Deutsche Erfahrungen ernst nehmen

18. Dezember 2018   ·   Ralf Possekel

Dank eigener Erfahrungen kann Deutschland im Bereich der Vergangenheitsarbeit nicht nur ein Geber, sondern auch ein glaubwürdiger Partner sein. Diese kritischen Erfahrungen sollte die Bundesregierung systematischer global zur Verfügung stellen. Sie unterstreichen die Schlüsselrolle internationaler Partner und verdeutlichen, dass Aufarbeitungsprozesse oft ungerecht verlaufen können.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Wenn die Bundesregierung eine ressortgemeinsame Strategie für die Vergangenheitsarbeit konzipiert, wird eine Frage zentral sein: Welche komparativen Vorteile hat Deutschland? Das mag Deutschlands Gewicht in der EU sein oder seine prononcierte Orientierung auf zivile Konfliktlösungen. Wie aber steht es mit Deutschlands Erfahrungen in der Aufarbeitung seiner eigenen Diktaturen?

Klar, Deutschland kann und will nicht Erinnerungsweltmeister sein. Doch gleichzeitig führen wir Delegationen aus aller Welt durch unsere Erinnerungsorte und erfahren Anerkennung. Dabei ist es kein Geheimnis, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus schleppend und ungerecht verlief. Aber was bedeutet das, wenn Deutschland andere Länder bei der Aufarbeitung ihrer Konfliktgeschichte unterstützt? 

Nicht nur Geber, sondern auch Partner mit Erfahrung

Anders als etwa die Schweiz, Schweden oder die Vereinigten Staaten verfügt Deutschland über einen riesigen Erfahrungsschatz in der Vergangenheitsarbeit und Systemtransformation. Daher kann Deutschland nicht nur die Rolle eines Gebers, sondern auch die eines Partners einnehmen – eines Partners, der weiß, was Aufarbeitungsprozesse für eine Gesellschaft bedeuten: sie gehen über Generationen, verlaufen ungerecht und bieten keine Garantien.

Angesichts von NSU, Pegida und AfD fragen wir uns doch, was wir erreicht haben. Welche Ziele kann sich also die Bundesregierung in ihrer Strategie der Vergangenheitsarbeit setzen? Wie kann sie aus dem utopischen Prinzip der „Garantien der Nichtwiederholung“ realistische Ziele ableiten? Verlangen wir von unseren Partnern nie, was wir nicht selbst – am eigenen Beispiel – für realistisch halten.

Wo Täter über die Entschädigungsanträge ihrer Opfer entschieden

Der ostdeutsche Versuch von Transitional Justice nach 1945 – strukturelle Reformen ohne Justice – scheiterte. In Westdeutschland folgten der Verurteilung von Kriegsverbrechern schnell Amnestien. Anklage erzeugte Rechtfertigung und Amnestien allein bewirken noch kein Sprechen. Aus Studien zur NS-Belastung der Ministerien wissen wir, dass dort sehr viele ehemalige Nazis arbeiteten. Dennoch gelang es, mit ihnen eine Demokratie aufzubauen. Entscheidend waren Rahmenbedingungen – Besatzung, Kalter Krieg und Teilung, Pressefreiheit, Verfassungsgericht usw. Für die Opfer war es zutiefst ungerecht: Oft entschieden ehemalige Täter über ihre Entschädigungsanträge.

Es brauchte einen Generationenwechsel, um Mentalitäten zu ändern. Die Erinnerungskultur, wie wir sie heute leben, setzte sich erst in den letzten 20 Jahren durch, also nachdem die Täter in der Mehrzahl tot waren. Und wir beobachten, dass der demokratische Konsens zu dieser Erinnerungskultur erneut „brüchig“ wird. Wir vergessen nicht: Hitler wurde vom Volk gewählt. Was wissen wir also über uns? Auch Deutschland ist ein Suchender in diesem Feld.

Wofür steht Deutschland?

Deutschland steht für die entscheidende Relevanz des Kontexts. Die Aufarbeitung der NS-Diktatur verlief anders als die der SED-Diktatur nach 1989. Dort erfolgte ein radikalerer Elitenaustausch bei gleichzeitiger Integration einer SED-Nachfolgepartei ins neue politische System. Im selben Land erzeugte also der Beitritt der DDR zur Bonner Republik andere Transitional Justice-Muster als Teilung und Kalter Krieg. 

Deutschland steht für die Überzeugung von der Relevanz struktureller Reformen – Stichwort Grundgesetz – und gleichzeitig für eine tiefsitzende Skepsis in die Prägefähigkeit von Institutionen – Stichwort politische Bildung als Daueraufgabe. Mehr noch, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert inzwischen mit über 100 Mio. Euro jährlich unzählige Projekte gegen Rassismus, für ein vielfältiges, gewaltfreies und demokratisches Miteinander. Deutschland sammelt wertvolle Erfahrungen, wie eine insbesondere in Ostdeutschland schwache Zivilgesellschaft überparteilich und angemessen staatlich gefördert werden kann.

Deutschland steht für die Schlüsselrolle internationaler Partner, seien es die Amerikaner nach 1945 oder die Europäer nach 1989. Partner können strategische Reformprozesse initiieren und begleiten, sie können Rahmenbedingungen politisch oder völkerrechtlich setzen, aber danach müssen sie auf interne gesellschaftliche Kräfte vertrauen.

Entscheidend ist die gesellschaftliche Debatte

Deutschland steht für eine Erinnerungskultur, die heute von einer Pluralität der Perspektiven lebt, diese argumentativ verhandelt, Opfern Respekt zeugt und gesellschaftliche Zusammenhänge aufzuklären sucht. Für eine Erinnerungskultur, die sich fragt, ob eine Identifikation mit Opfern nicht den Blick auf Täter und Tätergesellschaft verstellt. Nicht das Mahnmal für die ermordeten Juden Deutschlands ist daher interessant, sondern sein zivilgesellschaftlicher Ursprung und die gesellschaftliche Debatte darum. Nicht das eine Mahnmal, sondern der „inklusive“ urbane Erinnerungsraum im politischen Zentrum Berlins mit Denkmälern für die Verschiedenen: für die Juden, die Homosexuellen, die Roma, die Opfer der NS-Euthanasie. Nicht eine Ausstellung in Sachsenhausen, sondern die Verfasstheit der Gedenkstätte – das Zusammenwirken von Politik, Opferverbänden, WissenschaftlerInnen. Nicht das Lager Dachau, sondern der Projekttag einer Schulklasse an diesem Ort. Nicht das Zeitzeugeninterview, sondern die Auseinandersetzung darüber, wer überhaupt als Opfer anzusehen ist (Roma, Deserteure, Homosexuelle, Kriegsgefangene). Nicht das Videointerview, sondern die Herausforderung, durch künstliche Intelligenz neue Zugänge zu zehntausenden Testimonies zu ermöglichen.

Deutschland steht für die Erfahrung, dass Gerechtigkeit nicht erreichbar war. Für prekäre „Heilung“ durch wachsenden Wohlstand. Für die Erfahrung, dass Aufarbeitungsprozesse nicht planbar sind, sondern ihre Dynamik aus Politik und Windows of Opportunity beziehen. Für die Erkenntnis, dass Transitional Justice nur politikfeldübergreifend wirkt, als wenig steuerbarer Projektschwarm. Für die besondere Wirksamkeit von Investitionen in Folgegenerationen – Stichwort Jugendwerke und 68er (Bildungsreform).

Schließlich steht Deutschland auch für eine Gegenwart, in der identitäre Bewegungen die „Abwertung der Anderen“ erneut forcieren und wir uns besorgt fragen, wie diesem Einfallstor für Diskriminierung, Hass und Hassverbrechen wirksam zu begegnen ist.

Wofür steht Deutschland nicht? Erklärtermaßen unterstützt Deutschland Versöhnungsprozesse – wir sollten uns eingestehen, hier eher weniger Erfahrungen zu haben. Sicher, wir zitieren die Versöhnung mit Frankreich. Aber was ist mit der Versöhnung mit Russland, Griechenland, Serbien, oder den Hereros? Und wie sieht es gar mit öffentlichen Versöhnungsformen für Nazis und Nazi-Gegner, für Ost- und Westdeutsche aus? Da gibt es nicht viel und was es gibt, wird oft nicht so genannt.    

Ein Open Space „Praxisfeld Deutschland“ für internationalen Austausch

Was bedeutet das für eine Strategie der Bundesregierung? Erstens, Deutschland sollte sein Alleinstellungsmerkmal in diesem Feld – seine besondere Glaubwürdigkeit – stärken, indem es seine eigenen Erfahrungen deutlicher als bisher systematisch und kritisch reflektiert einbringt. Wenn wir unsere kompromissbehafteten Lösungen und Dilemmata global zugänglich machen und auch selbst lernen wollen, braucht es Drehscheiben für diesen Austausch. Justitia et Pax lebt dies im Kosmos der katholischen Kirche. Studienreisen inspirieren, sind aber wenig nachhaltig. Es gab bereits produktivere Formate, z.B. die Mandela Dialogues der GIZ Leadership Academy. Es braucht solche Formate mit größerer Intensität: thematisch fokussierte internationale Arbeitsgruppen, die sich mehrfach treffen können.

Die Bundesregierung sollte Mittel für Hospitationen und Gastaufenthalte stellen. Mehr noch, sie sollte den Austausch auf eine gute institutionelle Basis stellen, damit Wissen, Methoden und Netzwerke nachhaltig gemanagt und für verschiedene Kontexte abruffähig werden. Nicht eine Akademie „Lernen von Deutschland“, sondern ein Open Space „Praxisfeld Deutschland“. Nicht ein Transitional Justice-Institut, sondern eine von Staat und Zivilgesellschaft getragene Plattform, die sowohl von internationalen Partnern als auch von deutschen Akteuren der Erinnerungspolitik und politischen Bildung angesteuert werden kann. Und eines ihrer ersten Ziele müsste sein, all jene, die international unterwegs sind, darin zu stärken, reflektiert statt anekdotisch in den Kategorien der Transitional Justice über die deutschen Erfahrungen zu sprechen.

Joinet-Prinzipien genügen nicht als strategische Ziele

Zweitens, mit dem Wissen um die Dauer solcher Aufarbeitungsprozesse, müsste sich die Bundesregierung entscheiden: In welchen Ländern will Deutschland ein verlässlicher und langfristiger Partner sein? Aus vielen Gründen naheliegend sind der westliche Balkan und die postsowjetischen Staaten, insbesondere die Ukraine. Schwieriger sind diese Entscheidungen für den globalen Kontext. Doch wie die „Entwicklungspolitik 2030“-Strategie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Reformpartnerschaften denkt, braucht es auch im Transitional Justice-Feld entsprechende Debatten und Entscheidungen als Voraussetzung für strategisches Handeln.

Drittens, welche Ziele sind realistisch? Die Joinet-Prinzipien (Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Garantien der Nichtwiederholung) sind als Orientierungshorizont unverzichtbar. Doch strategische Ziele von praktischer Politik brauchen eine andere Qualität. Kontextunabhängig können das nur wenige Prinzipien sein, wie beispielsweise 1) stets allen Opfergruppen eine Stimme zu geben und sie in einen inklusiven Erinnerungsdiskurs einzubinden; 2) Rituale und symbolische Handlungen zu entwickeln, die Anerkennung verschiedenen Leids ermöglichen, dabei aber jede symbolische Hierarchisierung von Leid vermeiden; 3) Reparationsprogramme stets mit VertreterInnen der Opfer auszuhandeln und, weil sie immer unzureichend sein werden, stets mit der Entwicklung einer inklusiven Erinnerungskultur zu verbinden.  

Viertens, wenn es keine Blaupause gibt und Kontext entscheidend ist, lassen sich relevante Strategien nur länderbezogen und mit dortigen Partnern aus Politik und Zivilgesellschaft entwickeln. Dort müsste die Bundesregierung kontext- und zeitbezogen strategisch nüchterne Ziele definieren. Dort werden ungeplante Chancen sichtbar, die es zu nutzen gilt. So kann Deutschland vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen auch Exponent für realistische Ziele und kluges Erwartungsmanagement werden.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Transitional Justice

Ralf Possekel

Dr. Ralf Possekel ist Historiker und arbeitet im Kooperationsprojekt „Internationale Partnerschaften zu Vergangenheitsarbeit stärken“ der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt) und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (Stiftung EVZ)