Keine SSR-Programme ohne Beteiligung marginalisierter Gruppen

07. Mai 2018   ·   Nadine Ansorg

Die Bundesregierung sollte sich mit ihrer neuen SSR-Strategie von ihrer Staatszentriertheit lösen und traditionelle Sicherheits- oder Justizinstitutionen stärker in ihre Maßnahmen einbinden. Voraussetzung für ein deutsches Engagement sollte die Beteiligung von marginalisierten Gruppen an SSR-Programmen sein.

Die Unterstützung demokratischer Reformen im Sicherheitssektor (SSR) gilt nach gewaltsamen Konflikten als eine der wichtigsten Aufgaben auf dem Weg zu langfristigem Frieden. Ziel ist es, Sicherheits- und Justizinstitutionen (wieder) aufzubauen, so dass sie demokratisch legitimiert und für alle Bürger des Staates zugänglich sind. Oftmals werden die Reformen von staatlichen Regierungen gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern durchgeführt. Auch die Bundesregierung ist als bilateraler oder multilateraler Partner an SSR-Programmen in vielen Ländern beteiligt.

Es mag in der Natur der Sache liegen, dass Reformen im Sicherheitssektor oftmals staatszentriert sind und sich nach dem Vorbild eines westlichen Staates richten. Doch gerade in Ländern des Globalen Südens werden lokale und historische Begebenheiten nicht genügend beachtet.

80 Prozent der Weltbevölkerung rufen Sicherheit auf informeller Ebene ab

Besonders in ländlichen Gegenden, zum Beispiel in Sub-Sahara Afrika, nimmt die Bevölkerung staatliche Sicherheitskräfte wie Polizei und Militär oft als korrupt und einseitig wahr. Informelle Strukturen und Sicherheitsakteure auf lokaler Ebene genießen hingegen größeres Vertrauen in der Bevölkerung: Untersuchungen zeigen, dass 80 Prozent der Weltbevölkerung Sicherheit und Justiz hauptsächlich auf informeller Ebene abrufen, besonders in Nachkriegs- und Entwicklungsländern. Diese traditionellen Sicherheits- oder Justizinstitutionen werden oftmals durch lokale Chiefs und Communityleader verkörpert. So zeigt beispielsweise die komplexe Konfliktsituation in der Demokratischen Republik Kongo, wie wichtig die lokale Ebene ist, um Konflikte zu lösen und einen nachhaltigen Frieden zu schaffen.

Die Bundesregierung sollte sich in ihrer neuen SSR-Strategie von der Staatszentriertheit loslösen und mögliche alternative Sicherheitsarrangements auf lokaler Ebene diskutieren. Sie sollte sich fragen, unter welchen Bedingungen sie alternative Sicherheitsakteure anerkennen und als Kooperationspartner zulassen kann. Im Mittelpunkt ihrer Strategie sollten dabei das Wohl lokaler Gemeinschaften und Individuen und ihr Zugang zu Sicherheit stehen. Das heißt, lokale Gegebenheiten anzuerkennen und somit auch traditionelle Sicherheitsdienstleister einzubinden, die jenseits staatlicher Strukturen bestehen. Dies würde es zudem erlauben, den Aspekt der menschlichen Sicherheit stärker in den Reformbemühungen zu beachten.

Probleme traditioneller Institutionen offen thematisieren

Gleichwohl ist es wichtig, der Gefahr einer Partikularisierung, Ökonomisierung oder gar Kriminalisierung von Sicherheit entgegenzuwirken. Für die neue Strategie der Bundesregierung bedeutet das, dass sie den Aufbau eines Netzes von Sicherheitspartnerschaften unterstützen sollte, indem sie gezielt mit lokal anerkannten, informellen Stakeholdern wie etwa lokalen Chiefs oder zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeitet. Die deutsche SSR-Strategie sollte Wert darauf legen, dass lokale Gemeinschaften und Individuen repräsentiert und gehört werden.

Zudem muss sich die Bundesregierung auch mit problematischen Aspekten traditioneller Institutionen auseinandersetzen, wie etwa der Diskriminierung von Frauen und die Exklusion von Minderheiten. Die Erfahrungen meiner jüngsten Feldforschung aus Uganda zeigen, dass traditionelle Chiefs auch offen dafür sind, diese problematischen Aspekte zu hinterfragen und mitunter auch als Initiator eines sanften Wandels in den Gemeinschaften agieren können.

Natürlich kann und soll die Einbindung informeller Sicherheitsstrukturen nicht die Reform von staatlichen Sicherheitsakteuren ersetzen. Vielmehr sollte die Strategie hier zweigleisig fahren: Einerseits sollte sie vorhandene staatliche Strukturen reformieren und ihre Rechtsstaatlichkeit stärken. Andererseits sollte sie traditionelle Institutionen einbinden und somit die Realitäten vor Ort ansprechen. Hierbei ist es wichtig, die betroffene Regierung nicht vor den Kopf zu stoßen und diplomatisch auf eine Einbindung traditioneller Akteure hinzuarbeiten. Deliberative Ansätze der Politikbildung erweisen sich dabei als hilfreich.

Deliberative Ansätze für Reformen im Sicherheitssektor einsetzen

Solche Ansätze binden lokale Akteure und vor allem die Bevölkerung schon dann beratend ein, wenn SSR-Programme entwickelt werden. Konkret bedeutet das, eher eine „sanfte“ Unterstützung solcher Reformen durchzuführen, die gut funktionieren, als zu stark in Begebenheiten vor Ort einzugreifen und eine bestimmte Richtung vorzuschreiben. Bevor die Bundesregierung ein Programm zur Unterstützung des Sicherheitssektors ins Leben ruft, sollte sie sich neben staatlichen Akteuren auch mit lokalen Stakeholdern und der Zivilgesellschaft treffen, um deren Vorstellungen von effektiver und allgemein zugänglicher Sicherheit anzuhören. Mögliche alternative Perspektiven auf Sicherheit sollte die Bundesregierung dann in die Entwicklung der Programme mit einbinden.

Für eine künftige SSR-Strategie der Bundesregierung sind deswegen zwei Punkte von Bedeutung: Erstens, die deutsche Regierung sollte es vermeiden, in anderen Staaten verallgemeinerte SSR-Programme anzuwenden. Erfahrungen in Nachkriegsstaaten weltweit haben gezeigt, dass die Bevölkerung extern vorgegebene Reformen zwar zunächst akzeptiert, diese langfristig jedoch oft nicht unterstützt und diese daher zu kurz greifen, um einen nachhaltigen Frieden zu schaffen.

Beteiligung von marginalisierten Gruppen zur Voraussetzung machen

Dies ist eng verbunden mit dem zweiten Punkt: Die Bundesregierung sollte in ihrer neuen Strategie gezielt darauf achten, alle gesellschaftlichen Gruppen – vor allem marginalisierte Menschen – in den Reformprozess einzubinden. Insbesondere marginalisierte Gruppen leiden darunter, nicht in staatliche Sicherheitsarrangements integriert zu werden. Sie werden vernachlässigt und Opfer von übermäßiger Gewalt oder Benachteiligung seitens der Sicherheitskräfte.

Die Bundesregierung sollte daher die Einbindung marginalisierter Gruppen zu einer „sanften“ Konditionalität ihrer SSR-Programme machen. Dabei sollte sie jedoch darauf achten, eine Balance zwischen der Eigenständigkeit lokaler Akteure und des externen Eingriffs zu halten, um eine zwanghaft beigeführte Reform zu vermeiden.

Lokale Traditionen bieten oft Anknüpfungspunkte hierfür. So gibt es besonders in Ländern in Sub-Sahara Afrika die Tradition, in der Gemeinschaft zusammenzukommen und Probleme gemeinsam zu diskutieren, wie etwa in Form des „Palava Huts“ in Liberia. Zusätzlich könnte die Bundesregierung die Vorteile inklusiver Prozesse aufzeigen, etwa durch Informationsworkshops oder die Unterstützung eines Austauschs zwischen Ländern des Globalen Südens, die ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen, aber eine Demokratisierung von Sicherheit bereits effektiv umgesetzt haben. 

Hinterfragen der eigenen Rolle

Diese Maßnahmen stellen jedoch nur einen Teil einer möglichen SSR-Strategie der Bundesregierung dar. Alle guten Vorsätze und Strategien bleiben nur leere Hülsen, solange die Ideen für SSR und deren Umsetzung in Staaten des Globalen Südens weit auseinanderklaffen. Zwei Punkte sind hier von Bedeutung:

Zunächst muss sich Deutschland auch mit unangenehmen Fragen der eigenen Rolle in Konflikten im Globalen Süden auseinandersetzen. Auch wenn Deutschland sich historisch als Zivilmacht versteht, deren außenpolitischer Fokus auf ziviler Konfliktbearbeitung und Friedensschaffung liegt, so sieht die Realität oft anders aus. Auch die deutsche Regierung unterstützt den internationalen Waffenhandel, und trägt somit zu einer Verschärfung von Konflikten bei. Angriffe der saudischen Luftwaffe auf Jemen, die mit Jets und Raketen aus Deutschland durchgeführt werden, sind nur ein Beispiel hierfür.

Die Bundesregierung sollte sich gezielt mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit ihr Handeln bestehende Konflikte verschärft. Dies würde den Bemühungen einer effektiven Sicherheitssektorreform und Friedensschaffung entgegenlaufen. Möchte die Bundesregierung der Bedeutung von Frieden in der eigenen Agenda gerecht werden, so muss sie hier mehr Verantwortung übernehmen und Interessenkonflikte offenlegen.

Dekolonialisierung von Entwicklungspolitik

Ein weiterer wichtiger Bestandteil der deutschen SSR-Strategie und darüber hinaus sollte die Dekolonialisierung von Entwicklungspolitik sein. Auch wenn die Zeiten des Kolonialismus lange vorüber sind, gibt es dennoch koloniale Ideen, die bis heute das Denken deutscher Politiker bestimmen. Die Annahme von zivilisatorischer Hierarchie, dass also alle Staaten schlussendlich einen ähnlichen Entwicklungsweg wie europäische Staaten nehmen sollten, muss grundlegend hinterfragt werden. Für die neue Strategie der Bundesregierung bedeutet das, dass sie die Möglichkeit alternativer Modelle für Sicherheit diskutieren muss, die sich von unserer Vorstellung von Staat und Gemeinschaft komplett unterscheiden. Sie muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass es neben staatlicher Polizei, Militär und Justiz auch andere legitime, aber informelle Sicherheitsakteure gibt, die größeres Vertrauen in der Bevölkerung genießen. Nur wenn es Deutschland schafft, die eigene Rolle in Konflikten sowie koloniale Grundannahmen zu hinterfragen, kann die Unterstützung von SSR auch langfristig zu Frieden führen und eine Kooperation in der Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe gestalten.