Aufarbeitung von sexualisierter Kriegsgewalt: Lehren aus Bosnien und Herzegowina

29. November 2018   ·   Jeannette Böhme

Selten findet die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Bürgerkriegen Eingang in Friedensabkommen. Dadurch werden Überlebende gesellschaftlich stigmatisiert und sind mit ihren Traumata auf sich allein gestellt. Die Bundesregierung sollte dieses Thema zu einem Schwerpunkt ihrer Transitional Justice-Strategie machen und Frauenrechtsorganisationen stärker fördern.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

„Nach all diesen Jahren bin ich so tief enttäuscht von Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit sozialer Institutionen, von Gerichten, an die glaube ich nicht mehr. Das ist für mich keine Gerechtigkeit mehr. Für mich ist das eine Verhöhnung der Opfer. Nichts sonst. Es gibt da keine Gerechtigkeit.“ Larisa (Name geändert)

Larisa wurde während des Krieges in Bosnien und Herzegowina (1992-95) von bosnisch-serbischen Milizionären vergewaltigt. Heute, 25 Jahre nach den Vergewaltigungen, lebt sie in prekären sozialen und ökonomischen Verhältnissen. Gesundheitlich geht es ihr schlecht und sie zeigt Symptome posttraumatischer Belastung. Den meisten Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt ergeht es wie Larisa. Mehr als 70 Prozent der Teilnehmerinnen einer Studie aus dem Jahre 2014 zu den Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen in Bosnien und Herzegowina gaben an, dass die Vergewaltigungen ihr Leben noch immer in hohem Maße beeinflussen.

Opfer sexualisierter Gewalt werden stigmatisiert und ausgegrenzt

Bis zu 50.000 Frauen und Mädchen wurden schätzungsweise während des Krieges in Bosnien und Herzegowina systematisch vergewaltigt. Trotz der internationalen Empörung über die sexualisierte Gewalt hat die Aufarbeitung dieser Verbrechen keinen Eingang in das Friedensabkommen von Dayton gefunden. Entsprechend wurden die Interessen der Überlebenden im Rahmen des Friedensprozesses kaum berücksichtigt und eine ernsthafte Anerkennung des Unrechts hat bis heute nicht stattgefunden. Bosnien und Herzegowina ist hierbei aber nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Überlebende weltweit machen dieselben Erfahrungen. Sie werden gesellschaftlich stigmatisiert und ausgegrenzt. Betroffene Frauen und Mädchen sind mit ihren Traumata oft auf sich allein gestellt und leiden existentielle Not. Aber auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind die Folgen gravierend. Traumata können sich auf die nächste Generation übertragen, so dass sich die Gewaltspirale fortsetzt und Ressourcen für Wiederaufbau und Versöhnung blockiert sind. Doch wie kann die Aufarbeitung sexualisierter Kriegsgewalt gelingen? Welche Bedarfe haben Überlebende?

Aufarbeitung ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung

In ihrem nationalen Aktionsplan „Frauen, Frieden und Sicherheit“ formuliert die Bundesregierung Ansätze zur Bekämpfung sexualisierter Kriegsgewalt. Den Schwerpunkt legt sie dabei auf die strafrechtliche Verfolgung dieser Verbrechen. Maßnahmen für eine gesamtgesellschaftliche Vergangenheitsarbeit fehlen weitestgehend. Dabei würde gerade die soziale Anerkennung dieses Unrechts fernab von Stigmatisierungen wesentlich dazu beitragen, dass die Überlebenden Stabilität wiedererlangen.

Der Umgang mit den Folgen sexualisierter Kriegsgewalt darf daher nicht allein auf individueller Ebene verortet werden – sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die neue Transitional Justice-Strategie der Bundesregierung sollte genau diese Lücke schließen.

Es bedarf vor allem einer traumasensiblen Vorgehensweise

Seit 2006 können Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt in Bosnien und Herzegowina den „Status des zivilen Kriegsopfers“ beantragen. Der Status berechtigt sie zum Bezug einer monatlichen Rente von umgerechnet rund 275 Euro. Außerdem erhalten sie Zugang zu bestimmten Förderprogrammen – wie zum Beispiel medizinischer Versorgung. Bosnien und Herzegowina war das erste Land überhaupt, das ein Entschädigungsgesetz verabschiedet hat und damit Überlebende von Vergewaltigungen als Kriegsopfer anerkennt. Frauenrechtsaktivistinnen haben hart dafür gekämpft. Doch bis heute haben gerade einmal rund 800 Frauen und auch 100 Männer den Status zuerkannt bekommen. Woran liegt das?

Überlebende berichten von erheblichen Schwierigkeiten mit den administrativen Abläufen bei der Antragstellung. Das Prozedere sieht zunächst vor, dass eine qualifizierte Frauenrechtsorganisation den Betroffenen ein entsprechendes Zertifikat ausstellt. Anschließend wird der Antrag von einer staatlichen Kommission in einem langwierigen, intransparenten und komplizierten Verfahren geprüft. Betroffene müssen der Kommission wiederholt ihre „Geschichten“ vortragen. Ihnen wird nicht geglaubt. Sie werden sogar verhöhnt. So finden sich Überlebende abermals in einer Situation von Kontrollverlust und großer Unsicherheit wieder, was sie erneut demütigt und alte Wunden aufreißt. 

Damit Überlebende den Status des zivilen Kriegsopfers als Zeichen der Wertschätzung wahrnehmen können, muss sich in der praktischen Umsetzung einiges ändern. Es bedarf vor allem einer traumasensiblen Vorgehensweise durch die zuständige Kommission. Traumasensibilität ist in erster Linie eine Haltung, die sich auszeichnet durch Empathie und die Bereitschaft, Betroffene zu stärken. Es geht darum für Überlebende Sicherheit herzustellen, ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwert zu stärken und ihnen soziale Verbindungen zu ermöglichen. Eine traumasensible Arbeitsweise des Entscheidungsgremiums würde so dazu führen, dass Überlebende ihre eigenen Ressourcen aktivieren und Kontrolle über ihr Leben sowie Vertrauen in sich und andere wiedererlangen. So könnten Entschädigungsgesetze einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung von Kriegsvergewaltigungen leisten.

Geschlechtergerechtigkeit ist ein Eckpfeiler für Frieden

Die Probleme rund um die Antragstellung sind symptomatisch für den Umgang der bosnischen Gesellschaft mit Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt. Für Betroffene gilt noch immer das Gebot des Schweigens. Brechen sie dieses, werden sie diskriminiert. Die zerstörerischen psychosozialen Dynamiken, die durch die sexualisierte Gewalt ausgelöst wurden, setzen sich auf diese Weise in der patriarchalen bosnischen Nachkriegsgesellschaft fort. Der eklatante Mangel an Gerechtigkeit wirkt dabei in hohem Maße destabilisierend und steht einer Bewältigung des Unrechts diametral entgegen. Nachhaltiger Frieden kann aber nur gelingen, wenn auch diese Überlebenden gleichberechtigt daran beteiligt sind. Ihre Rechte müssen auf politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene endlich durchgesetzt werden. Letztlich geht es um nichts Geringeres als Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen.

Die Umsetzung von Entschädigungsgesetzen muss also durch weitere Maßnahmen flankiert werden. So brauchen Überlebende psychosoziale und rechtliche Beratung sowie medizinische Versorgung. Internationale Partner sollten Wert darauf legen, Familien und Gemeinden in die Aufarbeitung miteinzubeziehen, um neue Gewaltdynamiken zu verhindern. Staatliche Institutionen aus dem Gesundheits-, Justiz-, Sicherheits- und Bildungssektor müssen für die Folgen von sexualisierter Kriegsgewalt sensibilisiert und im traumasensiblen Umgang mit Überlebenden geschult werden. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene tragen außerdem Kampagnen zur Anerkennung des Unrechts bei. Alle diese Maßnahmen sind wichtig, um mit dem Tabu zu brechen, das Stigma zu überwinden und Retraumatisierungen zu vermeiden.

Was sollte die Bundesregierung tun?

Die Bundesregierung sollte Geschlechtergerechtigkeit und die Aufarbeitung von sexualisierter Kriegsgewalt zu einem Schwerpunkt ihrer Transitional Justice-Strategie machen. Die Erfahrungen aus Bosnien und Herzegowina geben hierfür konkrete Ansatzpunkte. So gilt es zunächst einmal, diesem Thema in Friedensabkommen die notwendige Beachtung zu schenken und die Rechte von Überlebenden festzuschreiben. Frauen müssen dabei an allen Phasen von Friedensprozessen gleichberechtigt beteiligt werden –  einschließlich Friedensverhandlungen, Versöhnung und Wiedergutmachung.

Entschädigungsgesetze können wirksame Instrumente sein, um Unrecht anzuerkennen und die ökonomische Existenz Überlebender zu sichern. Nationale Regierungen in Nachkriegsländern stehen in der Verantwortung hierfür ausreichend finanzielle Ressourcen bereitzustellen und diese Gesetze traumasensibel umzusetzen. Die Bundesregierung ihrerseits sollte sich im Rahmen ihrer Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit dafür einsetzen, dass Entschädigungsgesetze erlassen und wirksam umgesetzt werden.

Frauenrechtsorganisationen finanziell und politisch unterstützen

Bis heute stellen vornehmlich unabhängige Frauenrechtsorganisationen ganzheitliche Unterstützung für Überlebende bereit und setzen sich für ihre Rechte ein. Viele MitarbeiterInnen leisten diese häufig belastende Arbeit über Jahrzehnte hinweg und stehen betroffenen Frauen und Mädchen konsequent zur Seite. Für ihren Einsatz werden sie oftmals selbst angefeindet und unter Druck gesetzt. Die Bundesregierung sollte Frauenrechtsorganisationen beim Aufbau ganzheitlicher Unterstützungsangebote und Schutzstrukturen finanziell unterstützen. Sie sollte die Advocacy-Arbeit von FrauenrechtsverteidigerInnen fördern und sich konsequent für deren Schutz einsetzen. 

Die Entwicklung der Strategie zur Vergangenheitsarbeit ist eine ressortübergreifende Aufgabe. Damit diese in der Praxis auch tatsächlich wirkt, müssen die Ministerien sie auch kohärent umsetzen. Hierfür sollte die Bundesregierung ressortübergreifende Mechanismen einrichten. Zwei Maßnahmen sich hierfür wichtig: Erstens sollte die Bundesregierung die Strategie in enger Abstimmung mit der interministeriellen Arbeitsgruppe 1325 sowie der im Themenfeld „Frauen, Frieden und Sicherheit“ aktiven Zivilgesellschaft umsetzen; und zweitens sollte sie angemessene personelle sowie finanzielle Ressourcen bereitstellen. 

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Osteuropa Frauen Transitional Justice

Jeannette Böhme

Jeannette Böhme ist Referentin für Politik und Menschenrechte bei medica mondiale e. V. Die Frauenrechtsorganisation unterstützt Frauen und Mädchen, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben.