Regierungswechsel: Das Ende der Ratlosigkeit?

06. Mai 2021   ·   Sarah Brockmeier

Ob er Nationaler Sicherheitsrat heißt oder anders: Mehr Kohärenz und größere Strategiefähigkeit sind entscheidend für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Die nächsten Koalitionsverhandlungen sind eine einmalige Chance, die Gremienstruktur der Bundesregierung neu zu justieren. Das kann aber nur klappen, wenn alle relevanten Parteien vorher wissen, was sie wollen.

Die nächste Bundesregierung wird Außen- und Sicherheitspolitik aktiver als bisher gestalten, öfter eigene Ideen und Strategien entwickeln müssen: als Vorschläge für ein Europa, das sich seltener an die USA anlehnen können wird, und das nur vorankommt, wenn Berlin dabei eine aktivere Rolle spielt. Hier wird es von vornherein auf einen ambitionierteren außenpolitischen Grundkonsens im Koalitionsvertrag ankommen.

Die Liste der Herausforderungen ist lang: Ein immer schnellerer Klimawandel, ein aggressiveres Russland und ein expandierendes China, globale Armutsbekämpfung und Gesundheitsvorsorge, Migration, Cybersicherheit. Doch für genau diese Probleme, die weit über die Zuständigkeit einzelner Ministerien hinausgehen und für die Europa ohne frühere und strategischere Berliner Impulse nicht weiterkommt, ist die deutsche Sicherheitsarchitektur nicht gewappnet. Damit sich das ändert, fordern immer mehr Expert*innen seit Jahren eine Anpassung an gewachsene Anforderungen – im Kern so etwas wie einen Nationalen Sicherheitsrat. Die Chance für eine solche Architekturanpassung war seit zwei Jahrzehnten nicht so groß wie in diesem Herbst. Wenn es keine verpasste Chance werden soll, müssen alle Parteien mit Regierungsambitionen mit klaren Vorstellungen in die nächsten Koalitionsverhandlungen gehen, ob sie zu Veränderungen bereit sind und wie die aussehen sollten.

Ein Nationaler Sicherheitsrat für Deutschland?

Vorschläge für einen Nationalen Sicherheitsrat im Kanzleramt gibt es reichlich: seit zwei Jahrzehnten immer wieder von Wolfgang Ischinger, jüngst in einem Sonderbericht der Münchner Sicherheitskonferenz, von der Sicherheitsexpertin und wahrscheinlich nächsten US-Botschafterin bei der NATO, Julie Smith, oder in den Diskussionen über eine kohärentere Friedens- und Sicherheitspolitik auf diesem Blog (siehe z.B. Franziska Brantner, Christian Thiels). Auch die Politik befasst sich damit, quer durch die Parteien. Seit 2008 schlagen immer wieder Abgeordnete der Unions-Fraktion vor, den Bundessicherheitsrat (BSR) zu einem Nationalen Sicherheitsrat aufzuwerten. Die Grünen-Fraktion forderte in einem Beschluss 2016 und einem Antrag 2017 die Einrichtung eines „Nationalen Rats für Frieden und Nachhaltigkeit“. Im November 2019 brachte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer das Thema wieder in die politische Debatte. Kurz darauf debattierte der Bundestag die Idee auf Anlass eines Antrags der FDP-Fraktion im März 2020.

„Institutionen schaffen keine Interessen“ greift zu kurz

Die Reaktionen auf solche Vorschläge – im Bundestag oder zuletzt im April 2021 bei einer DGAP-Veranstaltung – zeigen ein gemischtes Bild bei den Parteien, die am wahrscheinlichsten an der nächsten Regierung beteiligt sein könnten: Die FDP hat sich auf die Forderung nach einem Nationalen Sicherheitsrat festgelegt, die SPD ist offenbar klar dagegen, bei CDU/CSU und Grünen bestehen noch keine klaren Vorstellungen davon, was sie wollen – auch wenn Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bei einem Gespräch bei der Bundesakademie für Sicherheitspolitik Anfang Mai angedeutet hat, dass sie mehr Koordinierung im Kanzleramt bündeln würde.

Das wichtigste Argument auf Seiten der Skeptiker hat der Politikwissenschaftler Carlo Masala im Podcast Sicherheitshalber so auf den Punkt gebracht: „Institutionen schaffen keine Interessen.“ Das Problem seien die Interessenkonflikte der Koalitionspartner, nicht die fehlende Koordinierungsstruktur. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Nils Schmid schlug bei der DGAP-Veranstaltung im April in die gleiche Kerbe: „Wenn der politische Wille da ist, dann braucht man auch keine neuen Strukturen.“

Das ist aus drei Gründen zu kurz gedacht.

Regelmäßig reden schafft Gemeinsamkeiten

Erstens ignoriert es den Gewohnheits- und Einübungseffekt, den formale Strukturen oft schaffen. Gegen den AKK-Vorschlag argumentierte der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel: „Man muss in der Zusammenarbeit einer Koalition überzeugen und nicht befehlen“. Das stimmt. Nur findet diese Überzeugungsarbeit oft gar nicht erst statt. Im gleichen Beitrag forderte Gabriel die Einrichtung eines Europäischen Sicherheitsrats: Denn um die mangelnde europäische Zusammenarbeit in der Außenpolitik zu ändern, müsse man „eigentlich nur die Staats- und Regierungschefs der EU zusammen mit den Außen- und Verteidigungsministern alle vier Wochen gemeinsam tagen lassen. Schon der Zwang, sich den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt regelmäßig zu stellen, wäre ein heilsamer Fortschritt.“

Genau. Ein regelmäßiges Treffen der jeweils relevanten Minister*innen verspricht, nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch auf allen Hierarchie-Ebenen darunter einen Einübungseffekt auszulösen. Schon regelmäßige, nicht nur ad-hoc eingeräumte, Zeit für die Außen- und Sicherheitspolitik auf Kabinettsebene wäre ein Fortschritt im Vergleich zum Status quo. Natürlich wird das keine politischen Alleingänge in Streitthemen ausschließen. Aber die Hürde für Alleingänge wäre höher, würden die Minister*innen regelmäßiger mit ihren Amtskolleg*innen über politische Strategien beraten. Ein solches regelmäßiges Treffen würde auch nicht alle Widersprüche etwa zwischen Handels- Agrar- und der Entwicklungspolitik einfach ausräumen oder gänzlich verhindern, dass sich die Bundesregierung wegen eines Koalitionsstreits in Brüssel mal enthalten muss. Aber die Chancen wären höher, dass über die eklatantesten Widersprüche zumindest öfter gestritten wird.

Auch für die kurzfristige Krisenreaktion wären eingeübte Strukturen auf Ministerebene dringend nötig. Wären etwa die von Russland im April an der ukrainischen Grenze stationierten Truppen tatsächlich einmarschiert, es hätte keinen eingespielten Prozess gegeben, welche Minister*innen sich dazu wann wie abstimmen: „Dann telefonieren erstmal alle und schicken sich SMS,“ sagt ein erfahrener Diplomat. „Wer für solche Szenarien kein Verfahren bereithält, der verlässt sich darauf, dass sich Verbündete kümmern.

Der Status Quo scheitert schon an den unstrittigen Themen

Zweitens funktioniert das gegenwärtige System auch da nicht, wo gar keine Interessengegensätze bestehen. Seit 2015 hat die Bundesregierung sechs verschiedene Afrikastrategien veröffentlicht – und Afrika zählt nicht gerade zu den Streitthemen zwischen Union und SPD. Auch jenseits von Rüstungsexporten oder Militärausgaben entscheidet die deutsche Außenpolitik etwa so effizient wie in der Corona-Krise: meistens zu spät und dann zu wenig. Natürlich gibt es Koordinierungsmechanismen – Ressortkreise, Task Forces, Staatssekretärsrunden. Doch statt praktische Kompromisse zu schmieden, werden hier vor allem Waffenstillstände verhandelt. Tausende Arbeitsstunden hochbezahlter Beamt*innen gehen in Streiterei auf Arbeitsebene, weil auf politischer Ebene zu wenig oder zu spät entschieden wird. Es fehlt, so die Schlussfolgerung im Bericht der MSC, „ein gemeinsamer institutioneller Rahmen für integrierte Entscheidungsvorbereitung, Entscheidung und Umsetzung.“

Es fehlt ein Ort für die Strategiebildung

Drittens führen die gegenwärtigen Strukturen dazu, dass notwendige Strategiediskussionen ausbleiben – und auch das ist nicht auf Themen beschränkt, die strittig sind. Nach fünf Jahren Debatten zu Krisenleitlinien und Ressortstrategien wie etwa zu Sicherheitssektorreform oder Rechtsstaatszusammenarbeit bleibt eine der wichtigsten Erkenntnisse: All die Investitionen in die Präventions- und Stabilisierungsinstrumente der Krisenprävention der Bundesregierung bleiben im besten Falle erfolglos und im schlimmsten Falle kontraproduktiv, wenn sie nicht in politische Strategien zur Unterstützung der jeweiligen Länder eingebettet sind. Aber es gibt schlicht keinen Ort, an dem die Ministerien wirkliche politische Strategien für diese Krisen gemeinsam entwickeln oder anpassen.

Und das ist nur ein Themenfeld. Dasselbe Strategiedefizit besteht auch in anderen Feldern der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. So betrifft die Chinapolitik fundamentale Fragen von Sicherheit, Klima, Handel, Technologie – Themen, für die ganz unterschiedliche Ministerien die Hüte aufhaben – und wieder gilt: es gibt kein Verfahren, wo und wann diese verschiedenen Aspekte innerhalb der Bundesregierung langfristig zusammengeführt, abgewogen und priorisiert werden. Es bleibt bei einer „endlosen Abfolge von Ministervorlagen, ad-hoc-Entscheidungen und Momentaufnahmen, aus denen (im besten Fall) eine Politik erwächst“, wie es ein Gesprächspartner formuliert. Eine vorausschauende Politik ist das nicht. Und das liegt nicht nur an unterschiedlichen Interessen in der Koalition, sondern eben auch an einer fehlenden Koordinierung.

Das Argument, dass es nur um den politischen Willen geht, greift deswegen zu kurz. Ja, um die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu verändern, sie vorausschauender, aktiver, strategischer zu gestalten, braucht es politischen Willen. Doch wer ihn hätte, der würde sich auch bessere Strukturen schaffen, um genau diesen Willen effizienter in praktische Politik umzusetzen.

Die Ratsfrage ist eine Machtfrage

Dass sich bisher mitten in den vergangenen Legislaturperioden, etwa in der Debatte um das Weißbuch 2016, keine Einigkeit auf ein neues Gremium erzielen ließ, ist nicht überraschend. Denn es ging und geht um zentrale politische Machtfragen, die Definition von Sicherheit und das Ausmaß des außen- und sicherheitspolitischen Grundkonsenses zwischen den Regierungsparteien. Wer diese Grundfragen zu Beginn der Legislaturperiode nicht aushandelt, wird sie nicht mitten im Regieren lösen.

Wichtig für die nächsten Koalitionsverhandlungen ist aber auch: Ein Strukturbeschluss allein ersetzt kein fehlendes Vertrauen. Die damalige rot-grüne Regierung konnte sich 1998 im Koalitionsvertrag bereits auf den Satz einigen: „Die neue Bundesregierung wird dem Bundessicherheitsrat seine ursprünglich vorgesehene Rolle als Organ der Koordinierung der deutschen Sicherheitspolitik zurückgeben und hierfür die notwendigen Voraussetzungen schaffen.“ Als die Regierungsarbeit begann, kippte der damalige Außenminister Fischer das Projekt wieder. Der BSR erhielt zwar mehr Aufmerksamkeit, auch in der Öffentlichkeit, er beschäftigte sich aber weiterhin weitestgehend mit Rüstungsexporten.

(K)ein Machtverlust für das Auswärtige Amt?

Entscheidend wäre daher, dass die Regierungspartner bereits in den Koalitions­verhandlungen die gewünschten Machtverschiebungen mitverhandeln. Als erstes geht es um Außenministerium und Kanzleramt. Denn obwohl das Auswärtige Amt formal die Rolle der Koordinierung der Sicherheitspolitik innehat: als ein gleichberechtigtes Ressort unter vielen fehlt am Werderschen Markt die Macht für eine verbindliche Koordinierung. Diese muss aus dem Kanzleramt kommen – nicht trotz, sondern wegen des Ressortprinzips.

Sigmar Gabriel formulierte das traditionelle Misstrauen des Außenministeriums so: „In Wahrheit erhoffen sich die ‚Strategen‘ des Verteidigungsministeriums seit Jahren mit diesem Vorschlag nur, dass eine höhere Instanz – sprich ein nationaler Sicherheitsberater im Kanzleramt – hilft, das lästige Außenministerium zu entmachten.“ In der Tat war es in den letzten Jahrzehnten immer so, dass die Union gleichzeitig das Kanzleramt und das Verteidigungsministerium innehatte, man sich im BMVg also durch eine stärkere sicherheitspolitische Instanz im Kanzleramt in Konfliktfällen mit dem Auswärtigen Amt automatisch Rückendeckung erhoffen durfte.

Doch erstens muss mehr sicherheitspolitische Prioritätensetzung, Definition von Interessen und Strategiebildung auf Ministerebene und mehr Koordinierung durch einen Unterbau im Kanzleramt nicht unbedingt zu einem Machtverlust des Auswärtigen Amts führen. Im britischen Außenministerium hatte man etwa nach Einführung eines National Security Councils unter David Cameron 2010 eher den Eindruck, an Macht gewonnen zu haben. Wenn in einem Nationalen Sicherheitsrat durch gemeinsame Entscheidungen öfter die Wirtschafts-, Handels- oder Agrarpolitik den außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands untergeordnet wird, könnte das Ministerium an Relevanz gewinnen, dass die Außenpolitik betreibt.

Zweitens suggeriert die Haltung Gabriels – und in der letzten Debatte 2019/2020, die der SPD –, eine „Alles-oder-nichts“-Entscheidung. Doch das stimmt nicht. Die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsberaters im Kanzleramt, der die Ressorts in Streitfragen ständig überstimmten könnte, wäre ja nur eine und die radikalste Version einer Architekturanpassung. Diese Option wäre in der Tat so schwer mit dem Ressortprinzip und Koalitionsregierungen zu vereinen, dass sie sehr unrealistisch ist. Doch zwischen dieser Option und dem Status quo läge eine ganze Reihe von anderen Möglichkeiten. Die weitere Debatte darüber in Parteizentralen, Fraktionen und Zivilgesellschaft sollte mindestens folgende Aspekte berücksichtigen.

1. Aufwertung des Bundessicherheitsrats oder alternative Struktur?

Ein regelmäßiges Minister*innentreffen zur Sicherheitspolitik könnte entweder aus dem existierenden Bundessicherheitsrat entstehen, oder als eine Neuschöpfung, die unter einem anderen Namen sicherstellt, dass sich das Kabinett bzw. Teile davon regelmäßig zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen zusammensetzen und diese Sitzungen effektiv vorbereitet werden. Der Bundessicherheitsrat ist ein Kabinettsausschuss, der Empfehlungen an das Kabinett ausspricht. Eine Geschäftsordnung, ein kleines Sekretariat im Kanzleramt und einen Vorbereitungsausschuss (laut Geschäftsordnung auf Ebene der Abteilungsleiter) gibt es bereits. Was fehlt, ist die Befugnis, zusätzlich zum bisherigen Themenspektrum (Rüstungsexporte) verbindliche Entscheidungen in Fragen zu treffen, die keiner Entscheidung im gesamten Kabinett bedürfen. Das hieße, die Geschäftsordnung anzupassen, u.a. die Frage des Geheimhaltungsgrads der Sitzungen zu klären und zusätzlich das Sekretariat so auszustatten, dass es die Sitzungen angemessen vorbereiten kann. Letzteres ließe sich zum Beispiel dadurch sicherstellen, dass aus allen relevanten Ministerien Referent*innen in einen Stab dafür zusammengezogen werden.

Wem der Begriff Bundessicherheitsrat nicht gefällt, der könnte eine regelmäßige Kabinettssitzung verabreden, an der dann anlassbezogen nur die jeweils relevanten Minister*innen teilnehmen. Auch eine solche Runde bräuchte aber für eine effektive Vorbereitung einen Unterbau von Referent*innen im Kanzleramt und eine Geschäftsordnung. Am Ende käme man ziemlich genau bei einem aufgewerteten und umbenannten BSR an.

2. Was ist mit dem Sekretär?

Welche Rolle hätte die Koordinierungsposition im Kanzleramt? Die radikalste Veränderung bestünde in der Schaffung einer Nationalen Sicherheitsberaterin im Ministerrang (wie es Christian Thiels 2016 auf diesem Blog vorschlug) mit der Befugnis, bei Uneinigkeit zwischen den Ministerien im Namen des Kanzleramts Entscheidungen zu treffen, an die sich alle halten müssen. Demgegenüber bestünde die minimalste Veränderung darin, die Rolle des Sekretärs auf die Ebene des heutigen außenpolitischen Beraters der Kanzlerin, des Leiters der Abteilung 2 aufzuwerten, mit den gleichen Befugnissen wie heute. Ersteres wäre im gegenwärtigen System der Bundesregierung unrealistisch. Letzteres würde nichts voranbringen.

Eine Möglichkeit dazwischen wäre, die Rolle der außenpolitischen Beraterin der Kanzlerin auf die Ebene einer Staatssekretärin oder eines Staatsministers aufzuwerten und mehrere Abteilungen im Kanzleramt (neben der derzeitigen außen- und sicherheitspolitischen Abteilung 2 auch Abteilung 7 für den BND) unter dieser Person zusammenzuziehen. Einen Staatssekretär im Kanzleramt neben und unter dem Chef des Kanzleramtes im Ministerrang gab es übrigens schon 1998: Frank-Walter Steinmeier hatte damals u.a. die Aufsicht über die Geheimdienste inne.

Um einer koalitionspolitisch schädlichen Machtkonzentration im Kanzleramt vorzubeugen, könnte der kleinere Koalitionspartner, der in der Regel das Auswärtige Amt übernimmt, den Personalvorschlag für diese Sicherheitsberaterin machen. Alternativ könnten zumindest die Stellvertreter*innen dieser Person jeweils aus dem Auswärtigen Amt, dem BMVg und dem BMZ kommen. Beides hält Erich Vad, ehemaliger sicherheitspolitischer Berater der Kanzlerin, für vorstellbar.

3. Sicherheitsverständnis und Themenspektrum

Welches Verständnis von Sicherheit läge dem Rat zu Grunde? Wo die einen vor allem an Militär, Geheimdienste, Polizei und Terrorbekämpfung denken, an die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Verfassungsschutz auf Bundes- und Länderebene, sogar an die Aufhebung des Trennungsgebots, denken andere an menschliche Sicherheit, die nicht nur Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik, sondern selbstverständlich auch Klimapolitik umfasst. Wie umfangreich soll das Portfolio werden? Was ist etwa das Verhältnis zur Europapolitik, die all diese Themen beeinflusst? Wie viele Ministerien müssen eingebunden sein? Eine weitere inhaltliche Frage wäre, wie viel Zeit für die Vorausschau, Krisenprävention und langfristige Strategiebildung reserviert wird und wie viel Zeit für die Reaktion auf akute Krisensituationen. 

4. Strategiedokumente: Wer schreibt, der bleibt?

Damit zusammen hängen auch weitere Überlegungen dazu, mit welchem Ehrgeiz die künftige Koalition außen- und sicherheitspolitische Kompromisse finden möchte. Egal wie der Kabinettsausschuss heißt: Eine stärkere Integration würde es schwieriger machen, die Verantwortung für einzelne Entscheidungen auf jeweils einzelne Minister*innen des Koalitionspartners zu schieben. Kann sich die Koalition auf eine ohnehin seit langem überfällige gemeinsame nationale Friedens- und Sicherheitsstrategie einigen, die Weißbuch und Leitlinien ersetzt? Und sollte es Aufgabe des Unterbaus des Rates im Kanzleramt sein, ein solches Dokument zu erarbeiten, wie etwa in Japan

5. Wer macht das Agenda-Setting?

Wer setzt die Agenda und schreibt Protokolle? Auch diese Fragen haben Auswirkungen auf das Ausmaß der Machtverschiebung. So könnten (wie im Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz vorgeschlagen) etwa unterschiedliche Unterausschüsse von thematisch relevanten Ministerien angeführt werden. Und woher kommt die Lageanalyse? Seit November 2019 erstellt ein Lagezentrum im Referat 041 des Auswärtigen Amts täglich ein „analytisches Lagebild zu außen- und sicherheitspolitischen Entwicklungen“, an dem auch das BMI, BMVg und BND beteiligt sind. Welche Rolle könnte dieses Zentrum in einer zukünftigen Architektur spielen? Christina Moritz, die sowohl für die CDU-Fraktion als auch das Verteidigungsministerium arbeitete, schlägt vor, die Analyse und Auswertung aller „verfügbaren zivilen und militärischen Quellen für die Vorbereitung der Sitzungen“ müsse im Verteidigungsministerium stattfinden. Alle, die Sicherheitspolitik etwas weiter fassen, werden diese Logik nicht nachvollziehen können.

6. Braucht es eine Grundgesetzänderung?

Eine vor allem mit dem Themenspektrum und Kompetenzen zusammenhängende Frage für die Vorbereitungen in den Parteien ist, ob und in welcher Form es eine Grundgesetzänderung braucht. Wenn sich durch einen solchen Rat letztendlich die Minister*innen öfter einigen müssen und in Streitfällen der Kanzler oder die Kanzlerin öfter von der Richtlinienkompetenz gebraucht macht, bliebe das Ressortprinzip intakt. Würde aber z.B. zu den Themen Polizei oder Terrorbekämpfung die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern oder das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten berührt, könnte dies auch Grundgesetzänderungen erfordern.

Das Ziel ist nicht „perfekt“, sondern „besser“

Neben Vorstellungen in den Parteien zu all diesen Fragen wird es wichtig sein, dass auch die Zivilgesellschaft und Expert*innen – viele davon in den letzten fünf Jahren Autor*innen und Leser*innen dieses Blogs – sich mit dieser Debatte auseinandersetzen. Denn wenn politischer Druck entstehen kann, dann nur von dort. Das Thema ist zu bürokratisch, um politisch im Wahlkampf relevant zu sein. Gleichzeitig ist es – siehe oben – so hoch politisch, dass es von der Bürokratie allein nicht zu lösen ist. Jegliche Anpassung der deutschen Sicherheitsarchitektur wie oben beschrieben wird auch Kosten und Nachteile haben. Aber um sich zu lohnen, müssen neue Strukturen nicht perfekt sein, sondern besser.

Politikkohärenz Frieden & Sicherheit Krisenprävention

Sarah Brockmeier

Sarah Brockmeier ist Research Fellow beim Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin und leitete von 2016 bis 2020 das Redaktionsteam des PeaceLab-Blogs.