SSR in der Praxis: Was die Erfahrungen der GIZ zeigen

20. August 2018   ·   Dirk Aßmann

Die Bundesregierung kann aus den jahrzehntelangen Erfahrungen der GIZ Schlüsse für moderne SSR-Ansätze ziehen. Zentrale Erkenntnis ist, dass die deutsche SSR-Strategie kontext- und partnerorientiert sein muss. Außerdem sollten deutsche SSR-Programme auf mehreren Ebenen ansetzen, systematische Menschenrechtsanalysen und Evaluationen durchführen sowie eine Exit-Option beinhalten.

Die Bundesregierung hat sich mit den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ anspruchsvolle ressortgemeinsame Ziele für die Unterstützung von Sicherheitssektorreformen (SSR) gesetzt: Sie möchte die menschliche Sicherheit verbessern, indem sie zum Schutz der Bürger das legitime staatliche Gewaltmonopol stärkt. Hierfür muss die Bundesregierung Sicherheit, Frieden und Entwicklung im Sinne der nachhaltigen Entwicklungsziele (insbesondere SDG 16) der UN verknüpfen, wenn sie SSR-Programme in Partnerländern durchführt. Aus ihren jahrzehntelangen Erfahrungen in der internationalen und Entwicklungszusammenarbeit hat die GIZ Gestaltungsprinzipien und Standards entwickelt, die auch besonders für eine SSR-Strategie der Bundesregierung wichtig sind.

Das Design von SSR-Vorhaben muss im jeweiligen Kontext entwickelt werden. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, aber so fundamental, dass sie zu recht ein Pfeiler des Entwicklungs- und SSR-Diskurses ist. Ganzheitliche Projektplanung, die Länder- und Kontextwissen konsequent einbezieht, bestimmt die Ausgestaltung und den Erfolg des deutschen Engagements. Welche Aspekte spielen hier eine Rolle?

SSR-Maßnahmen sind nicht aus dem politischen Kontext zu lösen

Die Unterstützung des Sicherheitssektors muss in einen größeren Zusammenhang von Friedensförderung und Staatsbildung gestellt werden. Die Frage der Wirksamkeit einer Intervention hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie in relevante Friedens- und Staatsbildungsprozesse im Land eingebettet ist. Unsere Erfahrung zeigt, dass dort, wo deutsche SSR-Unterstützung auf Wunsch der jeweiligen Partnerregierung eng an entsprechende übergeordnete Agenden anknüpft, sie von der positiven Reformdynamik profitiert und Raum schafft, auch sensible Themen und kritische Reformbedarfe im SSR-Bereich anzusprechen.

Die thematisch-sektorale Vernetzung ist hierbei ein wichtiger Erfolgsfaktor. Wenn etwa systemische Korruption den öffentlichen Sektor beherrscht, muss eine deutsche SSR-Strategie dies im Blick haben. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Polizeiprogramm Afrika, das die GIZ im Auftrag des Auswärtigen Amtes umsetzt. Die GIZ integriert Antikorruptionsstrategien in SSR-Ansätze und wirkt auf konkrete Verhaltensänderungen bei der Polizei hin. Durch die Standardisierung von Verfahren wie z.B. Personalentscheidungen kann Missbrauch vorgebeugt werden.

SSR-Maßnahmen müssen auf mehreren Ebenen ansetzen

Wichtig für zielorientiertes Vorgehen ist die Frage der Interventionsebene. Wo staatliche Autorität schwach vertreten ist oder in Frage gestellt wird, wie in ländlichen oder Konfliktregionen, sollte die Bundesregierung die unmittelbaren Sicherheitsbedarfe der Bevölkerung priorisieren. Lokal ausgerichtete Maßnahmen wie Community Policing sind wichtige vertrauensbildende Schritte, um – neben strukturellen Reformen auf der nationalstaatlichen Ebene – die Leistungsfähigkeit und Legitimität der staatlichen Sicherheitsakteure zu stärken bzw. wiederherzustellen. Teil der deutschen SSR-Strategie sollte daher ein Mehrebenenansatz sein, der strategisch sequenziert und zielorientiert ist.

SSR benötigt Legitimität, um effektiv zu sein

Menschenrechtsbasierte, gender- und konfliktsensible Ansätze müssen Standard für SSR-Vorhaben sein. Denn der staatliche Sicherheitssektor kann nur dann einen Beitrag zu Frieden, Stabilität und Entwicklung leisten, wenn er von der Bevölkerung als legitim und effektiv in der Herstellung menschlicher Sicherheit wahrgenommen wird. In vielen Ländern werden Sicherheitskräfte jedoch zu repressiven bzw. politischen Zwecken missbraucht. Sie stellen für die Bevölkerung eine Bedrohung dar. Lassen SSR-Maßnahmen die Sicherheitsbedarfe und Schutzrechte ganzer Gruppen außer Acht, hat dies langfristig destabilisierende Wirkungen auf das Staat-Bürger-Verhältnis und fördert Krisen und Konflikte (s. auch UN-WB Pathways for Peace 2018, S. 163). Nur wenn SSR-Programme die Schutzbedürfnisse und -rechte aller Bevölkerungsgruppen ins Zentrum stellen, kann eine dauerhafte und von der Bevölkerung vor Ort getragene Reform des Sicherheitssektors gelingen (Leave-no-one-behind-Prinzip). Die Ausrichtung auf das Prinzip menschlicher Sicherheit und die Verwirklichung der Menschenrechte bietet hierbei Orientierung.

Ein Beispiel hierfür ist die Adressierung der destabilisierenden Wirkung geschlechtsspezifischer Gewalt, insbesondere dort, wo systematische Vergewaltigung als Kriegswaffe eingesetzt wird. Die GIZ legte deshalb bei einer Maßnahme in der Demokratischen Republik Kongo in Kooperation mit UNICEF, der UN- und EU-Polizei einen besonderen Schwerpunkt darauf, Spezialeinheiten zu stärken, die sexuelle Gewalt bekämpfen und verfolgen. Damit wird ein wichtiger Beitrag dazu geleistet, das Vertrauen der Bevölkerung  in den Sicherheitsapparat wiederherzustellen.  

Die Auswahl der einzubeziehenden Akteure vor Ort ist ein weiteres Element der Kontext- und Zielorientierung von Unterstützungsmaßnahmen. Sind Integrität, Transparenz und Rechenschaftspflicht wesentliche Schwachstellen des Sicherheitssektors, sollte die Bundesregierung ein möglichst breites Spektrum an Akteuren einbeziehen. Zivilgesellschaftliche Gruppen und Schlüsselpersonen des öffentlichen Lebens können zwischen Bevölkerung und Sicherheitssektor vermitteln und dabei Bedürfnisse artikulieren und Vertrauen aufbauen.

Systematisches Risikomonitoring und zur Not auch eine Exit-Option

Es ist besonders wichtig, dass die Bundesregierung mögliche negative Wirkungen vermeintlich „gutgemeinter“ SSR-Interventionen systematisch erfasst. Ihre SSR-Strategie sollte daher Weichen für einen systematischen Umgang mit Risiken stellen. Im Sinne des „Do no harm“-Prinzips sind klare Standards für eine kontinuierliche Analyse dieser Risiken entscheidend. Das „Safeguards und Gender Managementsystem“ der GIZ sieht deshalb die Durchführung integrierter Kontext- und Menschenrechtsanalysen vor, damit der Zusammenhang zwischen Konflikt, Fragilität, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen angemessen berücksichtigt werden kann und Maßnahmen im Kontext von menschlicher Sicherheit geplant und umgesetzt werden.

Auch die Kontrollierbarkeit sowie das Monitoring von Risiken sollten Gegenstand der deutschen SSR-Strategie sein. Bestimmte Risiken können durch gezielte Weichenstellungen der Vorhaben mitigiert werden (z.B. durch Transparenz- und Monitoringmechanismen). Wo dies nicht möglich ist, bedarf es eines Dialogs zwischen Auftraggeber, Partnerregierung und Durchführer zu den Grenzen einer Risikoübernahme. Dies gilt zum Beispiel bei der Verwendung polizeilicher oder militärischer Ausstattung in Vorhaben der internationalen Zusammenarbeit.

Es ist offensichtlich, dass das Risiko in der Zusammenarbeit mit Partnern steigt, wenn diese die staatlichen Sicherheitskräfte eher zum eigenen Machterhalt verwenden und weniger für den Schutz der Menschen. Für den Fall einer signifikanten Verschlechterung der Sicherheits- und Risikolage muss die Bundesregierung daher eine Umsteuerung oder Exit-Option von Anfang an mitdenken. Dies erfordert Flexibilität in der Umsetzung und einen engen Austausch zwischen Auftraggeber und Durchführer, um im Bedarfsfall schnell und flexibel umsteuern zu können.

Vernetzung erhöht Wirkung

Die neue SSR-Strategie sollte eine engere Vernetzung einfordern sowie Rahmenbedingungen für koordiniertes Handeln und ressortgemeinsame Ziele schaffen. Insbesondere im Hinblick auf die Komplexität fragiler Partnerländer ist es wichtig, dass deutsche und internationale politische, Entwicklungs- und Sicherheitsakteure enger zusammenarbeiten und sich frühzeitig abstimmen, um so die Wirkung der einzelnen Maßnahmen zu erhöhen.

Einsätze der Bundeswehr und deutscher Polizeiakteure, die parallel zu Entwicklungs- und Stabilisierungsmaßnahmen vor Ort durchgeführt werden, eröffnen Möglichkeiten vernetzter Zusammenarbeit. Dies zeigen unsere Erfahrungen im Rahmen des deutschen Engagements für die Afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur oder im deutschen Biosicherheitsprogramm. Bisher kommt die Umsetzungsperspektive der GIZ dort, wo gemeinsame Abstimmungsprozesse auf Ressortebene stattfinden, allerdings erst mit der Beauftragung zum Tragen, was für eine optimale Umsetzung zu spät sein kann. Eine frühzeitige Einbindung der GIZ in die strategische Planung würde ermöglichen, dass potenzielle Spannungsverhältnisse in der Umsetzung von SSR-Programmen rechtzeitig erkannt und adressiert werden. Ziele, Instrumente und Zeithorizonte in komplexen und häufig fragilen Kontexten können so realistisch geplant und umgesetzt werden.

Auch bei kurzfristigen Maßnahmen langfristig denken und mittelfristig investieren

Abschließend gilt, dass SSR-Vorhaben Teil politisch sensibler Entwicklungen in Partnerländern sind und häufig unter schwierigen Fragilitäts- und Konfliktbedingungen stattfinden. Für Auftraggeber und Durchführer führt dies zu besonderen Herausforderungen und Risiken. Die Bundesregierung darf sie nicht verdrängen, sondern muss sie bewusst angehen. Deshalb sollte sie (1) in kontextorientierte und partizipative Planung; (2) in die Standardisierung menschenrechtsbasierter, gender- und konfliktsensibler Ansätze und (3) in eine noch bessere Vernetzung der deutschen und internationalen Sicherheits- und Entwicklungsakteure im Partnerland investieren. Hierfür sind umfassende Analysen, multidimensionales Projektdesign und die Bearbeitung von Schnittstellen mit anderen Themenfeldern und Akteuren erforderlich. Dies zu tun, erfordert jedoch mehr Zeit, Flexibilität, Kapazität und entsprechende Mittel, insbesondere in der Planung von Vorhaben. Damit diese Investition sich lohnt, ist es wichtig, dass die Bundesregierung sich – auch bei kurzfristigen Projektinterventionen – an mittel- bis langfristigen SSR-Zielen orientiert und eine Anschlussfähigkeit weiterer Maßnahmen ermöglicht.

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Dirk Aßmann

Dr. Dirk Aßmann ist Leiter des Fach- und Methodenbereichs der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH.