SSR in Serbien: Das Volk muss Rechenschaft einfordern können

04. Juli 2018   ·   Jelena Pejić

Die Bundesregierung sollte die Wahrung der menschlichen Sicherheit zum Gradmesser für den Erfolg jeder einzelnen SSR-Maßnahme machen. Für einen kontextspezifischen Reformprozess sollte sie außerdem mit lokalen Akteuren zusammenarbeiten und Partnerstaaten dabei helfen, das Vertrauen ihrer Bürger in den Sicherheitssektor wiederherzustellen.

Fast zwei Jahrzehnte nach dem Beginn der Sicherheitssektorreform in Serbien lassen sich deren Erfolge und Defizite klar erkennen, auswerten und wichtige Lektionen für künftige SSR-Programme ziehen. Hierbei sollten internationale Partner den speziellen Kontext bedenken. Im Westbalkan waren die Reformprozesse stark geprägt durch die Aussicht auf einen EU- und/oder NATO-Beitritt. Einerseits lieferte diese Perspektive gute Anreize für vertiefte, konsistente und effektive Reformen. Andererseits wurden diese Reformen oft nur als eine von außen auferlegte Maßnahme missverstanden und die Vorteile für die eigenen Bürger nicht als ein eigenständiges Ziel wahrgenommen. So ist in Serbien die SSR trotz aller Anreize auf halber Strecke stehen geblieben. Jüngst lassen sich sogar Rückschritte erkennen.

Diese Rückschritte sind die Folgen einer mangelhaften und unbeständigen Reformbestrebung. Daran tragen nicht nur, aber auch die internationalen Partner eine Mitverantwortung. Deshalb lohnt es sich zu analysieren, was von Beginn an und zum jetzigen Zeitpunkt besser gemacht werden kann. Diese Lehren sollte auch die Bundesregierung in ihrer neuen Strategie zur Sicherheitssektorreform beachten.

Langfristig, umfassend und inklusiv planen – nachhaltig wirken

In turbulenten Zeiten am Anfang jeder Transformationsphase ist es schwierig, die verschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen und rechtzeitig und umfassend zu planen. Eine durch einen inklusiven Prozess entstandene nationale Sicherheitsstrategie ist ein guter und notwendiger Kompass, der künftige Reformbestrebungen legitimiert. Serbien hat seine Nationale Sicherheitsstrategie jedoch erst im Jahr 2009 beschlossen, fast zehn Jahre nach dem Beginn der Demokratisierung des Landes. Von Technokraten und hinter den verschlossenen Türen des Verteidigungsministeriums geschrieben, hat diese Strategie auf richtungsweisende Entscheidungen hinsichtlich Serbiens militärischer Neutralität oder eines EU-Beitritts verzichtet. Ebenso wenig hat sie versucht, die demokratische und zivile Kontrolle über die Sicherheitsapparate zu stärken. Erst als die Zivilgesellschaft intervenierte, hat die Regierung eine solche Kontrolle in Betracht gezogen. Die serbische Sicherheitsstrategie bietet somit weder eine Vision, noch bildet sie einen sozialen Konsens ab – beide sind jedoch unabdingbar für nachhaltige Reformprozesse.

Zu Beginn jeder SSR sollte eine umfassende Strategie stehen, die nicht nur die Streitkräfte und die Polizei umfasst, sondern sämtliche Sicherheitsakteure. In einem postautoritären Kontext sind die Nachrichtendienste von besonderer Relevanz, in gescheiterten Staaten und Postkonfliktländern spielen zudem die paramilitärischen Organisationen und der private Sicherheitssektor eine wichtige Rolle.

Während herrschende Eliten oft bereit sind, Armee und Polizei zu reformieren, wollen sie die außergesetzliche Kontrolle über andere Sicherheitskräfte behalten. In Serbien wurde der mit den Machthabern eng verbundene private Sicherheitssektor erst sehr spät reguliert. Auch das Gesetz über den einzigen zivilen Nachrichtendienst blieb substantiell schwach, besonders im Vergleich zu den Regelungen der Militärnachrichtendienste. Die Bundesregierung sollte bei ihren SSR-Programmen solche Nischen für unkontrollierte Machtausübung verhindern.

Strikt bei den Prinzipien, flexibel bei den Maßnahmen 

Bruchstückhafte Reformen sind weder einfach noch effektiv. Die SSR-Maßnahmen Deutschlands sollten sich nicht auf einzelne Sicherheitskräfte konzentrieren, sondern einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der auch über den Sicherheitssektor hinausgeht. Um das zu schaffen, ist eine gute Koordinierung mit anderen nationalen oder multilateralen Akteuren notwendig.

Eine klare Formulierung und strikte Einhaltung der Ziele und Prinzipien der Reform müssen somit auch in der deutschen SSR-Strategie Beachtung finden. Laut des PeaceLab-Beitrags der Bundesregierung sollen deutsche SSR-Programme grundsätzlich die Stärkung der menschlichen Sicherheit anstreben. Abstriche bei diesem anspruchsvollen, wertebasierten Grundsatz darf die Bundesregierung aufgrund von kurzfristigen außen- und sicherheitspolitischen Interessen nicht machen. Andernfalls droht der Verlust von Vertrauen auf Seiten der lokalen Akteure und der skeptischen Bevölkerung.

Während es strikter Prinzipien bedarf, können und dürfen die Maßnahmen zur Verwirklichung der spezifischen Reformziele flexibel sein – vorausgesetzt, sie bleiben legal und legitim. Statt einer allgemeingültigen Handlungsweise bedarf es der Anpassung an die jeweiligen lokalpolitischen Kontexte, andernfalls gibt es zwar richtige Maßnahmen, aber mit falschem oder wirkungslosem Inhalt. In Serbien wurde zum Beispiel eine interne Kontrollinstanz in den Sicherheitsorganen eingeführt, die jedoch nicht autonom agieren konnte. Ebenso blieb die Einrichtung parlamentarischer Kontrollausschüsse erfolglos, da die Abgeordneten keine Anweisung für den Umgang mit vertraulichen Daten erhielten.

Menschliche Sicherheit dient als Gradmesser

Die Bundesregierung sollte alle konkreten Maßnahmen daran messen, wie viel sie zum Ziel der menschlichen Sicherheit beitragen. Lokale Funktionsträger schaffen es oft, die Reformmaßnahmen zu ihren Gunsten zu missbrauchen und ihren ursprünglichen Zweck zu unterminieren. So ist in Serbien die Öffnung des Sicherheitssektors für zivile Personen ein Mittel geworden, Posten an parteiloyale Personen zu verteilen, die weder Experten in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind, noch eine demokratische und zivile Kontrolle ausüben wollen oder können.

Die serbische Regierung präsentiert diese Öffnung zwar als Erfolg der SSR, diese hat jedoch negative Konsequenzen für die menschliche Sicherheit und für das Vertrauen der Bürger in den Sicherheitsapparat. Selbst wenn Experten einbezogen sind, neigen Politiker dazu, die Abgrenzung zwischen Befugnissen der Angestellten und politischen Entscheidungsbefugnissen immer mehr zugunsten der Zweiten zu verschieben. Reformprozesse werden dadurch nicht nur missverstanden, sondern auch bewusst missbraucht.

Internationale Partnerländer sehen den Kontext durch ihre eigene Brille, weshalb sie derartige Finessen und Manöver der Machtträger nur schwierig durchschauen. Die Bundesregierung sollte in ihren SSR-Programmen daher unbedingt mit Akteuren vor Ort, besonders mit lokalen Nichtregierungsorganisationen, zusammenarbeiten und sich auf ihre Expertise und Erfahrung verlassen. 

In Serbien hat sich die Zivilgesellschaft dank der Unterstützung von außen stark entwickelt. Durch Trainingsprogramme in den Bereichen Ertüchtigung, Monitoring, Evaluation und Lobbyarbeit hat sie vom Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt bis zur Bewertung von Verteidigungsprojekten umfangreiche Expertise aufgebaut. Mittels Beratungen und öffentlicher Debatten steht der Regierung diese Expertise zur Verfügung, wodurch eine öffentliche Aufsicht der staatlichen Sicherheitspolitik garantiert wird. So ein Prozess kann nur mit längeren Projektlaufzeiten bewerkstelligt werden.

Bürger ermächtigen und in den Mittelpunkt rücken

Zuletzt braucht eine nachhaltige Sicherheitssektorreform nicht nur starke Institutionen und lokale Expertise, sondern auch informierte, rechtsbewusste Bürgerinnen und Bürger. Denn ohne mündige Bürger ist die SSR nicht abgeschlossen und Institutionen und Gesetze bleiben leere Strukturen. Sie üben Aufsicht und Kontrolle über den Sicherheitssektor aus, schauen bei Rechtsverletzungen nicht weg, schweigen nicht bei Angriffen auf unabhängige Aufsichtsbehörden und kämpfen gegen die Vereinnahmung des Staates (state capture). 

Trotzdem richten sich Reformbemühungen zu häufig nur an Stakeholder und kaum an die allgemeine Bevölkerung. Die Kontaktaufnahme mit den Bürgerinnen und Bürgern sollte nicht die Aufgabe internationaler Partner sein, sondern die lokaler, spezialisierter Organisationen, die dafür von internationalen Partnern langfristig unterstützt werden. Zwar laufen diese Organisationen dadurch Gefahr, abwertend als „ausländische Söldner“ gekennzeichnet zu werden, genießen aber dennoch eine größere Glaubwürdigkeit als externe Akteure.

Um die Bevölkerung erfolgreich einzubinden, ist es erstens wichtig, dass sie das Konzept der menschlichen Sicherheit, dem – so die Bundesregierung in ihrem Debattenbeitrag – „die Garantie des Rechts von Individuen auf ein Leben in Freiheit und Würde, frei von Armut, Furcht, Not und Verzweiflung zugrunde liegt“, versteht und als übergeordnetes Ziel der SSR erkennt. 

Zweitens sollten sich die Bürgerinnen und Bürger nicht länger entkoppelt fühlen. Damit das geschieht, muss die Arbeit der Sicherheitsinstitutionen als Dienst an der Bevölkerung ausgerichtet sein und als solcher wahrgenommen werden. 

Drittens muss die Bevölkerung vom Objekt zum Subjekt der Sicherheitsmaßnahmen werden. Statt Angst sollten Sicherheitskräfte Vertrauen ausstrahlen. Besonders in postautoritären Gesellschaften muss den Bürgerinnen und Bürgern gezeigt werden, dass Fragen stellen und Rechenschaft einfordern kein Risiko mehr ist – weder für sie noch für den Staat. 

Einer der ersten Schritte zum Wiederaufbau des Vertrauens im Westbalkan ist eine umfassende Aufarbeitung der repressiven Rolle, die der Sicherheitsapparat während aber auch bereits vor den Balkan-Kriegen gespielt hat. Bis heute kam es in Serbien jedoch weder zur Öffnung der Geheimdossiers noch zur Lustration. Deutsche Erfahrungen mit der Aufarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung können besonders hilfreich sein, um die Region hier voranzubringen.