Der Blick zurück ebnet den Weg voraus: Erfahrungen des ZFD in Kolumbien

26. November 2018   ·   Ulrike Hemmerling

Die kolumbianische Zivilgesellschaft ist für die Aufarbeitung vergangener und gegenwärtiger Gewalt im Land unverzichtbar. Der Zivile Friedensdienst (ZFD) der AGEH fördert zivilgesellschaftliche Initiativen und deren Vernetzung, um den Friedensprozess zu unterstützen. Die Bundesregierung sollte ebenfalls ein besonderes Augenmerk auf ihre Förderung legen und dabei wachsam und offen für die Dynamiken vor Ort sein.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Eine Anwältin unterstützt eine Menschenrechtsorganisation bei der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, eine Psychologin arbeitet mit ehemaligen FARC-Kämpfer/-innen, ein Theaterpädagoge hilft, das Schweigen zu brechen und Gewalt und Vertreibung öffentlich zu thematisieren, ein Journalist schult Journalist/-innen in konfliktsensibler Recherche und Reportage. Was haben all diese Menschen gemeinsam? Sie tragen als internationale Friedensfachkräfte in Kolumbien zur Vergangenheitsaufarbeitung bei. 

Seit fast 20 Jahren arbeitet der Zivile Friedensdienst (ZFD) der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) in Kolumbien und unterstützte schon während des bewaffneten Konfliktes Projekte der kolumbianischen Zivilgesellschaft, insbesondere auch der katholischen Kirche, die die Gewalterlebnisse und Ängste der Menschen thematisierten, Opfer von Gewalt begleiteten und mit Mut und Kreativität versuchten, Samen für den Frieden zu sähen. 

Das 2016 unterzeichnete Friedensabkommen zwischen kolumbianischer Regierung und FARC-Guerilla traf bekanntlich auf erheblichen gesellschaftlichen Widerstand. Die Zugeständnisse der damaligen Regierung an die Guerillakämpfer/-innen stoßen in Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung und die Umsetzung der Vereinbarungen geht nur unzureichend und schleppend voran. Die 2018 gewählte Regierung möchte das Abkommen grundlegend reformieren und bringt es damit in Gefahr. Die chronische Unterfinanzierung der vereinbarten Maßnahmen, die stockende Umsetzung und die fehlende politische Rückendeckung treiben viele ehemalige Guerillakämpfer/-innen in die Arme bewaffneter Banden. Illegale Gruppierungen nutzten den territorialen Rückzug der FARC, um Gebiete und illegale Ökonomien zu übernehmen. Die Gewalt in Kolumbien nimmt derzeit wieder zu.

Friedensförderung nicht ohne Aufarbeitung der Gewalt denken

Ohne die Aufarbeitung des Erlittenen bewegen sich die Bemühungen um einen gesellschaftlichen Frieden und demokratische Strukturen auf dünnem Eis und es gibt kaum Garantie dafür, dass die Gewalt sich nicht neuerlich manifestiert. Der Blick zurück, die Aufarbeitung der Gewalt, das Benennen des Schreckens, die Forderung von Rechenschaft, die Bestrafung von Verantwortlichen und die Entschädigung von Opfern sind notwendig, um einen neuen ethischen Konsens herzustellen, der die Gewalt ahndet, erneute Menschenrechtsverletzungen nicht toleriert und die Würde der Opfer wieder herstellt. Friedensförderung nach Gewaltkonflikten kann daher nicht ohne Maßnahmen zur Aufarbeitung der Gewalt gedacht werden.

Der Friedensvertrag von 2016 berücksichtigt dies in dem Kapitel über die Rechte von Opfern, das unter anderem den Aufbau eines „Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Nichtwiederholung“ (SIVJRNR) festlegt. Dessen grundlegende Komponenten sind die Einrichtung einer Speziellen Übergangsgerichtsbarkeit, einer Wahrheitskommission, einer Behörde zur Suche nach den Verschwundenen, eines Mechanismus zur integralen Entschädigung und die Förderung der Garantie der Nichtwiederholung. Auch wenn die konkrete Ausgestaltung der Komponenten noch viele Fragen aufwirft, so wurde damit doch eine wichtige Grundlage für die Aufarbeitung der Gewalt geschaffen. Die Beteiligung der Opfer an diesen Komponenten ist eines der Grundprinzipien des Systems. 

Zivilgesellschaft hat Schlüsselrolle bei Gestaltung sozialer Beziehungen

Deutlich wird, dass ein unterzeichnetes Friedensabkommen noch keine Garantie für Frieden ist. Dieser braucht den couragierten Einsatz vieler unterschiedlicher Akteur/-innen. Die Zivilgesellschaft spielt hierbei eine tragende Rolle. Ihre Einbeziehung in den Konflikt ist dabei divers und facettenreich. Sie wird bedroht, ermordet oder verschleppt; sie wird massakriert, gespalten, polarisiert und für Kampfhandlungen rekrutiert; sie kann zum Handlanger der Gewalt werden, von illegalen Ökonomien profitieren, wegschauen und schweigen, oder selbst Gewaltakteur/-in werden. Sie ist es aber auch, die erlittene Gewalt sichtbar macht; Frieden, Aufarbeitung, Gerechtigkeit, Entschädigung, die Einhaltung der Menschenrechte fordert; staatliches Handeln kritisch beobachtet. Daher kommt ihr bei Aufarbeitungsprozessen eine große Bedeutung zu. Oft ist sie es, die beginnt, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und deren Aufklärung beim Staat einzufordern. Sie hat eine Schlüsselfunktion in der Neugestaltung sozialer Beziehungen und kann entscheidend zu Aufarbeitung, Annäherung, psychosozialer Verarbeitung und gar Versöhnung beitragen.

Partner lokal, national und regional vernetzen

Der ZFD der AGEH setzt in Kolumbien am zivilgesellschaftlichen Engagement für Vergangenheitsaufarbeitung und der Förderung der Friedenskultur an. In der neu beginnenden Phase geht es zum einen darum, durch professionelle Fachkräfte Projekte von Partnerorganisationen zu unterstützen, die dazu beitragen, den Zugang von Gewaltopfern zum SIVJRNR zu ermöglichen. Zum anderen sollen auch davon unabhängige Initiativen der Aufarbeitung gefördert werden. So arbeitet eine Anwältin im Anwaltskollektiv CCAJAR bei der Vorbereitung von Beweismitteln und Falldokumentation, um Klagen von Opfern vor der Speziellen Friedensgerichtsbarkeit juristisch zu untermauern. Eine Fachkraft unterstützt das Erinnerungsmuseum in Tumaco dabei, dass dieses im Zusammenschluss mit weiteren Erinnerungsorten Kontakte zwischen Gewaltopfern in den Regionen und der Wahrheitskommission herstellt und Empfehlungen an die Kommission formuliert. Eine Theaterpädagogin half der Sozialpastoral in Buenaventura eine mehrgenerationale Theatergruppe ins Leben zu rufen, die die anhaltende Gewalt in öffentlichen Auftritten thematisiert und Menschen dazu ermutigt, Wege aus der Gewalt und Isolation zu finden. In Apartadó, einer stark von der Gewalt betroffenen Region, soll die Diözese dabei unterstützt werden, ein Netzwerk von lokalen, durch engagierte Bürger/-innen betriebenen Beratungsstellen für Gewaltopfer aufzubauen, in denen sie Gehör und Zuwendung finden. Eine Fachkraft trägt dazu bei, dass eine Partnerorganisation ihre langjährigen Erfahrungen bei der Begleitung von Opfern in ein psychosoziales Konzept überführt und unterstützt eine Frauengruppe bei der Aufarbeitung sexueller Gewalt. Durch das ZFD-Programm werden die Partner lokal, national und regional vernetzt. 

Lokal verankerte Projekte und Eigeninitiativen fördern

Die Unterstützung der Zivilgesellschaft bei ihrem Engagement für Vergangenheitsaufarbeitung sollte ein wichtiger Teil der Strategie der Bundesregierung sein. Insbesondere da staatliche Vergangenheitspolitik in Postkonfliktländern, so unabdingbar ihr Beitrag ist, die Gefahr der politischen Instrumentalisierung birgt. Zivilgesellschaftliches Engagement bildet hier ein Korrektiv bzw. eine wichtige Ergänzung. Dabei ist es wichtig, ein prozessorientiertes, langfristiges Engagement zu fördern. Lokal verankerte Initiativen, die sich schon während des Konflikts für die Opferbegleitung und Aufarbeitung der Gewalt eingesetzt und einen „gewachsenen“ Zugang zu von Gewalt betroffenen Gruppen haben, sollten besonders unterstützt werden. Die Finanzierung von Projekten, die mit dem Friedensschluss aus dem Boden geschossen und eher konjunkturell orientiert sind sowie oft von der Hauptstadt aus gesteuert werden, sollte sorgfältig geprüft werden. 

Insbesondere muss darauf geachtet werden, dass die geförderten Projekte die Eigeninitiative der von ihnen begleiteten Menschen nicht unterminieren oder korrumpieren. Dies kann passieren, wenn zum Beispiel in kurzer Zeit aufgrund von Mittelabflussdruck hohe Summen umgesetzt werden müssen und dadurch lokale Bedarfe, Akteur/-innen und Dynamiken vernachlässigt werden. Daher erfordert das lokale Engagement internationaler Geber gut recherchierte, lokale Kontextanalysen, die auch ein Akteursmapping und eine „Do-no-harm“-Analyse einbeziehen.

Wachsam und offen in der Prozessbegleitung sein

Gewaltopfer müssen langfristig begleitet werden, da von der ersten Kontaktaufnahme, über den Vertrauensaufbau, das Benennen von erlebten Gewalttaten, über individuelle und kollektive Aufarbeitung bis hin zur Einforderung von Rechten, den Wiederaufbau sozialer Netzwerke und die Umsetzung von Versöhnungsinitiativen Jahre vergehen können. Ein stabiles und engagiertes Beziehungsangebot begleitender Institutionen und Organisationen ist daher essentiell. Kurzfristige, stark an Effizienz- und Effektivitätskriterien orientierte Projektfinanzierungen sind in diesem Zusammenhang kontraproduktiv. 

Die Bundesregierung sollte in ihrer Prozessbegleitung auch wachsam und offen für sich im Prozess entwickelnde unterschiedliche Ansätze und Möglichkeiten der Aufarbeitung sein. Je nach Situation und Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses könnte sie die Suche nach Verschwundenen (Exhumierungen, DNA-Analyse, Datenbanken), die psychosoziale Begleitung von Opfern, Wahrheitsfindung, die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, Sicherung und Zugang zu Archiven, Entschädigungsforderungen, die Reintegration demobilisierter Kämpfer/-innen, pädagogische und erinnerungsfördernde Aktivitäten, Versöhnungsinitiativen oder weitere Ansätze unterstützen. Sie sollte behutsam auf die Vernetzung und Koordination von Ansätzen und Akteur/-innen hinarbeiten.

Bedeutung psychosozialer Hilfe für Gesellschaft nicht unterschätzen

Oft gibt es einen akuten Mangel an psychosozialer Hilfe für Menschen mit Gewalterfahrungen. Die fehlende Unterstützung, um erfahrene Traumata zu bewältigen, Trauerarbeit zu leisten sowie Ängste und Schuldgefühle zu thematisieren, verzögert individuelle, familiäre und kollektive Aufarbeitungsprozesse. Zivilgesellschaftliches Engagement in diesem Bereich – bei zumeist unzureichender psychosozialer staatlicher Infrastruktur – ist oft aufopfernd und unterfinanziert. Bei unreflektiertem Umgang können psychosoziale Angebote staatlicher Institutionen retraumatisierend wirken. Da die psychosoziale Arbeit eine wichtige Investition in die psychische Gesundheit und das friedliche soziale Zusammenleben ist, sollte die Bundesregierung diese Ansätze stärken und auch die Rolle der Zivilgesellschaft darin anerkennen. Sie sollte langjährig im psychosozialen Bereich wirkende Organisationen systematisch fördern und ihre komplementären Beiträge zur staatlichen psychosozialen Versorgung würdigen.

Bei allen im Bereich Vergangenheitsaufarbeitung geförderten Maßnahmen sollte sichergestellt werden, dass diese zur Umsetzung grundlegender Rechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung sowie zur Nichtwiederholung der Gewalt beitragen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Zivilgesellschaft Menschenrechte Transitional Justice

Ulrike Hemmerling

Ulrike Hemmerling ist ZFD-Koordinatorin für die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) e.V. in Kolumbien.