Die Krise der Transitional Justice: Eine Chance für die Geschichtsarbeit

29. Oktober 2018   ·   Constantin Goschler

Transitional Justice steckt in einer Krise. Mit dem Ende des „Westens“ ist ihr nicht nur die normative Orientierungsgröße abhandengekommen. Sie sieht sich auch dem Vorwurf ausgesetzt, ein kosmopolitisches Elitenprojekt zu sein. Transitional Justice Akteure müssen ihre Werte deshalb glaubwürdig vertreten und begründen. Außerdem muss Geschichtsarbeit auf der individuellen Ebene ansetzen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Das Feld der Transitional Justice hat sich erheblich verändert, seit es vor nunmehr bald drei Jahrzehnten aufblühte. Am Anfang stand ein Phänomen, das bald als ein unaufhaltsamer globaler Trend beschrieben wurde und seinen Höhepunkt im Ende des Kalten Krieges fand: Auf allen Kontinenten stürzten Diktaturen wie Dominosteine, und die liberale Demokratie schien für einige Zeit auf dem unaufhaltsamen Vormarsch zu sein. Doch der einstige Rückenwind ist umgeschlagen, und so muss sich das mittlerweile institutionell etablierte Konzept der Transitional Justice gegen einen steifen Gegenwind behaupten.

Transitional Justice hat ihre normative Orientierungsgröße verloren

Das Konzept der Transitional Justice beschreibt einerseits einen Prozess, der von der Diktatur zur Demokratie führt, und andererseits zugleich das Instrument, mit dessen Hilfe dies verwirklicht werden soll. Normativ ist beides stark an die Idee des „Westens“ gebunden, wie sie nach 1945 zu einer scheinbar festen Konstante der internationalen Beziehungen wurde. In seiner ursprünglichen Bedeutung zielte das Konzept gewissermaßen darauf, auch Länder außerhalb des „Westens“ in dessen normativen Horizont einzubeziehen. 

Doch spätestens seit dem Kurswechsel der aktuellen US-Regierung herrscht beträchtlicher Katzenjammer über das Ende des „Westens“ wie wir ihn kannten und oftmals auch liebgewonnen hatten. Damit ist dem Konzept der Transitional Justice die normative Orientierungsgröße abhandengekommen, die zugleich auch den Rahmen für gemeinsame historische Erzählungen abgab.

Nationalistische historische Narrative sind Gefahr für Transitional Justice

Es gibt eine zweite Veränderungsdynamik mit erheblicher Relevanz für das Konzept der Transitional Justice, das auf einem kosmopolitischen Verständnis von Politik beruht. Dieses Verständnis zielt darauf ab, historische Konflikte dadurch auszugleichen, dass die Konfliktparteien zu gemeinsamen universalen Normen verpflichtet werden sollen. Ein solches Geschichtsverständnis prägte insbesondere die Integrationsbemühungen der neuen osteuropäischen EU-Mitglieder nach dem Ende des Kalten Krieges.

In vielen europäischen Gesellschaften sind jedoch nationalistische historische Narrative wieder stark auf dem Vormarsch. Dies ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Globalisierung, die einen Gegensatz zwischen ihren Gewinnern und Verlierern aufmacht. Dieser Gegensatz wird vielfach in einen Konflikt zwischen kosmopolitischen Eliten und lokaler Bevölkerung übersetzt. Auch das Konzept der Transitional Justice gerät damit in Gefahr, als ein kosmopolitisches Elitenprojekt wahrgenommen zu werden, das lokale Traditionen und Interessen ignoriere.

Eine neue Opferfigur: der Survivor

Dies geht einher mit dem mutmaßlichen Ende des postheroischen Zeitalters. Damit eng verbunden ist das Ende der zeitweiligen Konjunktur des Opfers, das gleichfalls eine wichtige Voraussetzung des Konzepts der Transitional Justice ist. Hatte zunächst die Figur des Opfers von sinnloser Gewalt diejenige des Opfers für eine größere Sache abgelöst, so hat in der Zwischenzeit eine neue Figur die Bühne betreten: der Survivor. Für diesen ist das Überleben nicht mehr Anlass von Schuldgefühlen, wie wir es etwa von Holocaust-Überlebenden kannten. Vielmehr wird das Überleben an sich nun zum Nachweis einer besonderen Qualität: der Survivor verkörpert den Sieg über die ihn gerichtete Gewalt. 

Transitional Justice lebt von der Spannung zwischen dem Blick auf eine gewaltsame Vergangenheit und eine friedliche Zukunft. Der Survivor ist demgegenüber Ausdruck einer kollektiven Erwartung, dass die Gewalt wiederkehren wird. An die Stelle der Empathie mit den Opfern tritt daher das Gebot der Resilienz, die eng mit der Vulnerabilität von Gesellschaften verbunden ist. Der kollektive Erwartungshorizont scheint sich gewissermaßen verdüstert zu haben, und dies untergräbt den impliziten historischen Optimismus des Konzepts der Transitional Justice. Nicht zufällig hat, so Eckart Conze, „in der internationalen Politik (…) der Begriff ‚Sicherheit‘ den Begriff ‚Frieden‘ im Laufe der letzten Jahrzehnte weitgehend verdrängt.“ 

Eigene Werte glaubwürdig vertreten und begründen

Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich aus dieser Krisendiagnose der Transitional Justice für eine Politik, die Vergangenheitsarbeit als mögliches Mittel betrachtet, um die Folgen gewaltsamer Konflikte zu überwinden und künftige Gewalt zu verhindern?

Erstens sollten wir uns konsequent von der teleologischen Grundierung der Transitional Justice verabschieden. Diese ergibt sich aus der impliziten Erwartung, dass sich das westliche, liberale Modell unaufhaltsam global durchsetzen wird. Das heißt keinesfalls, dass wir uns von unseren Werten verabschieden müssen, sondern dass wir diese selbstbewusst vertreten sollten. Selbstbewusstsein bedeutet aber auch, dass wir uns nicht mehr stillschweigend auf ein Modell des welthistorischen Fortschritts stützen können, wonach die „Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ sei, wie der Georg Friedrich Wilhelm Hegel formulierte und Francis Fukuyama mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion tatsächlich erreicht sah. Wir müssen also nicht nur wissen, wie wir unsere Werte vertreten, sondern auch, wie wir diese innerhalb einer zunehmend selbstbewusst auftretenden Konkurrenz begründen. Das ist keine leichte Aufgabe.

Muss man mit der Teleologie gleichzeitig auch den Universalismus der Menschenrechte aufgeben? Nein, denn auch ein partikularistisches Verständnis erfordert keinesfalls, dass wir selbst nicht mehr an unsere Werte glauben – ganz im Gegenteil. Dennoch wird es in der Konkurrenz zwischen abweichenden lokalen Legitimitätsvorstellungen und eigenen menschenrechtsorientierten Normen gegebenenfalls nicht nur auf Prinzipienfestigkeit, sondern vor allem auf die Glaubwürdigkeit ankommen, mit der wir diese selbst anwenden. 

Das Problem der „NGO Frequent Flyers“

Zweitens sollten wir kritisch damit umgehen, dass Experten im Bereich der Transitional Justice und nicht zuletzt der Geschichtsarbeit zu selbstbezogen sind. Statt sich auf Diskussionen in geschlossenen Kommissionen und Expertenzirkeln zu verlassen, müssen sie konsequent den Austausch mit der Öffentlichkeit der jeweils betroffenen Länder und Regionen suchen. Das ist natürlich bereits versucht worden. Doch dabei kommt es zu dem Phänomen des „NGO Frequent Flyers“, wie es der Politikwissenschaftler Nicolas R. Micinski beschrieben hat: die Entstehung einer Gruppe von immer denselben NGO-Aktivisten, die die lokalen Interessen und Stimmen vertreten sollen, aber tatsächlich oftmals eher den Kern einer neuen kosmopolitischen Elite darstellen. Statt sich also vor allem auf eine sozusagen professionalisierte Gruppe lokaler Akteure zu stützen, müssen Wege gesucht werden, um eine breitere Beteiligung zu erreichen.

Dies hat drittens Auswirkungen auf die konkreten Formen der Vergangenheitsarbeit, die neben retributiver und restaurativer Gerechtigkeit als zunehmend wichtiger Aspekt von Transitional Justice-Bemühungen auftritt. Der Versuch von Experten, im gegenseitigen Austausch historische Narrative zu verhandeln, ist gewiss verdienstvoll. Es ist der Versuch, antagonistische historische Erzählungen und Mythen zu überwinden, um alte Konflikte zu entschärfen und neuen vorzubeugen. Doch leider gelangen diese Verhandlungen oftmals nicht über die Expertenkommunikation hinaus. Die Bundesregierung sollte daher erfolgversprechendere Zugänge ausarbeiten: Sie sollte die lokale Öffentlichkeit konsequent einbeziehen, und zwar nicht nur als ein Publikum, sondern auch als Produzenten historischer Sinnbildung.

Wie die Krise zu einer Chance erwachsen könnte

Die Transitional Justice sollte sich deshalb stärker mit der Public History zusammentun, die sich intensiv mit den Beziehungen zwischen historischen Experten und Laien in der Geschichtskultur beschäftigt. Grundlegend dafür ist die Erkenntnis, dass Geschichtsbilder nicht nur von professionellen Historikern, sondern vielen weiteren Akteuren hergestellt werden. Gemeinsam mit der Public History könnte Transitional Justice praktikable Antworten auf folgende zentrale Frage finden: Wie bearbeitet man antagonistische Geschichtsbilder so, dass Individuen und Gruppen mit belastenden Vergangenheiten zusammenleben können, ohne dass daraus künftige gewaltsame Konflikte entstehen?

Bisherige Erfahrungen deuten darauf hin, dass es sinnvoll ist, auf der Ebene individueller und familiärer Erfahrungen und Erzählungen anzusetzen. Die Bundesregierung sollte also weniger versuchen, neue historische Master Narratives zu schaffen, sondern dort anzusetzen, wo die Geschichte konkret wird. Geschichtsarbeit heißt dann nicht zuletzt, beim Zuhören zu lernen. Ein mögliches Beispiel ist die 2012 gegründete Kosovo Oral History Initiative. Diese reagierte auf den Misserfolg der Bemühungen professioneller Transitional Justice-Akteure und Historiker, im Nachkriegs-Kosovo einen Versöhnungsprozess durch Aufarbeitung der Vergangenheit in Gang zu bringen. Stattdessen setzte diese Initiative darauf, durch Oral History-Interviews mit der lokalen kosovarischen und serbischen Bevölkerung unmittelbar in die komplexe Produktion von Geschichten und Bedeutungen einzugreifen. Wie Anna Di Lellio, eine der Initiatorinnen dieser Initiative, schreibt, „erlaubt dies über das Herausstellen von Schuld hinaus zu gehen und kritische Ergänzungen zu existierenden Narrativen zu liefern.“ Aus der gegenwärtigen Krise der Transitional Justice könnte eine Chance für die Geschichtsarbeit erwachsen.

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in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Osteuropa Transitional Justice

Constantin Goschler

Prof. Dr. Costantin Goschler ist Dekan der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.