Wie geht Ertüchtigung (nicht)? Erfahrungen aus Mali

02. Mai 2018   ·   Denis Tull

Erfahrungen aus Mali zeigen: Die Bundesregierung muss besser darin werden, plausible Strategien dafür zu entwickeln, was sie mit ihrer Ertüchtigungspolitik in Krisenländern erreichen will. Dabei sollte sie Annahmen immer wieder evaluieren, Maßnahmen anpassen und genügend Personal für die politische Analyse entsenden.


Der Aufbau und die Reform des Sicherheitssektors gehören zu den schwierigsten Elementen bei dem Versuch, Krisen- und Konfliktländer zu stabilisieren. In Mali wie andernorts findet die internationale Gemeinschaft Sicherheitskräfte vor, die Teil des Problems sind. Sie sind ineffektiv in der Begegnung von Sicherheitsbedrohungen und gehorchen keinen rechtsstaatlichen Prinzipien. Korruption und Vetternwirtschaft sind in Regierung sowie militärischen und polizeilichen Hierarchien weit verbreitet. Einfache Soldaten und Polizisten alimentieren sich durch Alltagskorruption und entziehen dem Staat damit Legitimität.

Dieser düster anmutende Ausgangspunkt ist dem Vorhaben der Ertüchtigung immanent. Deutschland hat es hier immer mit problematischen lokalen Partnern zu tun. Länder wie die Schweiz oder Norwegen sind eben nicht anfällig für jene Art von Krisen und Gewaltkonflikten, die externe Unterstützung beim Aufbau und der Reform des Sicherheitssektors erst erforderlich machen.  

Aus dem Fall Mali lassen sich mindestens vier Lehren für das deutsche Engagement in Krisenländern im Bereich des Aufbaus und der Reform des Sicherheitssektors ziehen.  

Mehr Ausbildung bedeutet nicht automatisch effektivere Sicherheitskräfte  

In Mali und anderen Konfliktherden reisen deutsche und internationale Akteure nicht als unschuldige „Ersthelfer“ an. Deutschland ist beispielsweise seit Jahrzehnten mit einer Beratergruppe der Bundeswehr in Mali vor Ort. Auch die USA und Frankreich sind seit den frühen 2000er Jahren mit Trainings- und Ausbildungsprogrammen in Mali und anderen Ländern des Sahel präsent.  

Heute beteiligt sich eine Vielzahl von internationalen Partnern mit rund 70 (!) verschiedenen Projekten an Aufbau und Reform des malischen Sicherheitssektors. Das sollte Anlass für einen Blick in den Rückspiegel geben, denn es stellt sich eine banale, aber wichtige Frage: Was ist in den Jahren vor Ausbruch der Krise 2012 schiefgelaufen, in Mali und im Bereich der sicherheitspolitischen Kooperation? Warum wurde den im Nachhinein offenkundigen Fehlentwicklungen nicht entgegengesteuert?  

Mit dieser Frage müssen sich Ertüchtiger heute genauso auseinandersetzen wie Entwicklungshelfer, die mit ungleich größeren Mitteln hantierten und wieder hantieren. Die Schimäre des demokratischen Vorbildlandes wurde lange aufrechterhalten. Heute kann man ein Paradox beobachten: jener Staat, der mit großzügigen Mitteln bedacht worden war, erhält heute noch mehr Hilfe, um der überwiegend selbstverschuldeten Krise zu entkommen. Auch Deutschland engagiert sich in bisher ungekanntem Maße in dem afrikanischen Krisenland. Das Image Malis als Kollateralschaden der fehlgeleiteten Libyen-Intervention und auswärtiger Jihadisten, aber auch die Vermarktung des angeblichen Drohpotentials in Gestalt von Migranten und Terroristen, die sich auf den Weg nach Europa machen, baut die Regierung gezielt auf.  

Für Ertüchtiger kann es nicht darum gehen, die Politik der Vergangenheit fortzusetzen – mit noch mehr Mitteln. Wirkungsvolle Ertüchtigung braucht zwei Säulen: erstens eine Theorie des Wandels, das heißt kohärente und plausible Annahmen darüber, wie eine Professionalisierung des malischen Sicherheitssektors gelingen kann. Ohne sie gründet Ertüchtigung auf einer Vermutung, die vor allem eine vage Hoffnung ist: dass mehr Ausbildung und Ausrüstung auch effektivere Sicherheitskräfte hervorbringen. Zweitens müssen das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium – die Ministerien, die sich den Haushaltstopf zur Ertüchtigung teilen – erheblich darin investieren, ihre eigenen Vorhaben zu beobachten und zu evaluieren, um Anpassungs- und Lernprozesse zu ermöglichen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass beinahe zwangsläufig auftretende Risiken und Nebenwirkungen (erneut) ignoriert werden.  

Prävention muss im Mittelpunkt einer deutschen SSR-Strategie stehen  

Damit rückt die Prävention in den Mittelpunkt. Sind Krisen und Konflikte erst einmal ausgebrochen, erweisen sich wirksame Maßnahmen als schwierig. In Mali lässt sich das mühelos beobachten. Das Land befindet sich weiterhin in Mitten eines gewaltsamen Konflikts. Rund 70% der malischen Armee befinden sich „im Einsatz“. Damit wird selbst die Durchführung einfacher Trainingsmaßnahmen zugunsten der Militärs, wie sie von der Trainingsmission EUTM Mali angeboten werden, zu einer Herausforderung, von strukturellen Veränderungen ganz zu schweigen.  

Ein französischer Offizier hat es dem Autor gegenüber einmal so formuliert: die malische Armee zu reformieren kommt dem Versuch gleich, den Motor eines fahrenden Autos zu reparieren. Eine Schlussfolgerung daraus lautet, mehr Aufmerksamkeit auf jene Länder zu richten, die einen hohen Bedarf an Krisenprävention aufweisen, aber noch nicht von Gewaltkonflikten erfasst sind, wie etwa bis vor kurzem Kamerun. Das Entwicklungsministerium hat bereits für alle Kooperationsländer einen jährlich aktualisierten Krisenindikatorenindex, der Fragilität und Bedarf nach Krisenprävention zu erfassen versucht. Ein solcher Präventionsmonitor, erstellt von unabhängigen Wissenschaftlern, könnte ein nützliches Instrument für die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik der Regierung sein, um im Sinne der Prävention Krisen zu antizipieren, Fragilitäten zu analysieren und Handlungskorridore frühzeitig zu formulieren.  

Kapazitätsaufbau ohne Reformen erhöht Risiko für Repressionen  

In Mali versuchen internationale Partner wie Deutschland, Sicherheitskräfte zu stärken, um exekutive Handlungsfähigkeiten möglichst rasch aufzubauen. Dieser Kapazitätsaufbau durch Training, Ausstattung und Finanzhilfen neigt jedoch dazu, dringend nötige und ungleich ambitioniertere politische Reformen im Sicherheitssektor auszuklammern. Diese sollen auf grundlegende Veränderungen in Bereichen wie Korruption, Menschenrechtsverletzungen etc. abzielen. In Mali sind Zweifel darüber angebracht, ob die Regierung an solchen Reformen überhaupt interessiert ist. Die Korruption im Beschaffungswesen ist ein Beispiel. Die Regierung sieht Rüstungsausgaben in Höhe von €1,9 Mrd. (2015-2019) vor: in einem Land, in dem in den letzten Jahren kein nennenswerter Korruptionsskandal strafrechtlich verfolgt worden ist.  

Die bloße Stärkung von repressiven Fähigkeiten der Sicherheitskräfte birgt zudem erhebliche Risiken. In Mali verüben die Sicherheitskräfte zahllose Menschenrechtsverletzungen bei der Aufstandsbekämpfung im Zentrum des Landes. Diese Repression löst das Problem nicht. Im Gegenteil beschert sie radikalen gewaltbereiten Gruppen weiteren Zulauf. Diese Entwicklung entspricht den Befunden einer breit angelegten Untersuchung des VN-Entwicklungsprogramms zu Radikalisierungsprozessen in Afrika.

Für die neue SSR-Strategie der Bundesregierung heißt das: In extremen Fällen, in denen keinerlei Aussicht auf politische Reformen besteht, sollte sie auf SSR-Maßnahmen verzichten. In anderen wiederum können trotz beträchtlicher Risiken und Hindernisse begründete Erfolgschancen vorliegen, so wie in Mali. Hier gilt es, immer wieder abzuwägen anhand klarer Kriterien: gibt es vor Ort Prozesse, die Deutschland und Europa befördern können (Ownership, Reformbereitschaft)? Haben die eigenen Maßnahmen auch Erfolgsaussichten? Welcher Schaden (für den Frieden im Empfängerland, politisch für Deutschland) könnte entstehen, falls Ertüchtigungs- und/oder Reformmaßnahmen nicht greifen oder gar instrumentalisiert werden? Um die einen Fälle von den anderen zu unterscheiden, muss die Bundesregierung erheblich mehr in ihre Analysefähigkeiten und die Kontaktpflege vor Ort investieren. Gute Zugänge zu Entscheidungsträgern nicht nur in Ministerien, sondern auch in den Sicherheitskräften sind für die Legitimität externer Hilfe in diesem sensiblen Bereich unabdingbar.  

Kluge Ertüchtigung erfordert mehr Personal vor Ort  

Denn gerade bei der Analyse gibt es erheblichen Mangel. Die deutsche Ertüchtigungsinitiative wird oft als flexibles Instrument bezeichnet, mit dessen Hilfe die Bundesregierung schnell auf Entwicklungen reagieren kann. Die Lehre aus Mali (und Niger) ist aber auch, dass Deutschland vor Ort über unzureichende Personalkapazitäten verfügt, um handlungsfähig zu werden und geeignete Projekte und Partner im Bereich der Ertüchtigung zu identifizieren, Risiken abzuwägen und Chancen zu erkennen. Erst seit Herbst 2017 befindet sich ein deutscher Militärattaché in Bamako. Von der Idee bis zur Umsetzung dieses Schrittes sind ganze drei Jahre vergangen. Einmal abgesehen davon, dass offenbar nicht einmal der größte derzeit laufende Auslandseinsatz der Bundeswehr mit 1.170 Soldatinnen und Soldaten (EUTM Mali und Minusma) diesen Vorgang zu beschleunigen vermochte, gilt es also zu bedenken, dass kluge Ertüchtigung nur möglich ist, wenn vor Ort geeignete Informationen, Analysen und Kontakte zur Verfügung stehen.  

So flexibel das Instrument der Ertüchtigung auch sein mag, und so sinnvoll der Aufbau der breit aufgestellten S-Abteilung im Auswärtigen Amt auch war: es besteht eine Schieflage zwischen den Kapazitäten in Berlin und dem Personal vor Ort. Militärattachés und Diplomaten im Feld sind keine Garantie, aber eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass lokale Kenntnisse und Netzwerke in kluge Ertüchtigungsmaßnahmen münden können. Ohne lokal generiertes Wissen fehlt Berlin der Brückenkopf, der Handlungsfähigkeit erst ermöglicht. Entweder sollte das Botschaftspersonal in potentiellen Krisenländern also aufgestockt werden, oder die Bundesregierung sollte Verfahren und Budgetlinien entwickeln, die auch kurzfristig eine größere Personaldecke in den Auslandsvertretungen potentieller Ertüchtigungsländer ermöglichen.

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Denis Tull

Dr. Denis Tull ist Forscher an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er arbeitet derzeit am Institute for Strategic Research (IRSEM) in Paris.