Vergangenheitsarbeit als Bestandteil von Friedenspolitik

01. Oktober 2018   ·   Martina Fischer

Nach Krieg und Diktatur bilden Prozesse der Aufarbeitung einen wichtigen Bestandteil von Friedensarbeit. Juristische, gesellschaftliche und politische Initiativen sind erforderlich, um vergangenes Unrecht aufzuarbeiten. Eine zentrale Herausforderung: Vergangenheitsarbeit muss so gestaltet werden, dass sie Konflikttransformation und Aussöhnung unterstützt, statt neue Konflikte zu erzeugen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Die Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ beschreiben Vergangenheitsarbeit als „zentralen Bestandteil internationaler Friedenspolitik“. Reformen im Bereich der Justiz und Rechtsstaatsförderung messen sie eine hohe Bedeutung bei. Endlich, denn wie Pablo de Greiff in seiner Amtszeit als UN-Sondergesandter regelmäßig betonte, wurde die Reform staatlicher Institutionen in den Transitional Justice-Strategien internationaler Organisationen und Geldgeber viel zu lange vernachlässigt. Oftmals setzten diese zu selektiv auf Gerichte oder Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und ließen ganzheitliche Ansätze vermissen. Eine ressortgemeinsame Strategie der Bundesregierung sollte derartige Fehler vermeiden. 

Reform und Durchleuchtung von Gewaltapparaten

Um Verbrechen aus Kriegen und Diktaturen aufzuarbeiten, müssen vor allem Polizeiapparate durchleuchtet werden. Personal, das an Straftaten beteiligt war, muss zur Rechenschaft gezogen werden. Gleiches gilt für Angehörige von Armeen und Geheimdiensten. Auch Strafvollzugs- und Justizfolgeeinrichtungen sind zu überprüfen und zu reformieren. Eine ressortgemeinsame Strategie für „Vergangenheitsarbeit“ muss sich daher mit Maßnahmen der Sicherheitssektorreform verbinden. Gleichzeitig muss die Bundesregierung bei der Kooperationen mit Drittstaaten sicherstellen, dass die „Performance“ ihrer Partner gründlich überprüft wird und die politische Ebene zu Reformen bereit ist. Das gilt zum Beispiel für die deutsche Zusammenarbeit mit vielen afrikanischen Ländern bei der „Ertüchtigung“ von Armeen und Polizei. Derartige Polizei- und Militärhilfe muss zudem strikt an die Etablierung demokratischer Kontrolle dieser Apparate geknüpft werden. Ist eine Bereitschaft für all das nicht erkennbar, muss die Zusammenarbeit unterbleiben.

Die Reform staatlicher Institutionen ist so wichtig, weil ansonsten das Vertrauen von Bürger/innen in staatliche Strukturen beeinträchtigt wird. Das konnte man zum Beispiel in der Nachkriegsregion Bosnien-Herzegowina beobachten. Über Jahre wurden dort Polizeireformen im Zuge der ethnopolitischen Polarisierung verzögert. So konnte keine wirksame und einheitliche Praxis im Umgang mit während und nach dem Krieg verübten Verbrechen etabliert werden. Als Folge konnten immer wieder Inhaftierte, die schwerer Kriegsverbrechen verdächtigt oder angeklagt wurden, auf wundersame Weise aus der Haft verschwinden und untertauchen. Darauf hatten die internationalen Behörden ebenso wenig Einfluss wie die juristischen Institutionen des Landes, deren Glaubwürdigkeit massiv untergraben wurde.

Strafrechtliche Aufarbeitung: Es fehlen Zeugen- und Opferschutz und Traumasensibilität

Weil in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien die Bereitschaft und Voraussetzungen für eine faire Rechtsprechung nicht gegeben war, blieb die Verfolgung von Kriegsverbrechen zunächst dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (ICTY) überlassen. Dieser unterstützte die am Dayton-Vertrag beteiligten Staaten im Aufbau nationaler und lokaler Gerichte, die anschließend die Untersuchung und Ahndung weiterer Fälle übernahmen. Letztlich wurden in Den Haag in 25 Jahren nur 161 Fälle abschließend verhandelt. Nach Beendigung des Mandats des ICTY, waren noch immer Tausende von minderschweren Fällen bei den Gerichten in der Region anhängig, die voraussichtlich nicht alle zu Lebzeiten der Beteiligten abgearbeitet werden können. In vielen Nachkriegsgesellschaften ist es unmöglich, alle Täter vor Gericht zu stellen. Somit kann über Strafverfolgung Gerechtigkeit nur sehr bedingt hergestellt werden. Zudem kann sie Opfern nur bedingt Gehör verschaffen und diesen weder Genugtuung noch Heilung versprechen. Sowohl in der Arbeit des ICTY als auch der lokalen Gerichte im westlichen Balkan zeigten sich zahlreiche Defizite im Schutz von Opfern und Zeugen.

In ihrer Unterstützung juristischer Formen der Aufarbeitung sollte die Bundesregierung in Zukunft vor allem darauf achten, dass Mittel für einen wirksamen (oft kostspieligen) Opfer- und Zeugenschutz bereitgestellt werden. Nur so können zum Beispiel Opfer gender-basierter und sexualisierter Kriegsgewalt zu Aussagen motiviert werden. Zudem müssen die Verfahren trauma-sensibel gestaltet werden. Eine Strategie der Bundesregierung sollte gender-sensiblen Ansätzen und der Aufarbeitung sexualisierter Kriegsgewalt hohe Priorität einräumen. 

Aufarbeitung benötigt einen umfassenden Ansatz

Nationale oder internationale Strafgerichte tragen nicht nur zur Beendigung von Straflosigkeit sondern auch zur Faktenerhebung bei. Strafverfolgung allein kann jedoch nicht den Weg zur Versöhnung ebnen, wie die kontroversen Reaktionen auf die Urteile des ICTY im Westlichen Balkan zeigten. Dafür bedarf es eines umfassenden Ansatzes, der auch narrative, dialogische und gesellschaftliche Elemente umfasst. Dazu gehören zum Beispiel restorative Formen der Gerechtigkeit, die sich um Heilung und/oder einen Täter-Opfer-Ausgleich sowie materielle und symbolische Kompensation bemühen. Solche Projekte sollte die Bundesregierung als Teil eines umfassenden Ansatzes gerade dort stärker fördern, wo sie auch in die strafrechtliche Aufarbeitung investiert.

Aufarbeitung und Aussöhnung: „top-down“ und „bottom up“

Um Zusammenleben zu ermöglichen, sind vielfältige Initiativen des Gedenkens, der Vertrauensbildung und Brückenbildung in lokalen Gemeinwesen erforderlich. Hierbei kommt der Zivilgesellschaft eine zentrale Bedeutung zu. In der Balkanregion hat sich gezeigt, dass die Dokumentation von Verbrechen und damit auch ihre strafrechtliche Verfolgung sehr von zivilgesellschaftlichem Engagement profitiert hat. Auch bei der Begleitung von Zeug/inn/en und der Prozessbeobachtung spielten NGOs eine wichtige Rolle. So mündete die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von NGOs beispielsweise in einer gemeinsamen Kampagne für eine regionale Wahrheitskommission. 

Gleichwohl zeigte sich auch, dass Fortschritte im Umgang mit Vergangenheit nicht durch die Förderung zivilgesellschaftlicher Maßnahmen allein erzielt werden können. Die Bundesregierung muss ebenso auf die politische Ebene Druck ausüben. Denn nur wenn staatliche Akteure bereit sind, die Mitverantwortung von Institutionen für Menschenrechtsverletzungen zu benennen und ihre Archive zu öffnen, können Wahrheitskommissionen sinnvoll arbeiten.

Strategien lokal entwerfen und international unterstützen

Zivilgesellschaftliche Organisationen, die Prozesse der Aufarbeitung in Nachkriegsregionen begleiten, müssen mit ihren eigenen Ressourcen haushalten und können nicht auf allen Ebenen gleichzeitig aktiv sein. Manche setzen sich für die Rechte von Opfern und Überlebenden ein. Manche verbinden Trauma-Arbeit mit Gesundheitsprogrammen oder einkommensschaffenden Maßnahmen, um Menschen wieder eine Perspektive zu geben. Andere bemühen sich um inklusive Erinnerungskulturen, die das Leiden der Betroffenen in verschiedenen Konfliktlagern anerkennen, denn Flüchtlinge und Binnenvertriebene müssen ebenso integriert werden wie ehemalige Kämpfer/innen. Eine Transitional Justice-Strategie der Bundesregierung sollte für eine breite Unterstützung auch solcher lokaler Initiativen sorgen und sich nicht nur auf besonders bekannte NGOs zu fokussieren, die auf nationaler oder überregionaler Ebene agieren.

Die deutsche Regierung sollte die Initiativen zivilgesellschaftlicher und staatlicher Akteure also gleichermaßen fördern. Der Fokus sollte hierbei auf der Unterstützung liegen, denn „Transitional Justice“-Strategien müssen dem jeweiligen Kontext entsprechen und können nur von den Betroffenen selbst entworfen werden. Dabei sollte die Bundesregierung unbedingt einen langen Atem beweisen und bereit sein, ihre Partner auch noch Jahre oder Jahrzehnte nach einem formellen Friedenschluss sowohl ideell als auch materiell zu fördern oder auch politischen Druck auszuüben, denn Aufarbeitungs- und Aussöhnungsprozesse beginnen selten schon mit dem Waffenstillstand.

Deutsche Politik mit EU-Ebene verknüpfen

Auch auf internationaler Ebene wurden in den vergangenen Jahren Politikstrategien für die Unterstützung von Vergangenheitsarbeit entworfen, unter anderem von der Europäischen Union. Die EU-Policy ist Teil des „EU-Action Plan on Human Rights and Democracy 2015-2019“ und betont besonders die Anerkennung des Leids und Kompensationen für die Opfer, Vertrauensbildung und den Aufbau von Beziehungen sowie „gender-sensitivity“. Darin heißt es: „Transitional justice is seen today as an integral part of state- and peace-building and therefore should also be embedded in the wider crisis response, conflict prevention, security and development efforts of the EU.” Damit folgt die EU-Policy einem mehrdimensionalen Ansatz, wie er auch von den Vereinten Nationen geteilt wird. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass dieser Ansatz konsequent auch auf EU-Ebene zur Anwendung kommt und selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

Debatten

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Zivilgesellschaft Osteuropa Partner Transitional Justice

Martina Fischer

Dr. Martina Fischer ist Politologin und Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung bei Brot für die Welt (@BROT_fuerdiewelt). Zuvor war sie mehr als 30 Jahre in der Friedens- und Konfliktforschung, davon knapp zwei Jahrzehnte an der Berghof Foundation (Berlin), tätig.