Interessengeleitet, strategisch und priorisiert: Für eine realistische zivile Krisenprävention

21. Juli 2016   ·   Roderich Kiesewetter

Gleichzeitige Krisen im Osten und Süden erfordern eine Reaktion: Wirkungen und Fehler bisheriger Politik analysieren, Lücken herausarbeiten und in Handlungsaufträge übersetzen für gemeinsame europäische Initiativen, bessere Frühwarnung und Early Action, und einen komplementären Einsatz ziviler und militärischer Fähigkeiten.

Deutschland hat eine Verantwortung für die Stärkung des Zusammenhalts in Europa. Die Instabilität im unmittelbaren Umfeld der EU erfordert gemeinsam eingesetzte Mittel der Krisenprävention auf allen Ebenen: diplomatisch, entwicklungs- und wirtschaftspolitisch sowie sicherheitspolitisch. In diesem Kontext gilt es, den Aktionsplan Zivile Krisenprävention von 2004 zielgerichtet weiterzuentwickeln. Er setzte bereits wichtige Prioritäten: Die Früherkennung von Krisen, die gründliche Analyse von Konfliktursachen und das Primat ziviler Mittel bei der Konfliktbearbeitung sind heute wie damals zentral. Auch die heutigen Herausforderungen für die zivile Krisenprävention beschrieb der Aktionsplan treffend: Gesellschaftliche Konflikte werden entlang religiöser und ethnischer Linien ausgetragen, die Rolle von halb- und nichtstaatlichen Gewaltakteuren wie Milizen und „Warlords“ wächst. Auch die organisierte Kriminalität und der Terrorismus wurden bereits 2004 als Herausforderungen identifiziert und bleiben weiter auf der Agenda.

Doch zwölf Jahre nach der Verabschiedung des Aktionsplans hat sich in 60% von 129 Transformationsstaaten der politische Entwicklungsstand gegenüber 2006 verschlechtert (vgl. Bertelsmann Transformationsindex 2016). Um auf die neue Gleichzeitigkeit von Krisen zu reagieren, die im Osten Europas sowie im Nahen und Mittleren Osten stattfinden, brauchen wir eine fundamentale Neuorientierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Das Weißbuch Verteidigung reagiert auf diese veränderten Rahmenbedingungen für das sicherheitspolitischen Umfeld und benennt Konsequenzen für die deutsche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch die neuen Leitlinien der Bundesregierung für Krisenengagement und Friedensförderung müssen auf diese veränderten Rahmenbedingungen reagieren. Wir müssen Fehler- und Wirksamkeitsanalysen der vergangenen Jahre prüfen und bestehende Lücken für eine wirksamere Krisenprävention und -bearbeitung herausarbeiten. Die Leitlinien müssen strategische Interessen, regionale Prioritäten und das Leitbild des vernetzten Ansatzes dann im Bereich zivile Krisenprävention in „Handlungsaufträge“ übersetzen. Ich sehe insbesondere drei Ziele, die in den Leitlinien festgehalten werden sollten: Ein gemeinsam handelndes Europa, realistische Schritte für eine Verbesserung von Frühwarnung und „Early Action“ und ein komplementärer Einsatz von zivilen und militärischen Fähigkeiten.

Deutschland muss in der Europäischen Union mehr Verantwortung übernehmen

Angesichts der Gleichzeitigkeit von Krisen muss Deutschland ein Mehr an Verantwortung innerhalb einer gestärkten EU wahrnehmen. Dabei müssen wir auch die Bedürfnisse der einzelnen Mitgliedsstaaten stärker berücksichtigen - auch der kleineren Staaten und insbesondere derer an den Außengrenzen. Ein starkes diplomatisches Engagement der Bundesregierung wird weiterhin gefordert sein. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union sollte sie dabei mehr denn je den Zusammenhalt und die Einheit Europas fördern. Wirksames außenpolitisches Handeln wird dann möglich sein, wenn Deutschland und die EU auf ein breites abgestimmtes Repertoire von Fähigkeiten zurückgreifen können. Zusammen mit den europäischen Partnern muss Deutschland gemeinsame europäische Interessen in der unmittelbaren Nachbarschaft verfolgen und tiefgreifende Partnerschaften in diesen Regionen entwickeln.

Unter dem Leitbild der Kohärenz muss ein wesentliches Augenmerk darauf liegen, dass sich das bilaterale Engagement einzelner Mitgliedsstaaten gegenseitig ergänzt und die EU mit zivilen und militärischen Mitteln dieses Engagement fördert. Zum Beispiel muss die Herausforderung, in Post-Konflikt-Szenarien wie in Syrien und Libyen Wiederaufbau- und Versöhnungsprozesse zu fördern, durch gezielte Stabilisierungsmaßnahmen bewältigt werden. Die Eindämmung des IS durch den Militäreinsatz und eine dauerhafte Waffenruhe muss durch intensivierte humanitäre Hilfen gefolgt sein. Ein nachhaltiger Frieden kann jedoch nur erreicht werden, wenn die materielle Versorgung der Bevölkerung, lokale Verwaltung zur Regelung von Ansprüchen der zurückgekehrten Einwohner sowie Wertschöpfungsketten wieder errichtet werden. Ansonsten droht eine erneute Spirale inter-ethnischer und religiöser Konflikte, die auch auf Nachbarregionen ausstrahlt. In enger Abstimmung mit den EU-Staaten könnte Deutschland angesichts dieses Risikos finanzielle Mittel und zivile Helfer in einer zivil-militärischen EU-Mission einsetzen, um auf das politische Ziel der Versöhnung und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in der Region hinzuarbeiten.

Krisenfrüherkennung ist kein Allheilmittel, und oft fehlen Mechanismen und Ressourcen für schnelles Handeln

Durch frühzeitiges Handeln vermeiden wir hohe Folgekosten. Doch zeigen uns Beispiele wie der Arabische Frühling und die Eskalation in Mali in 2012 wie schwierig es immer noch ist, Krisen im Vorfeld zu erkennen. Das Potential der Krisenfrüherkennung muss demnach einer kritischen Analyse unterworfen werden. Die äußerst komplexen Prozesse der Konfliktentstehung sind durch gängige Indikatoren kaum genau zu erfassen. Zwar lässt sich durch den "Human Development Index" die positive oder negative Entwicklung eines Landes feststellen - kurzfristige, komplex vernetzte Faktoren, die eine Krise hervorrufen können, erfassen diese Indizes jedoch nicht. Die Bundesregierung muss in dem neuen Leitliniendokument die Frage beantworten, ob gezieltere Indikatoren zu verlässlichen Vorhersagen gelangen können.

Die Leitlinien sollten hier realistische Ziele setzen und die Schwierigkeiten einer exakten Frühwarnung sowie die erforderlichen Schritte für effektive "early response" herausarbeiten. Eine effektive Krisenfrühwarnung wird es nur geben, wenn wir die Expertise unterschiedlicher Akteure einbeziehen. Dazu gehört eine detailliertere Unterrichtung des Bundestags durch die Bundesregierung. Eine Evaluierung des gesamten außenpolitischen Engagements sollte sowohl in einer breiten parlamentarischen Debatte als auch in Ausschussanhörungen stattfinden - anhand definierter Parameter für das deutsche Engagement, die durch die Bundesregierung ressortübergreifend festgelegt werden.

Auch ist es wichtig, die Grenzen der praktischen Handlungsfähigkeit für eine "early response" zu erkennen und hier Lücken zu schließen. Die Ebola-Krise hat gezeigt, dass es neben der Krisenfrüherkennung auch an effizienter Abstimmung unter den EU-Staaten und rasch einsetzbarer Ressourcen mangelte. Prioritäre Aufgaben für eine wirksamere zivile Krisenprävention könnten konkrete Ansätze wie die Schaffung von EU-Weißhelmen beinhalten.

Zivile und militärische Instrumente praxistauglicher verzahnen

Aufgrund der bedrohlichen Erosion von Staatlichkeit müssen militärische Mittel komplementär zu zivilen Mitteln eingesetzt werden. Unter bestimmten Bedingungen kann die Wirkung ziviler Instrumente durch den Einsatz von militärischen Mittel erhöht werden. Umgekehrt sind militärische Mittel nur sinnvoll, wenn sie durch zivile Instrumente ergänzt werden.

Deshalb sollten zivile Instrumente praxistauglicher mit militärischen Mitteln verzahnt werden. Ein Beispiel: Damit Länder wie Tunesien oder Libyen in Nordafrika in der Lage sind, Terrorismus und Kriminalität zu bekämpfen, müssen diese dringend ihren Sicherheitssektor reformieren. Deutschland hat ein Interesse daran, dass diese Reformen an demokratische Kontrolle des Sicherheitssektors gekoppelt werden und Behörden nicht weiterhin als Repressionsinstrument fungieren. Das heißt für alle Reformansätze - z.B. eine klarere Trennung von Militär- und Polizeiaufgaben, Schulung des Führungspersonals und Vertrauensbildung zwischen Sicherheitskräften und Bevölkerung - sind wir darauf angewiesen, dass zivile und militärische Akteure eng zusammenarbeiten. Eine effektive deutsche Unterstützung solcher Reformen kann nur gelingen, wenn auch die deutschen zivilen, polizeilichen und militärischen Beiträge gut koordiniert sind.

Im Fall Libyen hat die große Mehrheit der Bevölkerung ein Interesse an stabiler Staatlichkeit und ausländischer Unterstützung und auch die neue Einheitsregierung ist willens, das Gewaltmonopol zurückzuerlangen. Für eine effektive Unterstützung werden sowohl zivile als auch militärische Instrumente nötig sein, jedoch können z.B. Entwicklungshelfer des UNDP nur Zugang erhalten und dabei helfen staatliche und wirtschaftliche Infrastruktur auf lokaler Ebene aufzubauen, wenn ein sicheres Umfeld gegeben ist. Um dies zu erreichen muss Deutschland eigene Beiträge in enger Abstimmung mit seinen Partnern einbringen und strategiegeleitet einsetzen.

Politisch stabilisieren statt Demokratie exportieren

Schließlich sollten Deutschland und seine europäische Partner zivile sowie militärische Mittel auf den Zweck politischer Stabilisierung ausrichten - was eine Abkehr vom Paradigma des externen Demokratieimports bedeuten würde. Zwar kann europäisches Engagement unter Umständen durch Ertüchtigung und Befähigung demokratische Reformen begünstigen. Regionalstrategien müssen jedoch auf den Stopp regionalen Ordnungsverfalls, menschliche Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität ausgerichtet sein. Das bedeutet nicht demokratische Normen zu erzwingen, sondern ein Stabilisierungskonzept an die Interessen und Bedürfnisse kooperations- und reformwilliger Partnerstaaten anzupassen.