Mehr Wissenschaft für bessere Politik? Hürden, Optionen und etwas Evidenz

09. November 2016   ·   Lars Brozus

Die friedens- und sicherheitspolitische Forschung will ihre Erkenntnisse von der Politik besser genutzt sehen, und Politiker wollen von der Forschung mehr beraten werden. Alles gut? So einfach ist es nicht: Wenn Wissenschaft zu mehr als dekorativen Zwecken genutzt werden soll, muss die Arbeitspraxis der Politik dies erst einmal ermöglichen.

In der Diskussion über die neuen Leitlinien für Krisenengagement und Friedensförderung scheint Konsens darüber zu bestehen, dass die Wissenschaft künftig eine größere Rolle in der deutschen „Fragile-Staaten-Politik“ spielen sollte. Aber wie kommt die Wissenschaft in die Politik? Und will die Politik das überhaupt? Die Forschung darüber, wie wissenschaftliche Erkenntnisse über fragile Staaten von der politischen Praxis genutzt werden, zeichnet ein zwiespältiges Bild.

Science for policy & policy for science

Die wissenschaftlichen Stimmen in diesem Blog sind sich einig: Um „nachhaltigen Erfolg in der zivilen Krisenprävention zu sichern, ist die Politik auf belastbares Wissen angewiesen“ (Deitelhoff/Daase). Daher soll „wissenschaftliche Expertise stärker als bisher in die Planung und Umsetzung friedensfördernder Maßnahmen“ (Schröder) eingebunden werden. Das gilt für alle Politikstadien, von der Frühwarnung (Meyer) bis zur Evaluation (Wittkowsky). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen die Politik nicht nur bei der Entwicklung von Konzepten und Maßnahmen beraten, sondern anschließend auch untersuchen, wie effektiv diese umgesetzt und ob die angestrebten Ziele erreicht werden. So kann “science for policy“ einen relevanten Beitrag für bessere Entscheidungen und Handlungen der Politik leisten. Aus der Perspektive eines wissenschaftlich arbeitenden Think Tanks wie der SWP ist dieser Konsens zu begrüßen, nicht zuletzt, weil er größere Anerkennung und mehr Ressourcen seitens der Politik impliziert (“policy for science“). Allerdings gilt für die angemahnte engere Kooperation von Wissenschaft und Politik, dass auch ein impliziter „Ruf nach mehr Ressourcen mit der selbstkritischen Reflexion von Zielkonflikten, Dilemmata und vergangenen Fehlschlägen verbunden“ (Rotmann) werden muss. Wie also erreicht Politikberatung ihre Adressaten, und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse werden politisch relevant?

Wissenschaft, Politik und fragile Staaten: stories from the field

Die Forschung über den “research uptake“, d.h. die Aneignung wissenschaftlichen Wissens durch politische Organisationen, veranschaulicht das komplizierte Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik:

1) Die OECD prägt sowohl die internationale Debatte über fragile Staaten wie auch die entsprechende praktische Politik maßgeblich. Ein zentraler Begriff dabei ist Legitimität. Stark verkürzt lautet die Diagnose: fragilen Staaten mangelt es an gesellschaftlicher Akzeptanz. Internationale Maßnahmen, etwa der Aufbau von staatlichen Institutionen, sollen dazu beitragen, diesen Mangel zu beheben. Nun ist Legitimität ein vielschichtiger Begriff und wird in den Sozialwissenschaften unterschiedlich interpretiert. Lemay-Hébert/Mathieu zeigen, wie und warum sich eine bestimmte Lesart im OECD-Diskurs durchgesetzt hat, die konzeptionell und operativ kompatibel mit der politischen Praxis ist. Ihre These lautet, dass es nicht wissenschaftliche, sondern (organisations-) politische Gesichtspunkte waren, die dazu beitrugen, obgleich kaum Evidenz für die dauerhafte Wirksamkeit von internationalen Maßnahmen zum Institutionen- und Kapazitätsaufbau in fragilen Staaten vorliegt. Das Lernen aus Fehlschlägen wird dadurch erschwert, dass die OECD Studienaufträge vorzugsweise an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergibt, die die politischen Konzepte der Organisation internalisiert haben.

2) Die britische „Fragile-Staaten-Politik“ wird im internationalen Vergleich als vorbildlich wahrgenommen, da sie überdurchschnittlich stark evidenzbasiert sei. Tatsächlich spielt in Großbritannien wissenschaftliches Wissen für die konzeptionelle und operative Ebene eine wichtige Rolle, wie Waldmans Untersuchung zeigt. Allerdings, so sein Befund, werden Forschungsergebnisse oft selektiv genutzt. Damit London die Pläne staatlicher Projektträger für Maßnahmen in fragilen Staaten bewilligen kann, müssen diese auf wissenschaftliche Befunde verweisen, die die Projektidee stützen. Aus diesem an sich sinnvollen Ansatz hat sich eine Art “cut and paste“-Kultur entwickelt: Befunde, die für die Begründung von bewilligten (und insofern erfolgreichen) Projektplänen genutzt wurden, tauchen als Textbausteine immer wieder auf, ohne dass die tatsächliche Wirkung der durchgeführten Maßnahmen angemessen reflektiert wird. Dieser „justifikatorische Gebrauch“ wissenschaftlichen Wissens führt dazu, dass neue Erkenntnisse es schwer haben, von der Politik aufgegriffen zu werden. Das gilt vor allem dann, wenn sie die Wirksamkeit der bislang verfolgten Ansätze in Frage stellen. Diese Praxis befördert die Selbstimmunisierung der operativen Politik gegenüber wissenschaftlicher Expertise, die die etablierten Konzepte und die daraus abgeleiteten Maßnahmen hinterfragt.

Policy-based evidence-making und praktische Gegenmaßnahmen

Die Beispiele illustrieren Befunde der breiteren Forschung über wissenschaftliche Politikberatung: Die Aneignung wissenschaftlichen Wissens durch die Politik ist wesentlich durch die Nachfrage- und nicht durch die Angebotsseite bestimmt. Expertise, die in konzeptioneller wie auch operativer Hinsicht anschlussfähig an die in den politischen Organisationen bestehende Handlungspraxis ist, hat größere Chancen darauf, beachtet zu werden. (Neues) Wissen, das diese Praxis in Frage stellt oder das operativ nicht umsetzbar erscheint, wird ausgeblendet. Das ist besonders dann problematisch, wenn die Umsetzung der etablierten Konzepte durch vorhandene Instrumente nicht zu den geplanten Zielen führt. Damit verkehrt sich die Idee, dass wissenschaftliche Evidenz praktische Politik anleiten sollte, ins Gegenteil: Die Politik prägt nicht nur die Evidenzrezeption, sondern auch die Evidenzproduktion.

Diese Befunde kontrastieren mit den Appellen politischer Entscheidungsträger, die Wissenschaft möge sich stärker in der Beratung engagieren. Wenn es keine ideologischen Vorbehalte der Politik gegen mehr Beratung gibt, welche praktischen Gründe sind dann dafür verantwortlich, dass wissenschaftliches Wissen oft instrumentalisiert wird? Die Forschung verweist in diesem Zusammenhang immer wieder auf drei Faktoren, die mit der Arbeitspraxis in politischen Organisationen zusammenhängen:

1) Zeitmangel wird häufig als Erklärung genannt. Demnach fehlt auf allen Hierarchieebenen die Zeit, um sich mit wissenschaftlicher Expertise auseinanderzusetzen. Umfangreiche Studien können angesichts der permanenten Kommunikations-, Koordinations- und Entscheidungserfordernisse nicht rezipiert werden. Bestenfalls kurze Papiere schaffen es, die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger auf sich zu lenken, die in hierarchisch aufgebauten Organisationen unerlässlich ist, um Handlungen auszulösen.

2) Ein zusätzlicher Faktor ist die Personalrotation. Die operative „Fragile-Staaten-Politik“ ist durch hohe Arbeitsbelastung gekennzeichnet. Daher lohnt sich der Aufwand, sich intensiv in den jeweiligen landesspezifischen Forschungsstand einzuarbeiten, angesichts der absehbaren nächsten Verwendung womöglich nicht. Die Folge ist, dass Wissensbestände in Vergessenheit geraten.

3) Schließlich wird die Notwendigkeit angeführt, kognitive Dissonanzen zu reduzieren, um die Organisation entscheidungs- und handlungsfähig zu halten. Angesichts eines unübersichtlichen Politikfeldes wie dem des Krisenengagements und der Friedensförderung, manifester Informationsübersättigung und ständigem politischem wie institutionellem Druck, Erfolgsmeldungen zu produzieren, ist es wenig überraschend, dass Entscheidungsträger nur in Ausnahmefällen dazu neigen, sich mit unorthodoxen Positionen auseinander zu setzen.

Wenn Wissenschaft zu mehr als dekorativen Zwecken genutzt werden soll, kommt die Politik nicht umhin, sich mit Arbeitsmethoden und Organisationskultur auseinander zu setzen. Zeitmangel kann durch eine bessere Arbeitsorganisation, die die Belastung der Referenten verringert, und eine andere Prioritätensetzung gelindert werden. Ein professionelles Wissensmanagementsystem und eine umfassende Einsatzvorbereitung können dazu beitragen, das Rad nicht fortwährend neu zu erfinden. Dezentralisierte Entscheidungsstrukturen können die oberen Hierarchieebenen entlasten und die Eigenverantwortung der nachfolgenden Ebenen stärken. Die härteste Nuss ist die Änderung der Organisationskultur, die u.a. die Karriereerwartungen der Diplomaten, Entwicklungshelfer, Soldaten und Polizisten prägt. Anreize lassen sich institutionell anders setzen, etwa in dem die Rezeption wissenschaftlichen Wissens beförderungsrelevanter wird. Diese hier nur kursorisch skizzierbaren Beispiele für Reformansätze auf Seiten der politischen Apparate sind zugegebenermaßen leichter zu beschreiben als praktisch umzusetzen. Aber in diesem Blog geht es ja darum, weiter zu denken…