Vergangenheitsarbeit und Prävention von Gräueltaten miteinander verknüpfen

14. November 2018   ·   Mô Bleeker

Die Schweiz und Deutschland sollten gemeinsam erarbeiten, wie sich Vergangenheitsarbeit und die Prävention von Gräueltaten am besten ergänzen. Hierbei ist es wichtig, Präventionspotentiale im Rahmen der Vergangenheitsarbeit zu identifizieren, bestehende gesellschaftliche Kapazitäten und Rahmenbedingungen für Gewaltprävention zu stärken sowie sektor- und politikfeldübergreifende Ansätze zu entwickeln.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Als Louis Joinet in den neunziger Jahren seine „Prinzipien gegen die Straflosigkeit“ verfasste, hob er die Rechte der Gesellschaft und der Opfer ebenso hervor wie die Pflichten des Staates auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und die „Sicherheit, dass sich das Geschehene nicht wiederholen wird“. Letzteres wird im Rahmen von Transitional Justice gewöhnlich mit „institutionellen Reformen“ übersetzt.

Das konzeptionelle Verständnis der Schweiz zu Vergangenheitsarbeit beruht auf diesen Prinzipien. Gleichzeitig setzen wir uns für die Prävention von Gräueltaten ein. Dieser doppelte Ansatz des „Vorbeugens und Wiedergutmachens“ bedarf jedoch einer konzeptionellen Weiterentwicklung.

Die Schweiz und Deutschland arbeiten in Kontexten zusammen, in denen sich diese Fragen mit besonderem Nachdruck stellen, wie etwa in Kolumbien, Nepal und den Ländern des westlichen Balkans. Es wäre hilfreich, gemeinsam darüber nachzudenken, wie sich Prävention und Vergangenheitsarbeit ergänzen können und inwiefern dies einer Strategie der menschlichen Sicherheit bzw. den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ der Bundesregierung und der ressortgemeinsamen Strategie zu Vergangenheitsarbeit zugutekäme. Ebenso hilfreich wäre es, unsere Ansätze, die Erfolge und Misserfolge unserer Arbeit sowie vor uns liegende Herausforderungen gemeinsam zu analysieren.

Präventionspotenzial identifizieren – und nutzen

So wie wir auch vor einigen Jahren bei der Formulierung der Nürnberger Deklaration zu Gerechtigkeit und Frieden zusammengearbeitet haben, könnten wir nun Grundlagen und Arbeitsansätze entwickeln. Eine Reihe von Fragen kann dabei als Orientierungshilfe dienen:

  • Inwiefern können verschiedene Initiativen für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sowie strukturelle, rechtliche und institutionelle Reformen zur Prävention von Gräueltaten oder deren Wiederholung beitragen?
  • In welcher Weise trägt dies zur Stabilisierung bei?
  • Welche Aspekte und Ansätze der Vergangenheitsarbeit können langfristig präventiv wirken – und wie findet dies seinen Niederschlag bei der Umsetzung der Leitlinien sowie der Strategie zu Vergangenheitsarbeit?

Zu oft wurde punktuell eine Wahrheitskommission oder ein ad hoc Tribunal eingerichtet, ein Entschädigungsprogramm aufgelegt, oder Sicherheitssektorreformen durchgeführt, ohne dass eine holistische Strategie skizziert worden wäre, in der sich diese Maßnahmen einander ergänzen und verstärken, und ohne, dass man grundlegend über ihre Präventionspotenzial nachgedacht hätte, wie zum Beispiel:

  • Inwieweit sind die Institutionen in der Lage, ihr Mandat sinnvoll auszuüben und alle Bürger*innen zu schützen?
  • Welche Ursachen und Prozesse haben dazu geführt, dass diese Institutionen (in der Vergangenheit) von ihrem Mandat abgekommen sind, und welche wesentlichen Aspekte sind entsprechend zu berücksichtigen, um die Fähigkeit des Staates und der Gesellschaft zur Prävention von Gräueltaten (oder ihrer Wiederholung) auf allen Ebenen dauerhaft zu stärken?
  • Wie sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, vor allem gegenüber Minderheiten, und welche Konsequenzen haben begangenen Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen für das gesellschaftliche Zusammenleben?
  • Welche Kapazitäten für einen konstruktiven Umgang mit Diversität und sozialen Zusammenhalt sind in einer Gesellschaft bereits vorhanden - und können entsprechend gestärkt werden, um Diskriminierung und mögliche Gewalt vorzubeugen?
  • Wie lassen sich Präventionsziele in Vergangenheitsarbeitsstrategien am besten integrieren?
  • Kann die Wirkung von Strategien der Konfliktbearbeitung und Friedensförderung durch eine Kombination von Prävention und Vergangenheitsarbeit in einem ganzheitlichen Ansatz gesteigert werden, und wenn ja, wie? 

Rahmenbedingungen und Kapazitäten für Prävention stärken

Allzu oft stehen bei Strategien der Vergangenheitsarbeit Verletzungen von bürgerlichen und politischen Menschenrechten im Fokus. Ein präventiver Ansatz kann uns helfen, besser die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte in den Blick zu nehmen. So können wir zum Beispiel einerseits ganz konkret die Faktoren identifizieren, bearbeiten und verringern, die zu Rechtsverletzungen oder Massenverbrechen geführt haben, und andererseits die strukturellen, systemischen und kulturellen Aspekte stärken, die zu gewaltfreien Lösungen, Stabilisierung und zu einer nachhaltigen Postkonfliktsituation beitragen.

Ein Beispiel ist die Reform rechtlicher Rahmenbedingungen, insbesondere der Verfassung: Zum Beispiel wirkt heute die Verfassungsreform in Argentinien nach dem Ende der Diktatur als Schutz gegen neue Rechtsverletzungen, etwa gegenüber Migranten*innen. Wie mir kürzlich ein argentinischer Diplomat erklärte, dachte damals niemand an den präventiven Charakter der Verfassungsreform oder ihre positiven Auswirkungen auf die Stabilität. Heute aber gilt sie als Schlüsselfaktor.

Ein anderes Beispiel ist die Prävention oder Bearbeitung kultureller Gewalt, die zur Rationalisierung und Rechtfertigung von Rechtsverletzungen, Massenverbrechen und struktureller Ausgrenzung genutzt wird. Das Schreiben neuer Geschichtsbücher; die Überarbeitung von Lehrplänen; die Schulung öffentlicher Amtsträger in Gleichheitsgrundsätzen und Verhandlung; die systematische Suche nach gewaltlosen Lösungen für komplexe, aus Friedensabkommen entstandene Situationen, etwa durch den Dialog zwischen modernen und traditionellen Rechtssystemen; der Ausbau zivilgesellschaftlicher Friedensgerichtssysteme – all dies ist typisch für den Präventionsansatz, der die Qualität und langfristige Wirkung von Strategien der Vergangenheitsarbeit sowie die Nachhaltigkeit von Friedensprozessen erhöht.

Auf internationaler Ebene kooperieren

Es steht einiges auf dem Spiel. In vielen Kontexten, in denen Gräueltaten verübt wurden, gelingt es kaum, durch Aufarbeitungsstrategien zu Stabilisierung und einen nachhaltigen Frieden beizutragen. Nur eine echte Verbindung von Vergangenheitsarbeit und zukunftsgerichteter Präventionsmaßnahmen kann helfen, diese Lücke zu schließen.

Im internationalen Kontext ist die Schweiz führend an der Etablierung der “Global Action Against Mass Atrocity Crimes“ (GAAMAC) beteiligt. Die Präventionsplattform wurde 2013 von fünf Regierungen und fünf zivilgesellschaftlichen Organisationen gegründet. GAAMAC konzentriert sich auf die Entwicklung nationaler politischer Strategien zur Prävention von Massenverbrechen und hat sich der Idee verschrieben, dass Vergangenheitsarbeit und Prävention komplementär wirken. So heißt es im Gründungsdokument von GAAMAC:

„Massenverbrechen erfordern Zeit, Vorbereitung und Vorsatz. Dadurch ist es möglich, frühzeitig und zu jeder Zeit eine Vielzahl konkreter Präventionsinitiativen zu ergreifen.
Initiativen für Vergangenheitsarbeit und gegen Straflosigkeit, die nach präventiven Gesichtspunkten ausgearbeitet und umgesetzt werden, können eine entscheidende Wirkung entfalten. Letztlich hängt es wesentlich von politischem Willen, Kompetenzen und Budgetzuweisungen ab, ob Versprechungen in die Tat umgesetzt werden. Die Prävention von Massenverbrechen muss Eingang in nationale Agenden und Haushalte finden.“

Die vierte internationale GAAMAC-Konferenz soll 2020 in Europa stattfinden. In Vorbereitung auf diese Veranstaltung könnten die Schweiz und Deutschland gemeinsam das Potenzial eines präventiven Ansatzes der Vergangenheitsarbeit ausloten, um ihn bei dem Treffen gemeinsam vorzustellen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Early Action Atrocity Prevention Partner Transitional Justice

Mô Bleeker

Mô Bleeker ist Sondergesandte des EDA für Vergangenheitsbewältigung und Prävention von Gräueltaten. Sie ist auch Vorsitzende der Global Action Against Mass Atrocities (GAAMAC).