Waffenstillstand ohne Fortschritt

30. September 2020   ·   Nikolaus von Twickel

Obwohl ein erneuter Waffenstillstand in dem seit über sechs Jahre anhaltenden Konflikt in der Ostukraine weitestgehend hält, fehlt es an politischen und wirtschaftlichen Perspektiven in den „Volksrepubliken“. Die Bundesregierung sollte den Druck auf Russland zur Findung einer Lösung erhöhen und die Unterstützung für Reformen in der Ukraine auf EU-Ebene bündeln.

Die COVID-19-Pandemie hat in den „Volksrepubliken“ der Ostukraine zwar nicht die anfangs befürchtete Katastrophe ausgelöst, die negativen Folgen für die dortige Wirtschaft und Gesellschaft sind dennoch gravierend. Gleichzeitig hat es diesen Sommer bisher nicht dagewesene Fortschritte bei der Sicherheitslage gegeben: Der am 27. Juli in Kraft getretene Waffenstillstand hält – trotz einzelner Verstöße – seit nunmehr zwei Monaten. Die Chancen auf eine Konfliktlösung sind dadurch aber nur marginal gestiegen.  

Erleichterungen für die Zivilbevölkerung durch einen Waffenstillstand  

Das erneuerte Abkommen – offiziell „Zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung des Waffenstillstands“ – hat zu einer massiven Reduzierung der Kampfhandlungen geführt. Die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zählte zwischen dem 7. und 20. September gerade mal 120 Verstöße – vorher waren es typischerweise knapp 10.000 in 14 Tagen gewesen. Dies wirkt sich direkt auf die Sicherheit der Bevölkerung aus. Die OSZE verzeichnete bis 21. September acht Wochen lang keine zivilen Opfer – weder Verletzte noch Tote. Die ruhige Lage an der Front erlaubt auch Fortschritte beim Bau zweier neuer Übergangspunkte zwischen den von der Ukraine kontrollierten Gebieten und den „Volksrepubliken“ im Gebiet (Oblast) Luhansk. Dies sollte  ab November die Lage der dortigen Zivilbevölkerung deutlich verbessern. Vor Beginn der Pandemie wurde die sogenannte Kontaktlinie zwischen den regierungs- und nichtregierungskontrollierten Gebieten mehr als eine Million Mal pro Monat passiert.  

Abgesehen vom zeitlichen Zusammenhang ist unklar, ob und wie sich die Pandemie auf die Bereitschaft beider Seiten ausgewirkt hat, die Waffen schweigen zu lassen. Spekuliert werden kann, dass die Sorge vor einer Ausbreitung des Virus unter Soldaten dabei eine wesentliche Rolle spielt. Ein Waffenstillstand und Truppenrückzüge (über weitere „Entflechtungen“ wird verhandelt) könnten das Infektionsrisiko senken. Eine andere Theorie besagt, dass Russland nicht an einer Eskalation interessiert ist, solange die Proteste in Belarus schwelen.  

Eine militärische Lösung des Konflikts ist ausgeschlossen  

So oder so findet im Donbass seit dem Minsker „Maßnahmenpaket“ von 2015 („Minsk II“) kein im eigentlichen Sinne militärisches Kräftemessen statt: Die Truppen beider Seiten haben die sogenannte Kontaktlinie stets respektiert, d.h. es wurde nie versucht, gegnerisches Gelände zu erobern. Die regelmäßigen Eskalationen haben vielmehr zum Ziel, politische Botschaften zu senden, beziehungsweise Hass auf den Gegner zu schüren. Das ist vor allem für die „Volksrepubliken“ wichtig, deren Anführer einen Großteil ihrer Legitimität aus einer vermeintlich existentiellen Bedrohungslage schöpfen.  

Dabei ist eine direkte militärische Lösung so gut wie ausgeschlossen: Zwar sind die vor Ort stationierten separatistischen Verbände den ukrainischen Truppen wohl unterlegen, aber Russland kann jederzeit eine militärische Verstärkung schicken, der die Ukraine nicht gewachsen ist. Auf der anderen Seite dürfte Moskau vor einer militärischen Eskalation zurückschrecken, da dies neue westliche Sanktionen nach sich ziehen würde.  

Die politische Situation ist festgefahren 

Es bedarf folglich einer politischen Lösung des Konflikts: Für die Umsetzung des Minsker Abkommens ist die Einhaltung des Waffenstillstands eine wichtige Voraussetzung, aber sie ist nicht die einzige. Denn die politischen Differenzen zwischen Moskau und Kiew sind unverändert groß. In der Trilateralen Kontaktgruppe, bestehend aus Russland, Ukraine und der OSZE, die unter Anwesenheit von Separatisten-Vertretern seit mehr als fünf Jahren über die Umsetzung des Abkommens verhandelt, ist weiterhin keine Einigung über politische Fragen in Sicht. Weder ist Kiew bereit, die vom Abkommen vorgesehenen Lokalwahlen in den „Volksrepubliken“ zuzustimmen, solange die dort stationierten russisch geführten bewaffneten Verbände nicht abgezogen sind, noch ist es bereit, die im Abkommen und von Moskau geforderten direkten Verhandlungen mit den Separatisten über eine Verfassungsänderung aufzunehmen, die den Gebieten politische Autonomie gewähren würde.  

Diese Argumentation Kiews ist nachvollziehbar: Solange die totale politische und militärische Kontrolle Russlands über die „Volksrepubliken“ anhält, es dort keinerlei funktionierende demokratische Institutionen und freie Medien gibt, sind freie und faire Wahlen nach ukrainischem Recht schlicht illusorisch. Direkte Verhandlungen mit den Separatisten werden in der Ukraine mit dem Argument abgelehnt, dass dies den von Russland installierten und abhängigen Anführern eine völlig unverdiente Legitimität verleihen würde.  

In den „Volksrepubliken“ wird die Ablehnung der Ukraine propagiert  

Russland und die „Volksrepubliken“ dagegen werfen der Ukraine beharrlich vor, sie wolle das Abkommen nachträglich umschreiben. Tatsächlich schreibt das Minsker „Maßnahmenpaket“ vor, dass Lokalwahlen vor einer Machtübergabe an die Ukraine stattfinden und dass im Anschluss ein zuvor mit den Separatisten ausgehandelter und in der ukrainischen Verfassung verankerter Autonomiestatus in Kraft tritt. Als Bedingung ist lediglich festgelegt, dass OSZE-Wahlbeobachter die Abstimmung absegnen müssen. Als zusätzlichen Kompromiss hat Kiew 2019 die sogenannte Steinmeier-Formel akzeptiert, wonach der Autonomiestatus nur vorläufig gilt, solange keine Bewertung der OSZE-Beobachter vorliegt.  

Unterdessen werden aber in den „Volksrepubliken“ Fakten geschaffen, die eine Reintegration der Gebiete immer schwieriger machen. Ihre Anführer reden beharrlich von einer „Integration“ mit Russland und dämonisieren die Ukraine als einen von ausländischen Mächten kontrollierten Aggressor. Dabei gleichen die „Republiken“ im Inneren Militärdiktaturen: Öffentliche Kritik oder nur ein positives Wort über die Ukraine führen schnell zu einer Festnahme, Folter und langen Haftstrafen. Alle ausländischen Hilfsorganisationen, mit Ausnahme des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und einigen UN-Organisationen, wurden rausgeschmissen, westliche Journalisten werden nur äußerst selten akkreditiert.  

Kurzum: Es ist schlicht unvorstellbar, wie solche Gebilde auch nur ansatzweise in eine demokratische Ukraine integriert werden können. Die Bundesregierung, die wie alle anderen EU-Länder keinerlei direkten Kontakt in die „Volksrepubliken“ unterhält, hat begrenzten Handlungsspielraum. Der anhaltende Waffenstillstand ändert an den bisherigen Handlungsoptionen nur wenig.  

Auf Reformen innerhalb der Ukraine konzentrieren  

Solange eine politische Lösung nicht in Sicht ist, muss die oberste Priorität sein, den Menschen im Donbass zu zeigen, dass Demokratie, Rechtstaat und Lebensqualität auf regierungskontrollierter Seite deutlich besser sind. Daher ist es von großer Bedeutung, dass die Ukraine weiter Reformen umsetzt, um als Staat handlungsfähig und attraktiv zu bleiben. Vor allem bei der Korruptionsbekämpfung hat es zuletzt Rückschläge gegeben, die nicht hingenommen werden dürfen. Auch eklatante Demokratieverstöße, wie die Aussetzung der anstehenden Kommunalwahlen in mehreren unter zivil-militärischer Verwaltung stehenden Frontgemeinden, sind kontraproduktiv.  

Unterstützung für die Ukraine auf EU-Ebene bündeln  

Bei der Unterstützung des Reformprozesses wäre es wünschenswert, diese Anstrengungen auf EU-Ebene zu bündeln. Die Bundesregierung hat 2017 den ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt zum Sondergesandten für die ukrainische Reformagenda ernannt. Parallel unterhält die EU eine „Support Group for Ukraine“ in Brüssel, sowie vor Ort eine beratende Mission zur Reform des zivilen Sicherheitssektors, die EUAM Ukraine. Die Ernennung eines EU-Sondergesandten, dem eine Beratermission mit breiterem Mandat untersteht, könnte eine stärkere und strukturiertere Wirkung auf die ukrainische Regierung haben als nationale Gesandte.  

Druck auf Russland halten und das öffentliche Bewusstsein stärken  

Der Druck auf Russland, an einer Lösung mitzuwirken, muss erhöht werden. Die bestehenden Sanktionen reichen nicht aus. Zudem müssen die Europäer, allen voran Deutschland, Moskau deutlicher machen, dass die anhaltenden Menschenrechtsverstöße in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk nicht tolerierbar sind. Allerdings sind schärfere Sanktionen in der EU derzeit nicht leicht durchsetzbar, wie der Fall von Belarus zeigt. Sollte wieder kein Konsens zustande kommen, könnten unilaterale Maßnahmen Deutschlands innerhalb der EU als starkes Signal dienen.  

Gleichzeitig sollte versucht werden, Moskau und Kiew zu wirtschaftlichen Zugeständnissen zu bewegen. Eine Aufhebung der 2017 von ukrainischer Seite verhängten Wirtschaftsblockade wäre ein wichtiger Schritt dazu. Das Thema Ukraine und die Unterstützung für das Land muss stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Die Bundesregierung, das Auswärtige Amt sowie die Europäische Kommission sollten dies bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit stärker in den Vordergrund rücken.

Europäische Union Osteuropa Ukraine

Nikolaus von Twickel

Nikolaus von Twickel ist Journalist und schreibt über den Donbass-Konflikt seit seinem Beginn 2014. Von 2015 bis 2016 arbeitete er als Medienexperte bei der OSZE in Donezk. Seit 2019 ist er Redakteur beim Berliner Zentrum Liberale Moderne. @niktwick