Stabilisierung in akuten Krisen: Strategisch, eigenständig und komplementär

13. Februar 2017   ·   Philipp Reder, Sven Schneider, Robin Schroeder

In akuten Krisen schafft Stabilisierung die Voraussetzungen für langfristige Konflikttransformation. Um eine politische Strategie in dieser Konfliktphase kohärent und effektiv umzusetzen, ist ein ressortgemeinsames Verständnis von Stabilisierung dringend erforderlich. Die neuen Leitlinien bieten die Chance, eine verbindliche Definition zu verankern und die zivile Handlungsfähigkeit in diesem Bereich zu stärken.

Um ressortübergreifendes Handeln in Krisenkontexten strategiefähig (vgl. Naumann) werden zu lassen, müssen sich die beteiligten Bundesministerien über die Wege und Mittel zur Erreichung klar definierter Ziele einig sein. Die neuen Leitlinien haben das begrüßenswerte Potential, ein für alle Ressorts verbindliches handlungsleitendes Grundsatzdokument zu werden, das ein kohärentes Zusammenwirken aller der Bundesregierung zur Verfügung stehenden Mittel im Bereich des Krisenmanagements und Peacebuilding sicherstellt. Dabei ist entscheidend, dass die Ressorts ein gemeinsames Verständnis davon entwickeln, auf welchen Wirkungslogiken die verschiedenen Handlungsfelder gründen und wie diese miteinander verbunden sind.

Konzeptionelle Klarheit ist erforderlich

Dies gilt in besonderer Weise für das in Deutschland vergleichsweise neue Handlungsfeld Stabilisierung, in das die Bundesregierung in den letzten Jahren erheblich investiert hat. Dies lässt sich nicht zuletzt am Namen der im Auswärtigen Amt neu gegründeten Abteilung „Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge“ festmachen. Die sogenannte Abteilung „S“ bündelt die Fähigkeiten des Auswärtigen Amtes zur Krisen- und Konfliktbearbeitung in einer Organisationsstruktur. Zwischen den unterschiedlichen Ressorts besteht allerdings nach wie vor kein durchgehend einheitliches Verständnis von Stabilisierung und den damit verbundenen Maßnahmen. Dies behindert nicht nur kohärentes und effektives Regierungshandeln, es macht Regierungshandeln auch unverständlich und führt zu unnötigen Missverständnissen.

In den neuen ressortgemeinsamen Leitlinien sollte die Bundesregierung deshalb die Gelegenheit nutzen, den Begriff „Stabilisierung“ verbindlich zu definieren, um eine Grundlage für sich ergänzendes und kohärentes Regierungshandeln zu legen. Einen Ausgangspunkt könnte die folgende Definition des Begriffs Stabilisierung bieten, für die sich die Autoren bereits in der Vergangenheit ausgesprochen haben:

Stabilisierung ist ein Prozess, der im Rahmen einer politischen Strategie zivile, polizeiliche und militärische Mittel verknüpft, flexibel und gezielt Konflikte adressiert, um Gewalt zu reduzieren, die Lebensumstände der Bevölkerung schnell spürbar verbessert und die Voraussetzungen für nachhaltige Entwicklung und Frieden schafft.

Der Aufbau spezialisierter Fähigkeiten für das Handlungsfeld Stabilisierung ist im internationalen Vergleich übrigens keineswegs revolutionär. Im Gegenteil: Wichtige Partnernationen wie Großbritannien, Kanada, die Niederlande und die USA haben aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in Krisenkontexten bereits entsprechende Stabilisierungskapazitäten aufgebaut.

Stabilisierung strebt ein notwendiges Zwischenziel an

Wie Entwicklungsminister Müller in seinem Beitrag auf diesem Blog betont, repräsentiert der durch Stabilisierung angestrebte Zustand ein Zwischenziel auf dem Weg zu einem konsolidierten Frieden mit rechtsstaatlichen und demokratisch legitimierten Institutionen. Für die Autoren ist dieses Zwischenziel ein Zustand, bei dem großflächige und unsanktionierte politische Gewalt beendet, Ansätze für lokale politische Konfliktlösungen zwischen Gewaltakteuren und legitime Ordnung geschaffen, menschliche Grundbedürfnisse sichergestellt und ein berechenbarer Alltag für die Zivilbevölkerung wiederhergestellt sind. Es geht also gerade nicht, wie von einigen Stimmen geargwöhnt, um die Schaffung einer Art „Friedhofsruhe.“ Im Gegenteil: Die Erreichung dieses Zwischenziels bildet die Voraussetzung für eine langfristige Konflikttransformation und Friedenskonsolidierung. Sie kann nicht zugunsten schneller (Schein-)Erfolge oder realitätsferner Normvorstellungen übersprungen werden. Dies hat die Erfahrung im internationalen Krisenengagement der letzten Jahre deutlich gezeigt.

Die Etablierung des Handlungsfeldes Stabilisierung trägt somit der Erkenntnis Rechnung, dass Peacebuilding ein schrittweiser Prozess ist, bei dem nicht alle Instrumente des Krisenmanagements zur gleichen Zeit im gleichen Umfang zum Tragen kommen. Eine der jeweiligen Konfliktphase angepasste Gewichtung und in vielen Fällen Sequenzierung der Instrumente haben sich als notwendig erwiesen. Dabei kommt es darauf an, alle Maßnahmen auf die lokalen Rahmenbedingungen abzustimmen und flexibel zu planen: Während in einigen Landesteilen zivile Stabilisierungsprojekte erforderlich sind, können in anderen Teilen des Landes, welche von den Dynamiken eines Gewaltkonflikts kaum betroffen sind, bereits Maßnahmen der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit angebracht sein.

Zivile Stabilisierungsprojekte schließen eine Fähigkeitslücke

Stabilisierung als Handlungsfeld umfasst zivile, polizeiliche sowie militärische Mittel und richtet diese auf die Unterstützung von politischen Prozessen zur Konfliktbewältigung aus. Stabilisierungsprojekte sind hierbei ein ziviles Mittel. Sie ermöglichen eine Erweiterung des diplomatischen Instrumentenkastens, mit dem außenpolitische Initiativen durch konkrete Maßnahmen unterfüttert werden können. Sie werden während bzw. im unmittelbaren Nachklang von Kampfhandlungen eingesetzt und schließen damit eine Fähigkeitslücke der Bundesregierung.

Als „Außenpolitik mit Mitteln“ können Stabilisierungsprojekte Verhandlungs- und Friedensprozesse auf höchster diplomatischer Ebene beispielsweise durch Beratung, Trainings und Logistik unterstützen. Ihre Wirkungen entfalten sie jedoch im Besonderen auf der lokalen Ebene eines Krisengebietes, wo sie einen direkten Einfluss auf die Lebensrealität der Menschen vor Ort haben. In Annäherung an das beschriebene Zwischenziel wird angestrebt, Gewalt einzudämmen, eine erneute Gewalteskalation zu verhindern sowie erste legitime Ordnungsstrukturen und Grundlagen für eine Konflikttransformation zu schaffen. Indem der Fokus auf schneller Gewalteindämmung und Schaffung politischer Gestaltungsräume liegt, haben Stabilisierungsprojekte eine andere Zielsetzung als die langfristigen Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit und der zivilgesellschaftlichen Friedenskonsolidierung.

Zivile Stabilisierung beginnt dort, wo die Idee der Friedensdividende greift

Die zentrale Wirkungslogik von Stabilisierung liegt in der Schaffung von politischem Kapital und Friedensdividenden. Zivile Stabilisierung beginnt genau dort, wo die Idee der Friedensdividende greift. Vorher muss von bloßer Friedenserzwingung gesprochen werden. Die Schaffung von politischem Kapital und Friedensdividenden ist der zivile Hebel zur Reduzierung von Gewalt. Der bei weitem größte Teil der Bevölkerung in Krisengebieten verhält sich ohnehin gewaltfrei, steht aber oft im Fokus der zivilen Maßnahmen in Krisengebieten.

Logischerweise muss eine Friedensdividende jedoch auch gerade den Unfriedlichen, also den lokalen Gewaltakteuren, einen handfesten Mehrwert bieten. Letztere stellen zwar eine Minderheit dar, sind allerdings maßgeblich für die Instabilität eines Krisengebietes verantwortlich. Stets kontextabhängig sollen Stabilisierungsprojekte somit konkrete Anreize zur politischen Konfliktbearbeitung bieten, welche die Fortsetzung des Konflikts mit Waffengewalt schrittweise weniger attraktiv machen. Neben Beharrlichkeit und strategischer Kohärenz setzt dies die Bereitschaft voraus, im Sinne eines inklusiven Ansatzes tatsächlich alle Konfliktparteien in einen politischen Prozess einzubeziehen. Rückschläge müssen hier eingeplant werden, denn Stabilisierung ist eine Risikoinvestition. Wenn sich allerdings Chancen bieten, dass lokale Konfliktparteien mithilfe von zivilen Stabilisierungsprojekten zur Entwicklung gewaltfreier Lösungsansätze ermutigt werden, ist ein entschlossener Ressourceneinsatz geboten.

Stabilisierung ist ein eigenständiges, komplementäres Handlungsfeld

Stabilisierung ist somit alles andere als eine amorphe Kategorie, die „alles und nichts“ will – Stabilisierung ist als gezieltes, grundlegend politisches Engagement in akuten Krisen zu verstehen. Zivile Stabilisierungsprojekte folgen damit einer spezifischen außenpolitischen Wirkungslogik und unterscheiden sich klar von – nicht weniger wichtigen! – Maßnahmen im Rahmen der humanitären Hilfe, Übergangshilfe und strukturbildenden Entwicklungszusammenarbeit. An die Stelle der Nachhaltigkeit treten in Stabilisierungskontexten die schnelle Wirkung im Sinne der politischen Zielsetzung sowie die Anschlussfähigkeit an mittel- und langfristige Maßnahmen der strukturbildenden Entwicklungszusammenarbeit. Dabei steht Stabilisierung und der damit verbundene Einsatz ziviler, polizeilicher und militärischer Mittel keineswegs in Konkurrenz zu anderen Handlungsfeldern im breiten Spektrum des Krisenmanagements und Peacebuilding. Stattdessen ist Stabilisierung eine notwendige und komplementäre Ergänzung zu den bereits länger etablierten Handlungsfeldern.

Fazit: Die Chance der Leitlinien nutzen!

Erst ein klares ressortgemeinsames Verständnis von Stabilisierung schafft die Grundlage für einen konzeptionellen Rahmen, innerhalb dessen spezialisierte Fähigkeiten zur Umsetzung ziviler Stabilisierungsmaßnahmen sowie deren Verzahnung mit polizeilichen und militärischen Mitteln der Stabilisierung entwickelt und aufgebaut werden können. Dies ist eine Voraussetzung für ein kohärentes und effektives Handeln der Bundesregierung bei der Implementierung einer ganzheitlichen internationalen Stabilisierungs- und Friedenskonsolidierungsstrategie in Krisenkontexten.

Im Zuge der Arbeit an den neuen Leitlinien bietet sich der Bundesregierung eine seltene und daher umso wertvollere Gelegenheit, ein ressortgemeinsames Begriffsverständnis von Stabilisierung verbindlich zu etablieren. Diese Gelegenheit sollte genutzt werden, denn ein solcher Schritt ist dringend notwendig!

Politikkohärenz Friedensförderung Stabilisierung

Philipp Reder

Philipp Reder ist tätig für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).

Sven Schneider

Sven Schneider ist für das Auswärtige Amt tätig.

Robin Schroeder

Robin Schroeder ist Leiter des Arbeitsbereichs Konfliktanalyse und Internationales Krisenmanagement am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK). Von November 2016 bis Dezember 2017 war er für das Auswärtige Amt im Rahmen der MINUSMA-Mission als Civil Advisor des 3.-6. Bundeswehr-Einsatzkontingents im nordmalischen Gao tätig. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.