Friedensförderung: Die Expertise religiöser Akteure nutzen!

04. Mai 2017   ·   Markus Weingardt

Bislang kommt das Thema Religion im PeaceLab2016 zu kurz. Während das Konflikt- und Gewaltpotenzial religiöser Akteure hinreichend bekannt ist, werden ihre Kompetenzen und Möglichkeiten in der Konfliktbearbeitung weitgehend ignoriert. Die Bundesregierung sollte geeignete religiöse Partner identifizieren und langfristige Beziehungen zu ihnen aufbauen, um deren Expertise nutzen und fördern zu können.

Dieser Blog ist eine Plattform, um mit Experten aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft über die Entwicklung neuer Leitlinien der Bundesregierung für Krisenengagement und Friedensförderung zu diskutieren. Es gehe dabei, so der damalige Außenminister Steinmeier zum Auftakt dieses Diskussionsprozesses, um Grundüberzeugungen, Interessen und Werte. In diesem bald einjährigen Prozess haben sich viele zu Wort gemeldet und wurde vieles zur Sprache gebracht. Nur eines fehlt fast vollständig: Religion.

Religion ist kaum ein Thema in der PeaceLab2016-Debatte

Einerseits fehlt „Religion“ weitgehend in Gestalt von Autoren auf diesem Blog, von zwei Ausnahmen (Lutz Krügener und Jan Gildemeister/Wolfgang Burggraf) abgesehen. Bis auf einen Workshop der Evangelischen Akademien am 06. September 2016 üben sich Vertreter der Kirchen, geschweige denn anderer Religionsgemeinschaften in Deutschland, in vornehmer Zurückhaltung. Haben sie denn nichts zu sagen in einer öffentlichen Debatte über Außenpolitik, über deutsche und internationale Interessen, über Werte? Und was haben sie konkret zu „Krisenengagement und Friedensförderung“ beizutragen?

Man muss nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft sein, ja man muss noch nicht einmal religiös sein, um die Friedensressourcen religiöser Akteure wahrzunehmen. Insofern ist es ebenso erstaunlich, dass – zweitens – „Religion“ auf diesem Blog auch kaum von Vertretern aus Wissenschaft, Politik oder NGOs thematisiert wurde. Allenfalls Katja Anger brachte „Religion“ als Gegenstand deutscher Außenpolitik zur Sprache. Vielerlei Akteure der Zivilgesellschaft (einschließlich der Privatwirtschaft) werden angesprochen, werden auch in die Pflicht genommen, aber die Religionsgemeinschaften werden als Partner deutscher Außenpolitik nur unzulänglich in Betracht gezogen. Ausgerechnet, möchte man sagen, wo die Religionen doch allesamt einen dezidierten Friedensanspruch vertreten.

Religiöse Friedenskompetenzen sind offenkundig

Die Missachtung, mindestens aber Geringschätzung religiöser Friedenspotenziale hat verschiedene Gründe. In der Wissenschaft folgte der – inzwischen hinreichend widerlegten – Säkularisierungsthese, wonach sich die Sache mit den Religionen ohnehin bald auflösen würde, in Huntingtons Kielwasser eine Fokussierung auf die Konflikt- und Gewaltpotenziale von Religionen. Dass es diese gibt, wissen wir seit Kain und Abel, gleichwohl gibt es noch manches darüber zu lernen, etwa wie diese destruktiven Potenziale einzudämmen und konstruktive Potenziale zu fördern wären.

Doch eben dieser Schritt zur Befassung mit der konstruktiven Rolle von religiösen Akteuren in Konflikten und allgemein in der (Außen-)Politik bleibt weithin aus. Sei es mangelnde Sensibilität für religiöse Themen, sei es Unkenntnis über Friedensbeiträge religiöser Akteure, sei es die schiere Angst, durch Einbeziehung religiöser Aspekte Probleme und Konflikte zu verschärfen: Erstaunlich ist es allemal, denn wer sich mit Friedensförderung befasst – wissenschaftlich oder im Rahmen deutscher Außenpolitik – kommt an religiösen Akteuren längst nicht mehr vorbei, nicht an den Gewaltakteuren, aber eben auch nicht an den Friedensakteuren. Deren vielfältigen Beiträge zur Vermeidung, Verminderung oder Beendigung von Gewalt, zur Förderung von Frieden und Versöhnung sind offenkundig: in Kongo und Kolumbien, Mosambik und Madagaskar, Kambodscha und Kosovo, Sierra Leone und Sri Lanka, Benin und Bosnien-Herzegowina, Philippinen und Indien.

In diesen und vielen weiteren Konfliktfällen haben unterschiedlichste religiös motivierte Friedensakteure ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten unter Beweis gestellt (vgl. M. Weingardt: „Religion Macht Frieden. Das Friedenspotenzial von Religionen in politischen Gewaltkonflikten“). Sie haben sich durch umfassende Konfliktkenntnisse empfohlen, verbunden mit Kompetenzen in der konstruktiven Konfliktbearbeitung. Sie haben sich als glaubwürdige, uneigennützige Vermittler erwiesen oder als mutige, beharrliche Vertreter einer unterdrückten Bevölkerung, als Moderatoren von Friedensprozessen oder als deren aktive Mitgestalter. Sie waren in der Krisen- und Gewaltprävention ebenso erfolgreich wie in Versöhnungsarbeit, Friedensbildung und Menschenrechtsarbeit u.v.m.

Den Vertrauensvorschuss religiöser Akteure nutzen

Was sie dabei vielfach auszeichnet, ist ein erheblicher Vertrauensvorschuss seitens der Konfliktparteien (und in der Bevölkerung), den säkulare Akteure so zumeist nicht genießen. Dieser Vertrauensvorschuss öffnet Herzen und Türen, Denk- und Spielräume, Handlungs- und Verhandlungsspielräume. Natürlich ist dies kein Selbstläufer, Fähigkeiten und Vertrauenswürdigkeit müssen im Lauf der Friedensprozesse permanent bestätigt werden, doch die Ausgangslage für religiöse Friedensakteure ist häufig signifikant günstiger. Das kann die Möglichkeiten und Kompetenzen säkularer, auch politischer Akteure freilich nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen, sofern eine Zusammenarbeit stattfindet – was noch viel zu selten und eher zufällig geschieht. Doch die Friedenspotenziale religiöser Akteure sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft, wir stehen erst am Anfang. Daher gilt es, sie zu stärken und noch viel mehr zu nutzen.

Religionen als Partner identifizieren und langfristig einbeziehen

Das hat erfreulicherweise inzwischen auch die Politik erkannt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat nach gründlicher Vorarbeit im Februar 2016 das Programm „Religionen als Partner in der Entwicklungszusammenarbeit“ ins Leben gerufen, um neben deren entwicklungspolitischen Kräfte ausdrücklich auch ihre Frieden und Versöhnung stiftenden Kompetenzen aufzunehmen. Und auch das Auswärtige Amt erkannte, dass der Faktor Religion in der Vergangenheit zu wenig berücksichtigt wurde, und hat im Herbst 2016 den „Arbeitsstab Friedensverantwortung der Religionen“ eingerichtet, der unter anderem ein internationales Netzwerk religiöser Friedensakteure aufbauen soll.

Doch in beiden Fällen kann es nicht darum gehen, religionsbasierte Partner im Ausland (etwa durch die Aussicht auf materielle Unterstützung) zu bestimmten Aktivitäten im Sinne deutscher Interessen zu bewegen. Vielmehr muss das erste und wichtigste Anliegen sein, von ihnen zu lernen. Dazu müssen zunächst religiöse Akteure in ausgewählten Ländern identifiziert werden, die sich in Friedensfragen einschlägig positioniert und engagiert haben, oder zumindest dafür ansprechbar scheinen. Potenzielle Partner können durch die Inanspruchnahme als friedenspolitische Ratgeber auch ermutigt werden, sich diesbezüglich aktiver zu profilieren.

Im zweiten Schritt müssen langfristige, vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden. Das kann selbstverständlich nicht von heute auf morgen geschehen, sondern erfordert intensive Bemühungen, Kontinuität und Beharrlichkeit über lange Zeiträume, vor allem aber glaubwürdiges Interesse und Lernbereitschaft von deutscher Seite.

Der Mehrwert religiöser Partner: Informationsaustausch und Friedenskompetenzen

Auf der Grundlage solcher Beziehungen können dann wichtige Informationen generiert bzw. ausgetauscht werden: Informationen und Erfahrungen aus erster Hand, ohne politische, personelle oder administrative Dreifachfilter, direkt von Betroffenen bzw. Akteuren vor Ort in konfliktträchtigen Regionen.

Keine gesellschaftliche Großorganisation verfügt über so weitreichende, mehr oder weniger formalisierte, doch funktionierende Informations- und Kommunikationskanäle wie die Religionsgemeinschaften, keine ist näher bei den Menschen und ihren Nöten. Dadurch erfahren sie früher als andere Institutionen, wenn sich irgendwo Krisen zusammenbrauen, und können Einblicke gewähren, die von Wissenschaft und Politik sonst oft nur über komplizierte, aufwendige und lange Prozesse gewonnen werden können.

Vielfältige, vertrauensvolle Beziehungen zu friedensrelevanten religiösen Personen und Organisationen ermöglichen aber nicht nur, Informationen und Einblicke zu gewinnen, die für die deutsche Außenpolitik hilfreich und wichtig sind. Durch sie erfährt man zugleich von den Aktivitäten, (konflikt-)spezifischen Kompetenzen und Möglichkeiten der religiösen Gesprächspartner. Diese Möglichkeiten unterscheiden sich in mancher Hinsicht von denen säkularer Akteure und können, nochmals, diese nicht ersetzen, aber doch wesentlich ergänzen. Um solche Ressourcen zu nutzen, müssen religiöse Unterstützer aktiv in Friedensprozesse einbezogen werden, freilich nicht blindlings und pauschal, sondern entsprechende Konflikt-, Akteurs- oder Netzwerkanalysen in jedem Einzelfall vorausgesetzt.

Ressortübergreifende Zusammenarbeit ist unverzichtbar

Diese Einblicke und Erfahrungen müssen von der deutschen Außenpolitik wahr- und aufgenommen werden. Dazu muss gewährleistet sein, dass friedensrelevante Informationen auch an zentraler Stelle zusammenfließen. Im Vorfeld des ruandischen Genozids von 1994 bspw. lagen verschiedenen deutschen Ministerien zwar durchaus beunruhigende Informationen vor, die jedoch nirgends zusammengeführt wurden. Dadurch wurde das katastrophale Ausmaß der Entwicklung unterschätzt, mit fatalen Folgen. Eine ressortübergreifende Zusammenarbeit und Bündelung ist daher unverzichtbar, gerade mit Blick auf religiöse Partner, die häufig auch in der Entwicklungs-, Menschenrechts-, Bildungs-, Kultur- oder Sozialarbeit engagiert und damit naturgemäß Ansprech- bzw. Kooperationspartner verschiedener Ministerien sind.

Den friedenspolitischen Beitrag von Religionen inhaltlich, strukturell und langfristig verankern

Die Einbeziehung religionsbasierter Friedenskräfte verlangt Sachkenntnis und Mut. In politischen, auch diplomatischen Kreisen ist jedoch eine gewisse Furcht vor religiösen Themen und Akteuren zu beobachten. Es ist die Sorge, durch Berücksichtigung religiöser Aspekte und Akteure einen Konflikt womöglich zu verkomplizieren, gar zu verschärfen. Diese Sorge ist verständlich, darf aber nicht länger dazu führen, deswegen jegliche religiösen Akteure – und damit eben auch religiöse Friedenskräfte – außen vor zu lassen. Stattdessen muss sie Ansporn sein, noch genauer und gründlicher hinzusehen, noch mehr in vertrauensvolle und dauerhafte Beziehungen zu investieren. Die deutsche Friedensforschung wie auch NGOs haben hier schon vieles geleistet, in einigen Bereichen gibt es jedoch erheblichen Nachhol- und Förderbedarf.

Dass Bundesentwicklungsministerium und Auswärtiges Amt nun verstärkt die Friedenskompetenzen und die Friedensverantwortung von Religionsgemeinschaften in den Blick nehmen, ist sehr zu begrüßen. Zu wünschen bleibt, dass diese Maßnahmen inhaltlich und strukturell so tief verankert werden, dass sie nicht von den Präferenzen der Regierungsparteien oder Minister abhängen. Vertrauensbeziehungen können auf Jahre verbrannt sein, wenn sie auf halben Wege abgebrochen werden. Das darf nicht passieren.

Ein Netzwerk religiöser Akteure ins Leben zu rufen, ist vergleichsweise einfach. Die eigentliche Arbeit besteht darin, das Netzwerk mit Leben zu füllen und lebendig zu erhalten. Vertrauen will verdient sein; Beziehungen müssen gepflegt werden, über Jahre, auch dort, wo (noch) kein Konflikt eskaliert ist und scheinbar kein Handlungsdruck herrscht. Dazu müssen die damit befassten Organe in den Ministerien oder in anderen geeigneten Institutionen so mit Personal und Ressourcen ausgestattet sein, dass a) ein kontinuierlicher, fachkundiger und vertrauensvoller Austausch gesichert ist, b) die Einbeziehung der Expertise von Friedensforschung, Friedens- und Entwicklungsdiensten und anderen NGOs geleistet werden kann, und c) die Aufbereitung und Einspeisung im politischen Apparat gewährleistet ist. Politische Funktionsträger, Mitarbeiter oder Parlamentarier müssen ebenso wie diplomatisches Personal für die Friedensrelevanz von Religionen sensibilisiert werden. Sinnvoll ist auch der Austausch auf zumindest europäischer Ebene, um etwa historisch gewachsene bilaterale Verbindungen anderer Staaten zu nutzen. Deutschland muss kein Rad neu erfinden, aber – endlich – in Bewegung bringen.

Die Berücksichtigung religiöser Fragen und Akteure ist nicht „nice to have“, sondern essenziell für eine weitsichtige, friedensorientierte deutsche Außenpolitik. Denn, wie Bundesminister Gerd Müller zu Recht bemerkte, ob Frieden oder Entwicklung, Sicherheit oder Fluchtursachen: „Ohne den Beitrag der Religionen werden wir die globalen Herausforderungen nicht bewältigen können.

Friedensförderung Partner

Markus Weingardt

Dr. Markus A. Weingardt ist Publizist und Friedensforscher mit dem Schwerpunkt Religion und Frieden sowie Bereichsleiter Frieden bei der Stiftung Weltethos in Tübingen.