gehend, als es dieser Beitrag leisten kann – könnte durchaus helfen, die Debatte um Chancen und Grenzen des Zusammenspiels zwischen humanitärer, Entwicklungs- und Friedensarbeit zu bereichern und entsprechende Schlüsse für die Weiterarbeit zu ziehen.

Der Versöhnungsprozess in Wunlit als Erfolgsbeispiel

Neu ist das jetzt geforderte Konzept zur stärkeren Zusammenarbeit der diversen Akteure nicht. Bereits im Februar/März 1999 geschah etwas Bahnbrechendes im Südsudan, damals noch Teil des Sudan, und mit diesem in einen langen Krieg verwickelt. In einem Dorf namens Wunlit versammelten sich Konfliktparteien, Zivilisten, Kirchenführer, Soldaten sowie einige internationale BeobachterInnen und ModeratorInnen. Jahrelang war von Seiten der internationalen Gemeinschaft vergeblich versucht worden, die seit 1991 zerstrittenen südsudanesischen Führer John Garang (Dinka) und Riek Machar (Nuer) zu versöhnen und wieder zu einer Gruppierung zusammenzuführen. Ihre „Bruderkämpfe“ hatten wesentlich mehr zivile Opfer gefordert als der Krieg mit der Armee des Sudans.

Jetzt wurde seitens des Kirchenrats des Neuen Sudan (NSCC) der bis dato erste Versuch unternommen, Frieden „von unten“ aufzubauen. Dieser Prozess wurde „People to People Peace Process“ (P2PPP) genannt, Wunlit war nur die erste Etappe eines umfassenden Konzepts der Zusammenarbeit von humanitären, Friedens- und Entwicklungsarbeitenden, das auf alle drei Ebenen der Friedensarbeit ausgerichtet war.

Das Erfolgsrezept “People to People Peace Process”

Wichtigste Prinzipien des P2PPP: Ein von allen anerkannter, ziviler, lokaler Akteur hatte die Federführung im Wunlit-Prozess, hatte eingeladen, das Konzept entwickelt und leitete hauptverantwortlich die Konferenz zum P2PPP. Traditionelle Methoden der Aussöhnung und Kompensation der beteiligten Gruppen wurde durch „moderne“ Methoden ergänzt. Nicht internationale Peacekeeper mussten für die Sicherheit der Teilnehmenden sorgen, sondern die örtlichen Sicherheitskräfte. Der damalige Zonenkommandeur – Salva Kiir, heute Präsident des Südsudan – stellte die Konferenz unter seinen persönlichen Schutz.

Wunlit schaffte mit der Versöhnung zwischen Dinka und Nuer die Grundlage für humanitären Zugang zu den von Krieg und beginnender Ölförderung vertriebenen Menschen. Eher entwicklungsbezogene Maßnahmen wie die Unterstützung des örtlichen Friedensrates sowie des gesamten P2PPP bis zum Friedensschluss zwischen der Regierung des Sudan und der wiedervereinigten südsudanesischen Rebellenarmee im Jahr 2005 folgten. Internationale Nichtregierungsorganisationen (NRO) bestimmten nicht die Agenda, sondern arbeiteten im Hintergrund, halfen auf Anfrage mit Wissen, Finanzen, internationalen Zugängen und Advocacy-Arbeit. Sie versuchten zudem, das fast zeitgleich mit Wunlit entwickelte „Do no harm“-Konzept in ihrer eigenen Arbeit umzusetzen und zu propagieren.

Ist P2PPP noch heute wirksam?

Kann der P2PPP auch in der gegenwärtigen Situation – eventuell neben oder mit anderen konfliktsensiblen Ansätzen wie „Do no harm“ oder dem „Peace and Conflict Impact Assessment“ (PCIA), der „Inclusive Peace and Transition Initiative“ oder auch des „Local to Global Protection“-Projektes – helfen, einen Weg aus multidimensionalen Dauerkrisen zu finden?

In gewisser Weise ja: Aufgrund seiner Trägerschaft durch von der Bevölkerung anerkannte lokale Akteure, dem Hauptaugenmerk auf auf Graswurzel-Ebene beginnender Versöhnung und Friedensaufbau quer durch alle Bevölkerungsschichten sowie durch die Einbeziehung traditioneller Methoden bietet er viele gute Ansatzpunkte.

Neue Gegebenheiten erschweren die Durchführung eines P2PPP

Aber seit 2005 hat sich viel verändert. Rollen und Verantwortlichkeiten werden zunehmend unklar oder verwässert, wie die folgenden Beispiele zeigen:

  • Ohne die wesentlichen Grundlagen eines P2PPP zu berücksichtigen, verwendeten besonders nach 2005 hereinströmende Organisationen den Begriff geradezu inflationär, um an den Geldtöpfen zu partizipieren. Internationale verdrängten lokale Bemühungen und wurden zu „Machern“ statt zu „Ermöglichern“.
  • Der immer schnellere Wechsel bei Mitarbeitenden in NRO führt dazu, dass das sowohl für den Schutz humanitärer Einrichtungen wie für Friedensarbeit benötigte Vertrauen der Bevölkerung nicht aufgebaut werden kann. Meist gibt es zudem kein institutionelles Gedächtnis.
  • Aus ehemaligen zivilgesellschaftlichen Akteuren sind oft rücksichtslose, korrupte, wenig Friedensliebe zeigende Regierungsmitglieder geworden, die sich aber bestens damit auskennen, wie (internationale) zivilgesellschaftliche Netzwerke funktionieren, und welche Macht sie entfalten können, wenn sie sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen.
  • UN-Peacekeeping-Truppen mit fest umrissenen Aufgaben sind im Land. Deren Hauptquartiere aber sind seit Dezember 2013 zu Schutzorten für Konfliktopfer und wie die Peacekeeper selbst zu Angriffszielen geworden.
  • Humanitäre Einrichtungen und Mitarbeiter humanitärer Organisationen genießen keinen besonderen Schutz mehr. Auch sie werden zu Opfern brutaler Übergriffe.
  • Zivilgesellschaftliche Gruppen und einzelne Kirchen haben sich im Konflikt positioniert und gelten längst nicht mehr überall als „honest broker“.
  • Zivile Gruppen waren erstmals bei den Friedensverhandlungen in Addis Abeba 2014/15 offiziell beteiligt. Unklar aber bleibt, inwieweit sie tatsächlich die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung repräsentierten bzw. mit der Basis verbunden waren.
  • Traditionelle Methoden der Versöhnung entsprechen häufig weder internationalen Standards noch Rufen nach „Rechenschaftspflicht“ und „Gerechtigkeit“. Zudem sind junge Menschen oft entwurzelt, in der Diaspora aufgewachsen und kennen weder diese Methoden noch respektieren sie traditionelle Autoritäten.
  • Unklarheiten bei Rollen und Verantwortlichkeiten und Vermischung von humanitären mit politischen bzw. menschenrechtlichen Advocacy-Botschaften leisten schnell dem Argument Vorschub, alle internationalen, aber zunehmend auch nationalen NRO seien Agenten ausländischer Partikularinteressen, und somit „legitime“ Angriffsziele.
  • Kriminelle Machenschaften einschließlich Menschenhandel haben ebenso zugenommen wie rassistische Diskriminierung.
  • Akte von Terror bzw. die Akteure entziehen sich friedenslogischen Ansätzen.
  • „Healing of memories/trauma counseling“ ist eine Komponente, die überhaupt erst die Voraussetzung für Friedensfähigkeit schafft. Im Südsudan wurde zwar lange darüber geredet, aber bisher viel zu wenig getan. Hier liegt eine wichtige Schnittstelle für die Zusammenarbeit zwischen humanitären Organisationen und lokalen Friedensakteuren.

Die vom UN-Generalsekretär ausgerufene neue Agenda und die von Helen Clark geforderte verstärkte Koordination zwischen humanitären, Entwicklungs-und Friedensakteuren sind ganz sicher wegweisend. Ein „Allheilmittel“ aber sind sie nicht.

Frieden kann nur von innen geschaffen werden

Mittlerweile ist es fast eine Binsenweisheit, dass anhaltender Frieden nur von innen geschaffen werden kann. Noch aber tragen angewandte Methoden dem nicht Rechnung. Auch wenn die stärkere Einbeziehung zivilgesellschaftlicher lokaler Akteure explizit genannt wird, scheinen Prozesse doch oft stark von außen gesteuert.

Humanitäre Organisationen müssen in diffusen, oft ethnisch oder religiös überhöhten bewaffneten Auseinandersetzungen deutlich als neutrale Schutz- und Versorgungsleistende erkennbar bleiben. Gerade sie müssen sich aber der Konfliktdynamiken in ihrem Umfeld äußerst bewusst sein. An einer gemeinsamen Situations-/Konflikt-/Akteurs- sowie konfliktsensiblen Wirkungsanalyse aller Beteiligten aber mangelt es noch.

Klare Verantwortlichkeiten im Lobby- und Advocacy-Bereich müssen verabredet werden und erkennbar bleiben.

Die Hauptverantwortung obliegt der Regierung

Solange Kriegsparteien und Milizen darauf vertrauen können, dass Außenstehende für Ernährung, Basisgesundheitsversorgung und Elementarbildung ihrer Bevölkerung sorgen und dabei auch noch genug für die eigenen Kämpfer abfällt, haben sie wenig Grund, einen Konflikt schnell zu beenden. Bei allen lobenswerten Versuchen der Zusammenarbeit, um humanitäre Krisen zu verhindern, muss immer wieder ganz deutlich gemacht werden, wo bzw. bei wem die Hauptverantwortung für eben diese Krisen liegt. Schutz der Bevölkerung und die Beendigung von bewaffneten Konflikten obliegt an erster Stelle der jeweiligen Regierung. Das Völkerrecht ist an dieser Stelle sehr klar.

Ab und an einmal sollte man auch die diplomatisch leise Plattform verlassen. Vielleicht ist der WHS dafür ein geeigneter Ort – bis 2030 sind es nur noch 14 Jahre.