Aus dem "PeaceLab" in die Praxis: Die Leitlinien als Kompass

05. Juli 2017   ·   Sigmar Gabriel

Die PeaceLab-Debatte hat Engagement und Expertise der Zivilgesellschaft eindrucksvoll sichtbar gemacht. Daraus sind wichtige Impulse für die neuen Leitlinien entstanden. Das Ergebnis: Ein klarer Kompass für moderne Friedensdiplomatie und der strategische Rahmen für das Krisenengagement der Bundesregierung. Nun gilt es die Leitlinien in praktische Politik umzusetzen mit der Zivilgesellschaft.

„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Auf diese prägnante Formel brachte einst Willy Brandt eine Grundüberzeugung, die unserem Grundgesetz ebenso zugrunde liegt wie dem europäischen Einigungswerk oder der Charta der Vereinten Nationen. Wie wahr Willy Brandts Satz ist, führt uns ein Blick in die Nachrichten tagtäglich vor Augen: In Syrien tobt nun schon im siebten Jahr ein Bürgerkrieg, der unvorstellbares Leid über die Menschen gebracht und Hunderttausende das Leben gekostet hat. In der Ostukraine gehen die Kämpfe zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und staatlichen Sicherheitskräften weiter. Ein unbarmherziger Gradmesser ist auch die Zahl derjenigen, die vor Gewalt fliehen müssen: Noch nie gab es so viele Flüchtlinge und Vertriebene – 65 Millionen zum Ende des letzten Jahres.

Deutschland und Europa sind von diesen Krisen unmittelbar betroffen: Sie nähren Extremismus und sind Brutstätten für Terrororganisationen wie al-Qaida und den „Islamischen Staat“, deren fanatisierte „Kämpfer“ uns unmittelbar bedrohen. Und auch die humanitären Folgen der Kriege und Krisen lassen sich nicht auf weit entfernte Regionen begrenzen, sondern landen irgendwann buchstäblich vor unserer Haustür. Dies hat die „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 eindrücklich gezeigt. Wo Kriege geführt werden und humanitäre Katastrophen entstehen, darf, ja, kann Deutschland sich daher nicht abwenden.

Das PeaceLab: Eine Erfolgsgeschichte

Aus dieser Erkenntnis heraus hat diese Bundesregierung sich von Beginn der Legislaturperiode an vorgenommen, ihr Engagement zur Verhinderung von Krisen, zur Bewältigung von Konflikten und zur Förderung des Friedens auf eine neue Grundlage zu stellen. Dabei war uns von Anfang an klar: Eine solche Strategie kann nicht in hermetisch abgeschlossenen Amtsstuben entstehen. Wir brauchen dafür die Expertise und das Engagement der Zivilgesellschaft.

Mein Amtsvorgänger Frank-Walter Steinmeier hat daher vor fast einem Jahr an dieser Stelle gefragt: „Tun wir immer das Richtige und tun wir es mit den richtigen Mitteln?“ Sie haben geantwortet. Die Resonanz zum Debattenprozess „PeaceLab2016: Krisenprävention weiter denken!“ aus Zivilgesellschaft und Politik, Wissenschaft und Praxis, war überwältigend. Auf 27 Veranstaltungen mit über 1800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und in weit über 100 Beiträgen auf diesem Blog haben Sie Schwerpunkte gesetzt und inhaltliche Impulse gegeben. Der PeaceLab-Prozess hat die Breite des gesellschaftlichen Engagements und der Expertise zur Friedenspolitik auf eindrucksvolle Weise sichtbar werden lassen. Ihre Beiträge haben uns inspiriert und angespornt.

Fünf der vielen Aspekte aus dem PeaceLab möchte ich hervorheben:

Erstens, Deutschland und Europa müssen mehr Verantwortung übernehmen. Wir müssen früher und effektiver politisch aktiv werden, um zu verhindern, dass Konflikte eskalieren und gewaltsam ausgetragen werden. Und wir müssen besser darin werden, erste Gesprächskanäle zwischen Kriegsparteien zu schaffen und Waffenstillstände zu unterstützen.

Zweitens bedarf es kluger politischer Strategien und realistischer Zielsetzungen. Das ist leichter gesagt als getan. Wir müssen uns den Zielkonflikten in fragilen Staaten und Konfliktkontexten stellen: Weder dürfen wir erwarten, dass über Nacht aus Kriegsgebieten stabile Demokratien entstehen, noch dürfen wir unsere langfristige Vision aufgeben.

Das erfordert drittens, dass wir offen und transparent handeln. Glaubwürdigkeit ist gerade in vom Krieg traumatisierten Gesellschaften ein hohes Gut. Daher sollten wir uns nach den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen vor Ort richten und unser Handeln an wirksamen Qualitätsstandards ausrichten.

Viertens gilt es, geschlossener aufzutreten, ohne dabei unterschiedliche Rollen aufzuheben. Reibungsverluste – sowohl zwischen den Ressorts der Bundesregierung als auch zwischen Gebern vor Ort, zwischen bilateralen Partnern und multilateralen Institutionen und NGOs – müssen wir minimieren, sinnvolle Ansätze klüger miteinander verzahnen. Die Menschen in Krisengebieten interessieren sich nicht für Kompetenzgerangel.

Schließlich, fünftens, müssen wir besser aus unserem Handeln lernen und dieses gemeinsam mit unseren nichtstaatlichen Partnern regelmäßig überprüfen. Denn nur so werden wir unseren eigenen Ansprüchen gerecht.

Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung weiterentwickeln

Wir haben die Impulse aus dem PeaceLab-Prozess innerhalb der Bundesregierung intensiv – und stellenweise durchaus kontrovers – diskutiert. Nicht alle Anregungen konnten wir übernehmen. Doch ich finde, das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die am 14. Juni 2017 beschlossenen Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ sind ein klarer Kompass für eine moderne Friedensdiplomatie. Sie entwerfen den strategischen Rahmen für das zukünftige Engagement der Bundesregierung in Krisen und Konflikten. Sie ergänzen das sicherheitspolitische Weißbuch der Bundesregierung und vervollständigen damit das Fundament deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik.

Die Bundesregierung verpflichtet sich in diesen Leitlinien dazu, die Instrumente des Krisenengagements weiterentwickeln. Dazu zählen Ansätze zur professionellen Friedensmediation und Begleitung von Friedensprozessen. Dazu gehören aber auch Instrumente zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Vergangenheitsbewältigung sowie Beiträge zur Entwicklung verantwortlicher Sicherheitskräfte in Militär und Polizei. Für diese Schwerpunkte gibt es konkrete Fahrpläne.

Auch den zivilen Stabilisierungsansatz, den das Auswärtige Amt in den vergangenen Jahren entwickelt hat, werden wir weiter ausbauen, um in akuten Krisen schnell und flexibel Friedensprozesse zu unterfüttern. Nach einer Waffenruhe müssen schnell und sichtbar Friedensdividenden erfahrbar werden, so dass Vertrauen in politischen Fortschritt außerhalb der Nullsummenlogik der Gewalt wachsen kann. Gleichzeitig müssen wir lokale Akteure dabei unterstützen, Strukturen aufzubauen, die Sicherheit gewährleisten, immer wieder aufs Neue einen politischen Interessenausgleich herbeiführen und staatliche Dienstleistungen wie Infrastruktur, Bildung und Gesundheit erbringen. Nur so kann nachhaltiger Frieden entstehen.

In den Leitlinien bekennen wir uns auch dazu, den ressortgemeinsamen Ansatz und die gesamtgesellschaftliche „Friedensinfrastruktur“ in Deutschland zu stärken. Einen besonderen Schwerpunkt legt die Bundesregierung auf den Ausbau von Analysefähigkeiten, etwa zur Kri-senfrüherkennung und zur besseren Kontext- und Lageanalyse bei der Planung von Maßnahmen an Krisenstandorten. Gemeinsame Analyse und verbesserte Koordinierung sollen das ressortgemeinsame Handeln genauso stärken wie der Aufbau einer Lernplattform und die Ausweitung von Evaluierungsverfahren. Der nichtstaatliche Beirat Zivile Krisenprävention hat nun ein präziseres Mandat. Er wird zukünftig eine zentrale Rolle dabei spielen, die öffentliche Debatte zu Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung zu intensivieren.

Das Leitbild: Grundlage für bessere politische Strategien

Vor allem aber entwirft die Bundesregierung nunmehr erstmals ein Leitbild für ihr Handeln in von Krisen und Konflikten betroffenen Gesellschaften, das unsere Werte und Interessen genauso reflektiert wie die schwierigen Zielkonflikte vor Ort und die Grundsätze unseres Handelns. Damit bereiten wir eine Grundlage für bessere politische Strategien und setzen hohe Qualitätsmaßstäbe für unser Engagement.

Die neuen Leitlinien bauen auf den Erfahrungen des deutschen Engagements seit der Wiedervereinigung auf. Deutschland übernimmt ja bereits weltweit Verantwortung für den Frieden: Mit unserem diplomatischen Engagement, etwa für ein Abkommen zum iranischen Nuklearprogramm oder zur Beilegung der Ukraine-Krise, setzen wir uns beharrlich für friedliche Lösungen zur Bewältigung von Konflikten ein. Mit der Beteiligung an Friedens- und Stabilisierungsmissionen und am Aufbau staatlicher Strukturen stützen wir fragile Friedensprozesse. Als mittlerweile drittgrößter humanitärer Geber leisten wir Menschen in Not solidarisch Hilfe. Wo nötig, verteidigen wir mit Sanktionen die Geltung des Völkerrechts und treten Aggressionen entgegen.

Selbstverständlich gehört zu unserem Engagement für den Frieden die Bereitschaft, im Extremfall auch militärische Mittel einzusetzen, um Gefahren für Frieden und Sicherheit abzuwenden oder Massenverbrechen und Völkermord zu verhindern. Klar ist aber auch: Die Antwort auf die allgegenwärtigen Krisen kann nicht der pauschale Ruf nach mehr Geld für mehr Rüstung sein. Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre haben uns gelehrt, dass im Zentrum unseres Krisenengagements stets eine politische Strategie stehen muss. Denn die tief sitzenden Konflikte in Syrien, der Ukraine, Afghanistan und anderswo lassen sich eben nicht militärisch, sondern nur politisch lösen. In den nun verabschiedeten Leitlinien stellt die Bundesregierung daher das Primat der Politik ins Zentrum ihres Engagements.

Aus dem Labor in die Praxis

Wie geht es nun weiter? Zum einen müssen wir die Leitlinien in praktische Politik umsetzen. Selbstverständlich lassen sich aus ihnen keine konkreten Handlungsanweisungen ableiten, die in jeder künftigen Krise die „richtige“ Politik determinieren würden. Aber sie sind der Kompass, der die Richtung weisen kann.

Zum anderen müssen wir nun die Hausaufgaben machen, die wir uns selbst gegeben haben. Die Leitlinien enthalten einen umfangreichen Katalog von Selbstverpflichtungen, die wir nun abarbeiten wollen: die Erarbeitung einer Strategie zur Unterstützung von Sicherheitssektorreformen (SSR) etwa, die Stärkung von Mechanismen der Krisenfrüherkennung oder auch den Ausbau ressortgemeinsamer Aus- und Fortbildungsformate. Es wird also darum gehen, die Leitlinien zu konkretisieren und für einzelne Handlungsfelder Strategien, Aktionspläne und konkrete Ziele festzulegen.

Am wichtigsten aber ist: Das Primat der Politik darf keine leere Worthülse bleiben. Wenn es richtig ist, dass Konflikte nur politisch gelöst werden können, wenn es richtig ist, dass Projekte der Entwicklungszusammenarbeit allein ebenso wenig wie Militärmissionen ausreichen, um Frieden zu schaffen, dann muss die Stärkung unserer politischen und diplomatischen Fähigkeiten der nächste Schritt sein. Sarah Brockmeier hat in ihrem Blogbeitrag zurecht darauf hingewiesen, dass durch die vielen Krisen unserer Tage die Aufgaben des Auswärtigen Dienstes enorm gewachsen sind – und weiter wachsen werden. Ihnen gerecht zu werden, wird nur möglich sein, wenn wir unsere analytische Kompetenz stärken, unsere Präsenz gerade in Krisenregionen erhalten und so unsere Strategiefähigkeit ausbauen.

Die Leitlinien markieren also keinen Schlusspunkt, sondern einen Aufbruch. An dieser wichtigen Wegmarke danke ich allen, die sich am PeaceLab beteiligt haben, von Herzen. Ich rufe Sie auf: Bleiben Sie mit uns im Austausch! Engagieren Sie sich für gute Friedenspolitik! Denn Frieden ist nicht alles, aber ohne ihn ist alles nichts.