Konditionalität als Mittel zur nachhaltigen Transformation

02. März 2017   ·   Valeska Esch

Um demokratische und rechtsstaatliche Reformprozesse anzustoßen und zu begleiten, kann Konditionalität ein erfolgreiches Mittel sein. Dafür muss sie aber glaubwürdig, kohärent und konsequent umgesetzt werden. Die EU-Beitrittsprozesse in den Ländern des Westlichen Balkans zeigen, wie politische Umwege das Konditionalitätsprinzip untergraben können.

„Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die besten Garanten für einen nachhaltigen Frieden,“ betonte Bundesaußenminister a.D. Frank-Walter Steinmeier in seinem Beitrag an dieser Stelle – wie auch Bundesminister Gerd Müller, Matthias Kötter, Tanja Gönner und Katrin Kinzelbach. Dieser Überzeugung folgt auch der Ansatz, der seit dem Ende des blutigen Zerfalls Jugoslawiens gegenüber den Ländern der Region verfolgt wird: Durch eine nachhaltige Transformation der Länder und deren Integration in die EU sollen die strukturellen Ursachen der Konflikte beseitigt werden. Dabei soll der Beitrittsprozess mithilfe des Konditionalitätsprinzips als Reformmotor dienen, an dessen Ende die Aussicht auf Frieden, Freiheit und Wohlstand durch Transformation und die Mitgliedschaft in der EU steht.

Transformationsprozesse können nur mit der Unterstützung der Bevölkerung erfolgreich sein

In den Ländern des Westlichen Balkans haben sich trotz der Konditionalität des EU-Beitrittsprozesses und einem über 20-jährigen Engagement der EU und ihrer Mitgliedsstaaten semi-autoritäre Systeme entwickelt, die von Korruption, Nepotismus und Klientelismus geprägt sind. Zunehmend misstraut die Bevölkerung den staatlichen Eliten. Die aktuelle soziale und wirtschaftliche Lage in der Region ist dramatisch, die Arbeitslosigkeit der jungen Bevölkerung liegt in manchen der Länder bei über 50%.

Auch wenn dies in Teilen der schwierigen Geschichte der Region geschuldet ist, ist die Situation auch das Resultat eines wachsenden Glaubwürdigkeitsproblems des Beitrittsprozesses sowie eines Ausbleibens greifbarer Verbesserungen der Lebenssituation vieler Menschen in der Region. Zwar haben fast alle Länder der Region in den letzten Jahren Fortschritte im Beitrittsprozess gemacht – diese technischen Fortschritte, beispielsweise durch das Öffnen oder Schließen von Verhandlungskapiteln, sind aber kaum greifbare Schritte für die Bevölkerung. Der Visa-Liberalisierungsprozess dagegen hat gezeigt, dass Prozesse, an deren Ende für die Bevölkerung unmittelbar spürbare Resultate stehen, den Reformdruck auf die politischen Eliten erhöhen. Eine Verbesserung der individuellen Perspektiven der Menschen in der Region durch einen stärkeren Fokus auf wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitsplätze, Bildung und Ausbildung und dessen enge Verknüpfung mit dem Konditionalitätsprinzip könnte daher die Reformprozesse stärken.

Grundvoraussetzung für Konditionalität ist Glaubwürdigkeit

Dabei ist die Glaubwürdigkeit der EU essentiell. Die autoritären Tendenzen und informellen Strukturen in der Region stellen für die EU in ihren Bemühungen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stärken, jedoch ein Glaubwürdigkeitsdilemma dar: Zum einen handelt es sich dabei um zentrale Forderungen im Beitrittsprozess. Zum anderen erhofft sie sich diese Reformen von politischen Eliten, die oftmals kein ernsthaftes Interesse an Veränderung haben, da sie sich durch den Aufbau eines funktionierenden Rechtsstaats ihre eigenen Privilegien nehmen würden. Ein Beispiel hierfür ist die politische Krise in der EJR Mazedonien: Die im Frühjahr 2015 veröffentlichten Mitschnitte, die den sogenannten Abhörskandal in Mazedonien und die damit verbundene Regierungskrise auslösten, haben einen tiefen Einblick in Korruption und Machtmissbrauch der Regierung gewährt. Und obwohl die Mitschnitte nur das bestätigten, was hinter verschlossenen Türen in Brüssel und Berlin längst bekannt war, führten erst Massenproteste und die damit verbundene Sorge vor einer Destabilisierung des Landes zu einem verstärkten Engagement der EU zur Aufklärung der vermeintlichen Vergehen sowie der Vermittlung einer Reihe von dringenden Reformen, an deren Ende freie und faire Neuwahlen stehen sollten.

Demokratische und rechtsstaatliche Defizite sind in der Region kein Einzelfall. Sie werden jedoch selten klar und öffentlich benannt, solange die Regierungen sich weiterhin für den EU-Beitritt aussprechen und ihre Reformbereitschaft signalisieren. Gleichzeitig gelingt es der EU selbst nicht immer, mit gutem Beispiel voranzugehen: Nicht nur gibt es wachsende Defizite in EU-Mitgliedsstaaten in diesen Bereichen, auch die größte GSVP-Mission, die Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX im Kosovo, ist in der Vergangenheit durch Korruptionsvorwürfe in den eigenen Reihen aufgefallen. Das Ziel einer nachhaltigen, demokratischen Transformation wird durch ein solches Vorgehen unterminiert. Nur eine klare und öffentliche Benennung von Defiziten schafft die Transparenz, die notwendig ist, damit der Prozess seine Glaubwürdigkeit behält und die Bevölkerungen in die Lage versetzt werden, ihre Regierungen in die Verantwortung zu nehmen. Vor allem aber kann nur wer mit gutem Beispiel vorangeht das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen und die Regierungen in der Region glaubwürdig zur Rechenschaft ziehen.

Konditionalität braucht Kohärenz und Konsequenz

Die EU-Osterweiterung und der Visa-Liberalisierungsprozess haben gezeigt, dass das Konditionalitätsprinzip durchaus erfolgreich sein kann: Für das Erfüllen bestimmter Kriterien oder das Erreichen gewisser EU-Standards folgt die in Aussicht gestellte ‚Belohnung‘ – ein scheinbar objektiver, strikter, aber fairer Prozess. In der Praxis jedoch entsteht immer wieder das Gefühl unterschiedlicher Maßstäbe: So ist Kosovo das einzige Land in der Region, dessen Bevölkerung noch nicht von Visafreiheit für den Schengenraum profitiert. Zwar erfüllt auch Kosovo die notwendigen technischen Kriterien, allerdings wird vom Kosovo verlangt, vor der Visa-Liberalisierung zudem die Grenzdemarkation mit Montenegro zu ratifizieren – ein Kriterium, das keines der anderen Länder erfüllen musste und das bis heute weitere Fortschritte blockiert, da die Regierung nicht über die notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt. Das in der Bevölkerung dadurch verursachte Gefühl unterschiedlicher Maßstäbe schadet der Glaubwürdigkeit des Ansatzes.

Gleiches gilt für den Beitrittsprozess selbst. Bereits 2009 hat die Europäische Kommission die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien empfohlen, da alle dafür notwendigen technischen Kriterien erfüllt waren. Seither sind jedoch jegliche Fortschritte durch den Namensstreit mit Griechenland blockiert. Während die Dauer der Blockade Mazedoniens ein Einzelfall ist, ist es die Nichterfüllung des Quid pro Quo des Konditionalitätsprinzips aus politischen Gründen nicht. Dies offenbart eine Schwäche des Prozesses: Das scheinbar technische Konditionalitätsprinzip ist am Ende des Tages nicht von den politischen Positionen der einzelnen Mitgliedsstaaten zu trennen, da diese jeglichen Fortschritten im Beitrittsprozess einstimmig im Europäischen Rat zustimmen müssen. Das führt dazu, dass die für erfolgreiche Konditionalität notwendigen klaren, vergleichbaren und transparenten Regeln nicht immer vorhanden sind. Eine selektive Anwendung des Konditionalitätsprinzips untergräbt jedoch auf Dauer dessen Wirkung. Dieses grundlegende Problem der EU hat sich zuletzt auch im Ratifikationsprozess des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine offenbart.

Wichtig ist ein klares Erwartungsmanagement

Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass für ein erfolgreiches Einsetzen des Konditionalitätsprinzips die Erwartungen auf allen Seiten klar sein müssen. Dies ist u.a. im durch die EU vermittelten Dialog zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina deutlich geworden. Der Dialog ist eng mit den Beitrittsprozessen Serbiens und des Kosovo verknüpft, dessen Verlauf ist jedoch alles andere als erfolgsversprechend. Unter dem Stichwort „konstruktive Ambiguität“ wurde und wird akzeptiert, dass Belgrad und Pristina ihre jeweils eigenen Interpretationen des Dialogs selbst sowie erreichter Kompromisse haben. Dies ist mit Blick auf die langfristigen Ziele des Dialogs bereits problematisch: Pristina erwartet die diplomatische Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch Serbien, während Belgrad dies ausschließt. Vor allem aber liegt hier auch ein wesentliches Hindernis für tatsächliche Fortschritte jenseits der Statusfrage: Um die Vermittlungserfolge nicht zu gefährden, hat die EU die parallelen Interpretationen zur Kompromissfindung genutzt. So konnte 2013 das erste Brüsseler Abkommen zwischen den beiden Konfliktparteien unterzeichnet werden. Ein ernsthafter politischer Wille, die erzielten Vereinbarungen umzusetzen, ist jedoch auf beiden Seiten nicht vorhanden. Vielmehr unterscheiden sich die jeweiligen Interpretationen des Abkommens deutlich. Es wäre notwendig, den bisherigen Ansatz der konstruktiven Ambiguität mit Blick auf konkrete Einigungen anzupassen und konsequenter gemeinsame Lösungen und deren Umsetzung einzufordern. Dabei ist eine Klärung der Erwartungen auf allen Seiten, insbesondere mit Blick auf die konkrete Umsetzung und deren Bedeutung für die Konditionalität des Beitrittsprozesses, essentiell.

Lehren für die Friedensförderung

Für den im Leitlinienprozess und im PeaceLab2016 geführten Dialog zu Verbesserungen in der Politik der Bundesregierung zur Krisenprävention und Friedensförderung können aus den Erfahrungen im Westlichen Balkan daher folgende Lehren gezogen werden:

  1. Das Konditionalitätsprinzip kann ein erfolgreiches Mittel sein, um Reformprozesse anzustoßen und zu begleiten, und sollte auch künftig als Instrument in Erwägung gezogen werden.
  2. Konditionalität ist nur dann glaubhaft, wenn es klare und transparente Kriterien gibt und „fair, aber strikt“ auch wirklich ein faires Quid pro Quo bedeutet.
  3. Defizite und ein Mangel an Fortschritten sollten unmissverständlich und öffentlich benannt werden, um auch den Bevölkerungen vor Ort die Möglichkeit zu geben, ihre Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen.
  4. Eine Verbesserung der öffentlichen Kommunikation hinsichtlich der Vorteile der angestoßenen Reformen sowie des Konditionalitätsprinzips kann ebenfalls zu größerer Akzeptanz und Unterstützung in der Bevölkerung führen.
  5. Gleichzeitig darf es keine politisch bedingten Abkürzungen oder Umwege geben, da diese im Widerspruch zum Konditionalitätsprinzip stehen und dieses untergraben.
  6. Konstruktive Ambiguität ist langfristig betrachtet ein Risiko. Stattdessen sollte ein klares Erwartungsmanagement Vorrang haben.
  7. Die ‚Belohnung‘ für erfolgreiche Umsetzung der geforderten Reformen sollte darauf ausgelegt sein, spürbare Resultate für die Bevölkerung zu bringen, um so den Erfolgsdruck auf die Regierungen zu erhöhen. Hierzu scheint ein ressortübergreifender Ansatz geeignet, der Fortschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung noch enger mit einer größeren Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung, Bildung und Ausbildung verknüpft.
  8. Ein technischer Prozess allein reicht nicht aus, er braucht eine klare politische Unterstützung. Ein Ansatz von „Zuckerbrot und Peitsche“ kann nur dann funktionieren, wenn für den tatsächlichen Einsatz von beidem die notwendige politische Unterstützung vorhanden ist.
  9. Die Begleitung von langfristigen Transformationsprozessen erfordert ein ebenso langfristiges Engagement, das auch bei zahlreichen Krisen andernorts nicht nachlassen darf. Andernfalls kann ein gefährliches Vakuum entstehen, wie es derzeit im Westlichen Balkan zu beobachten ist.
  10. Die Bundesregierung sollte daher weiterhin ihre Führungsrolle in der Region wahrnehmen und noch stärker auf eine einheitliche Position der EU-Mitgliedsstaaten in diesen Prozessen hinwirken.
Entwicklungszusammenarbeit Friedensförderung Osteuropa

Valeska Esch

Valeska Esch ist Senior Program Officer beim Aspen Institute Deutschland und leitet dessen Südosteuropa-Programm. Dieser Beitrag stellt die Meinung der Autorin dar und spiegelt nicht notwendigerweise die institutionelle Position des Aspen Institutes wider.