Unterschätzte Akteure: Zivilgesellschaft in Versöhnungsprozessen

23. Oktober 2018   ·   Friederike Repnik, Martin Vehrenberg

Staatliche und internationale Akteure unterschätzen die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Akteure, die Versöhnungsprozesse unterstützen. Die Bundesregierung sollte diese früher an die Verhandlungs- und Planungstische holen, sie mit ihrer Eigenständigkeit und ihren Erfahrungen ernst nehmen und ihnen eine aktive Rolle in den Versöhnungsprozessen zugestehen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Unrecht und Gewalt zu erleben hinterlässt tiefe Einschnitte und Brüche im Leben von Menschen und Gesellschaften, die über die Vergangenheit und Gegenwart hinaus auf die Zukunft einwirken. Damit Frieden wieder wachsen kann und Versöhnung möglich wird, brauchen betroffene Gesellschaften ein systemisches, umfassendes Verständnis darüber, was im notwendigen Umgang mit der Last der Vergangenheit nötig und möglich ist.

Martina Fischer hat in ihrem PeaceLab-Beitrag bereits die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes betont. Ebenso hat sie auf den erforderlichen langen Atem hingewiesen, der unabdingbar ist, um komplexe, langfristige und inklusive Prozesse mit vielen Akteuren zu unterstützen. Doch mit Blick auf diese Akteure lässt sich ein Problem identifizieren: Staatliche und internationale Akteure unterschätzen die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Akteure, die Versöhnungsprozesse unterstützen. Das liegt auch daran, dass sie nicht ausreichend wahrnehmen, wie vielschichtig die Bedarfe der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen sind.

Die Bundesregierung sollte diesen Fehler vermeiden. Allein die Bemühungen nationaler Regierungen und internationaler Akteure können den zahlreichen Herausforderungen nicht gerecht werden, die auf eine Gesellschaft nach dem Ende eines Gewaltkonfliktes oder einer Gewaltherrschaft zukommen, um ihre Friedensfähigkeit wiederherzustellen. Es braucht in jedem Fall auch die effektiven Beiträge und die Mitverantwortlichkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und Institutionen. Sie haben vielfältige Zugänge und Perspektive und tragen so mit dazu bei, dass Versöhnungsprozesse inklusiv werden können.

Zivilgesellschaft sichert inklusive und partizipative Aufarbeitungsprozesse

So wie Gewalt eine ganze Gesellschaft und häufig in ganz besonderem Maße die Zivilgesellschaft trifft, so betrifft auch der Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und ihren Folgen die ganze Gesellschaft und insbesondere zivilgesellschaftliche Akteure.

Es sind meistens die Opfer und ihre Unterstützer/innen, die nach der Wahrheit und einer Arbeit an der kollektiven Erinnerung drängen. In der Regel sind dies Selbsthilfeorganisationen, Kirchen und basisnahe NGOs, denn sie haben Zugang zu den Opfern, haben sie oft auch in dunklen Stunden begleitet und genießen gerade aufgrund dieser Verlässlichkeit ihr Vertrauen. Sie systematisch einzubinden und institutionell zu stärken ist unabdingbar, um verschiedene gesellschaftliche Gruppen mit ihren spezifischen Perspektiven, Erfahrungen und Bedarfen in die Auseinandersetzung mit Gewalt und ihren Folgen zu integrieren.

Die Bundesregierung sollte zivilgesellschaftliche Akteure früher an die Verhandlungs- und Planungstische holen, sie mit ihrer Eigenständigkeit, ihren Erfahrungen und Potentialen ernst nehmen und ihnen im Sinne der Subsidiarität eine aktive Rolle in den Versöhnungsprozessen zugestehen.

Dabei darf sie sich nicht davor scheuen, die vielfältigen, sich manchmal widersprechenden Betrachtungsweisen produktiv zur Sprache zu bringen. Im Sinne reduzierter Komplexität nur eine Perspektive zu berücksichtigen, ist ein leichtsinniger Fehler. Denn um den Erfahrungen der betroffenen Menschen gerecht zu werden und die Gesellschaft als Ganze einzubeziehen, ist ein multiperspektivischer Ansatz wichtig. Staatliche Akteure müssen der Versuchung widerstehen, die Entwicklung einer einzigen, gemeinsamen Perspektive anzustreben und Zivilgesellschaft als vor allem Erfüllungsgehilfe staatlich bestimmter Agenden zu sehen.

Erinnerungsarbeit und Gedächtnisstätten subsidiär fördern

Ein wichtiges Instrument, um die ethnische, religiöse und kulturelle Identität der von Gewalt betroffenen Menschen und Gesellschaft wiederzugewinnen und zu stärken, sind Gedenkstätten als Orte der Erinnerung. Diese entstehen in den meisten Fällen aus zivilgesellschaftlichen Initiativen, nicht selten getragen von Opfern. Die Berliner Gedenkstätten Hohenschönhausen (ehemaliges Stasi-Gefängnis) und „Topographie des Terrors“, das Erinnerungsmuseum der afrokolumbianischen Opfergruppen in Tumaco/Kolumbien und die im Aufbau befindliche Gedenkstätte Belene Island in Bulgarien (ehemaliges Gefängnislager für politische Gefangene in der kommunistischen Zeit) sind lebendige Beispiele hierfür.

Sie leisten einen wertvollen Beitrag zu einem kollektiven Gedächtnis, das auch bzw. gerade die Erfahrungen der Opfer berücksichtigt. Kollektives Gedächtnis heißt in diesem Zusammenhang gerade nicht die Arbeit auf ein einheitliches gemeinsames Narrativ hin und erst recht nicht die Überwindung sich gegenseitig widersprechender Opferidentitäten, sondern eine Erinnerung, die es zulässt und aushält, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen und Lesarten der Vergangenheit gibt.  Besonders in multi-ethnisch, multi-kulturell und multi-religiös geprägten Gesellschaften können die durch Gewalt und Unrecht zerstörten kollektiven Gedächtnisse nur durch solche Initiativen wiederhergestellt werden. Gemeinsames Erinnern weist aber auch immer Lücken auf, da sich viele wichtige Stimmen nach Gewalterfahrungen in die Anonymität zurückziehen und so nicht Teil eines kollektiven Gedächtnisses werden können.

Anders als in Deutschland erhalten zivilgesellschaftliche Initiativen dieser Art in Partnerländern meist keine staatliche Unterstützung und müssen sich sogar staatlicher Übergriffe und Behinderungsversuche erwehren. Die Bundesregierung sollte den Aufbau und die Arbeit von Erinnerungs- und Gedächtnisstätten auch im Rahmen ihrer Außen- und Entwicklungspolitik verstärkt subsidiär fördern. Sie sollte gegenüber den Regierungen der Partnerländer darauf hinwirken, dass die für die Glaubwürdigkeit so nötige politische Unabhängigkeit gewahrt wird.

Ethische Orientierung und langer Atem

Staatliche Akteure und die von ihnen formulierten Politiken und Interessen ändern sich. Zivilgesellschaftliche Akteure hingegen bieten die notwendige versöhnungsorientierte Kontinuität, einen langen Atem und die Sensibilität für die erforderlichen Zeithorizonte im Umgang mit Gewalt und ihren Folgen. Sie sind damit ein Gegengewicht und eine wichtige Ergänzung zur Perspektive des Staates, der oftmals mit einer kurzfristigeren und partikularpolitischen Motivation handelt.

Zivilgesellschaftliche Akteure begründen ihre Arbeit und ihre Forderungen zudem ethisch und entsprechend der Bedarfe der verschiedenen relevanten Gruppen. Sie bieten häufig ein Identifikationsangebot und eine Zusammengehörigkeit über politische und ethnische Grenzen hinweg an. Dadurch stellen sie eine wertvolle Ressource im Umgang mit Fragen zu Gewalt und Versöhnung dar. Dabei nehmen insbesondere die religiösen Akteure auch die spirituellen Bedürfnisse ernst, die in der Begleitung der von Unrecht und Gewalt betroffenen Menschen von zentraler Bedeutung sind, und fördern damit die Sprachfähigkeit von Opfern nach der erfahrenen Gewalt. Besonders die Ausdeutung von Gewalt- und Leidenserfahrung trägt zum Wiedergewinn von Sprache und zu einem erneuten Beziehungsaufbau bei und wirkt Brüchen in Beziehungen und Gesellschaft entgegen.

Die Bundesregierung hat die Bedeutung von Religion und religiösen Akteuren in Entwicklungs- und Friedensprozessen wahrgenommen und arbeitet aktuell auf eine stärkere Berücksichtigung in ihrem politischen Handeln hin. Auch hier ist sie gut beraten, religiöse Akteure in Versöhnungsprozessen zu fördern. Sie sollte dafür aber nicht auf staatliche Akteure setzen oder das Rad neu erfinden, sondern auf vorhandene Strukturen, Erfahrungen und Kompetenzen bei eben diesen Akteuren zurückgreifen.

Sicherung zivilgesellschaftlicher Räume

Die Anerkennung der Relevanz der Zivilgesellschaft in Versöhnungsprozessen seitens Friedensforscher und internationaler Akteure steht im Gegensatz zu den massiven Einschränkungen, die zivilgesellschaftliche Organisationen bei ihrer Arbeit aktuell erfahren. Die über Jahre und Jahrzehnte gewachsene zivile Friedensarchitektur wird in der großen Mehrzahl der Staaten weltweit bedroht oder gar zerstört.

Davon sind vor allem Menschenrechts- und Friedensorganisationen und ihre Mitarbeiter/innen betroffen, für die es nicht selten um das Überleben geht wie aktuell in Burundi.

Glaubwürdigkeit verlangt die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit

Staat und Zivilgesellschaft sind meist auf spezifische Weise in Prozesse von Gewalt und Gewaltüberwindung involviert. Sie versuchen aber allzu häufig distanziert, sozusagen unbeteiligt, und nur auf politischer und fachlicher Ebene dem Thema zu begegnen. Doch im Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit geht es immer um die Beziehung zu anderen Menschen, Gruppen und Gesellschaften. Gewalt und die Erinnerung an Gewalt prägen Identitäten. Um ein authentisches Gegenüber sein zu können, müssen sich deshalb alle Akteure vor und auch in der Begegnung mit Anderen bewusst mit der eigenen Geschichte, eigenen Erfahrungen von Gewalt sowie aktuellen Verflechtungen in Gewaltprozesse befassen. Nur so erlangen sie die nötige Glaubwürdigkeit als Akteure der Versöhnung. 

Die Bundesregierung sollte die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und an Versöhnungsprozessen künftig deutlich stärker als bisher im politischen Dialog mit Partnerländern einfordern und gezielt fördern, auch materiell. Dabei kommt es darauf an, das Engagement der Zivilgesellschaft subsidiär zu fördern und nicht staatlich zu organisieren. Dies muss einhergehen mit einer entschlossenen Antwort der Bundesregierung auf die zunehmende Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume durch Regierungen wie sie dies im aktuellen Koalitionsvertrag angekündigt hat.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Zivilgesellschaft Transitional Justice

Friederike Repnik

Dr. Friederike Repnik ist Religionswissenschaftlerin und Traumafachberaterin. Zurzeit koordiniert sie das Ziviler Friedensdienst (ZFD) Landesprogramm der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe e. V.(AGEH) im Südsudan.

Martin Vehrenberg

Martin Vehrenberg ist als stellvertretender Geschäftsführer in der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe e. V. (AGEH) tätig und zurzeit Sprecher des Konsortiums Ziviler Friedensdienst.