Roma in den Westbalkanstaaten: Es braucht einen radikalen Politikwechsel

02. Dezember 2019   ·   Stephan Müller

Die Lage der Roma in den Westbalkanstaaten hat sich trotz diverser EU-Initiativen in den letzten Jahren kaum verbessert. Es ist Zeit für ein radikales Umdenken und neue Maßnahmen in Berlin und Brüssel. Diese sollten Antiziganismus als Ursache der Diskriminierung von Roma anerkennen und bekämpfen, sowie konkrete Perspektiven für Roma im lokalen Arbeitsmarkt schaffen.

Trotz umfangreicher (finanzieller) Investitionen seitens der Europäischen Union (EU) im Rahmen des Beitrittsprozesses und auf bilateraler Ebene hat sich die Lage der Roma in den Ländern des Westbalkans in den letzten 20 Jahren kaum verbessert. Auch internationale Initiativen wie die „Decade of Roma Inclusion 2005-2015 und die Nachfolgeinitiative Roma Integration 2020, sowie die Verabschiedung von nationalen Gesetzen, Strategien und Aktionsplänen konnten daran nichts ändern.

Die Situation der Roma auf dem Westbalkan ist von Antiziganismus geprägt

Die folgenden Daten zur Situation der Roma geben einen Einblick in die Wirkungslosigkeit der Politik der letzten Jahre – auf nationaler und EU-Ebene – und belegen die Notwendigkeit eines radikalen Kurswandels. Hierbei wurden bewusst Daten zu jüngeren Roma gewählt, da diese am stärksten von den Investitionen der letzten Jahre hätten profitieren müssen, denn es wurde viel in Bildungsmaßnahmen investiert. 2017 waren in Albanien 78 Prozent, Bosnien und Herzegowina 86 Prozent, Kosovo 78 Prozent, Montenegro 82 Prozent, Nord Mazedonien 74 Prozent und Serbien 73 Prozent der jungen Roma (18-24) weder in Schul- oder Berufsausbildung noch in Arbeit. Bei der Mehrheitsbevölkerung liegt die Rate in allen Westbalkanländern zwischen 33 Prozent und 59 Prozent; in der EU lag die Rate durchschnittlich bei 14,3 Prozent und in Deutschland bei 8,6 Prozent. Auch einen Abschluss der Pflichtschule können nur zwischen 31 Prozent (Montenegro) und 69 Prozent (Nord Mazedonien) der 18-21-jährigen Roma vorweisen, gegenüber 93 Prozent bis 96 Prozent der Mehrheitsbevölkerung in allen Westbalkanländern.

EU-weit haben in den letzten zehn Jahren über 200.000 Roma aus dem Westbalkan – ein Fünftel der gesamten dortigen Roma-Bevölkerung – einen Asylantrag gestellt, davon über 100.000 in Deutschland. Dazu kommen noch weitere Zehntausende, die regelmäßig einer (informellen) Tätigkeit in Westeuropa nachgehen.

Der auf Vorurteilen, Stereotypen und feindseliger Haltung basierende spezifische Rassismus gegenüber Sinti und Roma, der Antiziganismus, ist der Hauptgrund für Diskriminierung der Roma und ihren Ausschluss aus der Gesellschaft. Bis jetzt stand die Bekämpfung des Antiziganismus und der strukturellen Diskriminierung der Roma nicht sehr weit oben auf der Agenda der deutschen Politik im Westbalkan. Flucht und Zwangsmigration vieler Roma nach Deutschland und in die EU wurden auf rein ökonomische Gründe zurückgeführt. Die politisch Verantwortlichen ignorierten somit im Gleichklang mit den Regierungen im Westbalkan den Einfluss von Antiziganismus auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage der Roma und damit als Grund für Zwangsmigration. Diese Ignoranz wiederum führt dazu, dass Antiziganismus und strukturelle Diskriminierung der Roma nicht adäquat bekämpft werden.

Die EU-Ratspräsidentschaft ist eine Gelegenheit für Deutschland um Verantwortung zu übernehmen

Deutschland übernimmt im zweiten Halbjahr 2020 die EU-Ratspräsidentschaft. Im gleichen Jahr soll auch die neue EU-Rahmenstrategie für gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma und zur Bekämpfung von Antiziganismus verabschiedet werden, die auch für den Westbalkan Bedeutung haben wird. Berlin sollte die Gelegenheit nutzen, um in- und außerhalb der EU, die Westbalkanstaaten in der Entwicklung und Umsetzung einer inklusiveren Politik gegenüber der Roma zu unterstützen, welche die Bekämpfung des Antiziganismus als ein zentrales Element anerkennt.

Zudem hat Deutschland die Reputation im Westbalkan, die Regierungen vor Ort von einer partnerschaftlichen Umsetzung einer neuen Politik zu überzeugen und einen solchen Prozess anregen und begleiten zu können, sowie ihn in einer neuen nationalen bzw. neuen EU-Westbalkan-Politik einzubetten. Deutschland hat außerdem eine historische Verantwortung gegenüber Sinti und Roma, wovon Roma im Westbalkan nicht ausgeschlossen bleiben dürfen. Nur eine tatsächliche Verbesserung ihrer Lage wird den Druck weiterer Zwangsmigrationen vermindern können. 

Es braucht umfassende Maßnahmen vor Ort und Möglichkeiten zur legalen Arbeitsmigration

Somit könnte die Bundesregierung einen erheblichen Beitrag dazu leisten, die Situation der Roma im Westbalkan zu verbessern. Hierzu müsste Deutschland ein eigenständiges, langfristiges und umfassendes Programm zur Inklusion von Roma im Westbalkan entwickeln, das die jeweiligen Regierungen und Zivilgesellschaften im Westbalkan unterstützt und in Koordination mit der EU umgesetzt wird. Seine wichtigsten Bestandteile wären:  

  • Die Bekämpfung von Antiziganismus als Hauptgrund für den sozialen Ausschluss und die Diskriminierung im Westbalkan.
  • Eine verstärkte Einbeziehung und Stärkung der Zivilgesellschaft der Roma im Westbalkan auf partnerschaftlicher Ebene.
  • Die Stärkung der lokalen Gemeinden der Roma (community empowerment), um Integration nachhaltig zu gestalten.
  • Ein stärkerer Fokus auf die berufliche Bildung von jungen Roma. Dies könnte zudem eine Antwort auf den Fachkräftemangel in vielen Berufen, zum Beispiel in Serbien darstellen.
  • Eine aktive Einbeziehung von Roma in Möglichkeiten der legalen Arbeitsmigration. Im Rahmen der Westbalkan-Regelung fanden die Roma kaum Berücksichtigung, obwohl die Regelung ursprünglich darauf abgezielt hatte, auch Roma Möglichkeiten der legalen Arbeitsmigration zu bieten. Solange Antiziganismus Roma den Zugang zum Arbeitsmarkt in ihren Heimatländern erschwert, ist die Teilnahme an solchen Programmen unabdingbar. Die einzige Alternative hierzu ist es momentan für viele Roma, Einkommen auf dem informellen Arbeitsmarkt in Westeuropa zu generieren.  
  • Im Sinne einer kohärenten Politik gegenüber Sinti und Roma, auf dem Westbalkan und in Deutschland, sollte Deutschland auch innenpolitisch auf eine nachhaltige Integration der in Deutschland lebenden Roma setzen und seine Abschiebepraxis überdenken, die auch Roma betrifft, die zum Teil in Deutschland geboren sind oder seit 20 Jahren hier leben.

Auf zwei Komponenten sollte sich die Bundesregierung dabei konzentrieren: die Bekämpfung des Antiziganismus und eine bessere Integration von Roma auf dem Arbeitsmarkt.

Antiziganismus zu bekämpfen sollte die erste Priorität der Bundesregierung sein

Im Zentrum der deutschen Politik sollte der erste Punkt, die Unterstützung der Bekämpfung des Antiziganismus in den Westbalkanstaaten, stehen. Dies erfordert aber einen politischen Paradigmenwechsel, der einen „human rights-based approach“ mit der Verantwortung der „duty-bearer“ auch in die Politik mit Roma einführt. Politik und Gesellschaft in den Staaten des westlichen Balkans müssen die Verantwortung für die gegenwärtige Lage, wie auch für deren Verbesserung  übernehmen. Die Bekämpfung von Antiziganismus muss hierbei auch eine Querschnittsaufgabe in den Bereichen Arbeitsmarkt und Erziehungswesen sein.

Konkrete Ansatzpunkte, bei denen Deutschland die Westbalkanstaaten bei der Bekämpfung des Antiziganismus einerseits unterstützen und andererseits in die Pflicht nehmen kann, wären unter anderem Aufklärungs- und Weiterbildungsprojekte für verschiedene gesellschaftliche Gruppen (inklusive Lehrer, Polizisten, Bedienstete im Öffentlichen Dienst und Arbeitgeber), die Förderung von verantwortungsvoller Medienarbeit, die konsequente Verfolgung antiziganistischer Aussagen, Gewalt und Diskriminierung, sowie die Einbeziehung von Roma in Anti-Diskriminierungsinstitutionen. Hinzu kommt die nötige Förderung eines gesellschaftlichen Narratives, welcher Roma als zugehörig zur Staatsnation, zur Gesellschaft und nicht als „Andere“ definiert. Die Westbalkanstaaten können hierbei von den Erfahrungen  Deutschlands in der Bekämpfung von Antiziganismus und von den Vorschlägen einer internationalen Koalition zivilgesellschaftlicher Gruppen profitieren.

Für die Integration von Roma auf den Arbeitsmarkt sind politischer Wille und ein langer Atem gefragt

Zweitens sollte ein wichtiger Bestandteil einer neuen Politik auch die bessere Integration der Roma in den lokalen Arbeitsmarkt sein. Zum einen müssen die Staaten im Westbalkan ihren gesetzlichen Verpflichtungen zur proportionalen Anstellung von Roma im öffentlichen Dienst nachkommen, was sie seit Jahren verweigern. Neben klassischen Arbeitsbeschaffungs- und Trainingsmaßnahmen und den eingeforderten Maßnahmen in der Bekämpfung und Prävention von Antiziganismus, muss zum anderen eine bessere Verbindung zwischen Schul- und Berufsausbildung hergestellt werden. Aufgrund des niedrigen Bildungs- und Ausbildungsniveau der Mehrheit der Roma, werden bisher vor allem Arbeitsbeschaffungs- oder Trainingsmaßnahmen für Personen ohne Schul- bzw. Berufsausbildung umgesetzt. Die sich ergebenden Berufstätigkeiten erlauben aber kaum individuelle Weiterentwicklung oder sozialen Aufstieg und können sogar Vorurteile gegenüber Roma verfestigen. Ein zusätzlicher Fokus auf eine qualifizierte, duale Ausbildung würde daher nicht nur die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der Absolventen verbessern, sondern auch dazu beitragen, Vorurteile gegenüber Roma abzubauen.

Erfolge werden sich aber erst mittel- oder langfristig zeigen. Daher muss Deutschland bereit sein, nicht in den herkömmlichen Projektzyklen von drei oder vier Jahren zu denken, sondern ein langfristiges Programm zu verfolgen – wie auch der Erweiterungsprozess langfristig angelegt ist. Grundsätzlich muss die deutsche Politik dazu bereit sein, konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung von Antiziganismus und Diskriminierung von den Regierungen im Westbalkan einzufordern und klar machen, dass es im Erweiterungsprozess nicht mehr ausreichend ist, Strategien und Aktionspläne zu verabschieden, ohne sie umzusetzen. Dazu sollte die Bundesregierung außerdem innerhalb der EU darauf einwirken, dass Brüssel im Rahmen der Unterstützung im Beitrittsprozess die gleiche Politik verfolgt.

Schlussendlich müssen aber die jeweiligen Regierungen im Westbalkan die Verantwortung übernehmen und sich gemeinsam mit der lokalen Zivilgesellschaft für die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation von Roma verantwortlich zeigen. Mit der von Nordmazedonien initiierten Erklärung von Poznan zur Integration der Roma im Erweiterungsprozess haben sie bereits einen ersten Schritt unternommen, eine neue regionale Politik gegenüber Roma auf den Weg zu bringen. Auch wenn Bekämpfung von Antiziganismus und Diskriminierung eine untergeordnete Rolle in der Erklärung spielen, zeigt sich darin die Bereitschaft der Regierungen mehr für die Inklusion von Roma zu tun. Deutschland sollte diesen Prozess unterstützen, wenn es eine demokratische und rechtsstaatliche Verfasstheit der Staaten im Westbalkan fördern will.

Westbalkan Antiziganismus

Stephan Müller

Stephan Müller arbeitet zurzeit als Experte für den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zur deutschen Politik gegenüber Roma im Westbalkan. Davor arbeitete er in verschiedenen Westbalkanstaaten als Berater für Regierungen, zwischenstaatliche Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. @muellerbudapest