Für pragmatische Ganzheitlichkeit: Geschichte und Erinnerung in der Konflikttransformation

06. November 2018   ·   Andrea Zemskov-Züge, Beatrix Austin

Bundesregierung, Praktiker*innen und Theoretiker*innen sollten bei der Vergangenheitsarbeit über die Joinet-Prinzipien hinausdenken. Sie müssen gesellschaftliche und politische Narrative kritisch hinterfragen sowie Empathie und Dialogfähigkeit in Konfliktgesellschaften mindestens ebenso stärken wie Gerechtigkeit. Internationaler Austausch, Forschung und gemeinsame Reflexion spielen eine zentrale Rolle.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Dieser Blogbeitrag nimmt seinen Ausgangspunkt in einem professionellen Unbehagen, das sich in unserer wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzung mit Ansätzen von Dealing with the Past und Transitional Justice gründet. Die Joinet-Prinzipien konzentrieren sich auf die juristische Seite der Aufarbeitung. Dieser Fokus hat jedoch unserer Meinung nach dazu geführt, dass Akteur*innen der Vergangenheitsarbeit und Konflikttransformation normative Begrifflichkeiten verwenden, die manchmal kontraproduktiv sind und sich auf die unmittelbare Konfliktvergangenheit beschränken. So bleiben wesentliche friedensbildende Potentiale ungenutzt. Wir plädieren deshalb für einen Paradigmenwechsel, für einen ganzheitlicheren Zugang zu Geschichte und Erinnerung in der Konflikttransformation.

Vergangenheitsaufarbeitung auf Erfahrung statt auf normativen Begriffen aufbauen

Im Dialog zwischen Konfliktparteien trübt sich der Begriff der Gerechtigkeit schnell ein und beginnt unscharf zu werden. Der Geschichtsdialogprozess der Berghof Foundation zwischen Überlebenden des Georgisch-Abchasischen Krieges machte deutlich, dass das Unrecht, das beide Seiten erfahren haben, und die Maßnahmen, die dagegen unternommen werden, miteinander verknüpft sind und gleichzeitig einander entgegenlaufen.

Zu den Dialogworkshops in Georgien kamen Menschen, die noch die Haustürschlüssel der Häuser mit sich trugen, die sie bei der Flucht aus Abchasien zwanzig Jahre zuvor hatten verlassen müssen. Ihre Regierung hatte ihnen versprochen, dass sie eines Tages in ihre Häuser zurückkehren könnten. Manche von ihnen hatten gekämpft, andere hatten ihr Zuhause kampflos verlassen. 

Einige Teilnehmer*innen leben in Abchasien bis heute in Übergangswohnungen, weil sie nicht in Häuser der Vertriebenen ziehen wollen. Andere leben in georgischen Häusern und betrachten diese als fairen Ausgleich für ihr Eigentum, das während des Krieges vernichtet worden war.

Es war die Aufgabe der Dialog-Fazilitator*innen, beiden Seiten zuzuhören und die existierende Ungerechtigkeit gemeinsam mit den Teilnehmenden zu ertragen. Der Dialog war erfolgreich, wenn die Teilnehmenden es schafften, Schmerz und Ungerechtigkeiten der anderen Seite wahrzunehmen und sich darüber auszutauschen, ohne ihr eigenes Leid kleinzureden oder zu verdrängen. Das Recht und die Pflicht beider Seiten zu wissen, was geschehen ist, spielte in diesem Austausch eine wichtige Rolle.

„Gerechtigkeit“ herzustellen scheint in diesem konkreten Fall jedoch ein unerreichbares Ziel zu sein: Mit über 200.000 georgischen Binnenvertriebenen und einer abchasischen Bevölkerung von ca. 200.000 wird auf absehbare Zeit keine Gerechtigkeit für beide Seiten hergestellt werden können. Als zentrale Kategorie der Konfliktbearbeitung weckt aber der Gerechtigkeitsbegriff bei den Betroffenen hohe Erwartungen, die in der unmittelbaren Arbeit jedoch enttäuscht werden müssen. Daher darf das Vertrauen darin, dass sich das Geschehene nicht wiederholt, keinesfalls davon abhängig gemacht werden, dass Gerechtigkeit hergestellt wird. Dieses Vertrauen muss im direkten Gespräch der Überlebenden entstehen, das zu einer Verbesserung der Beziehungen und Erweiterung der Perspektiven Einzelner führt. Für die Konflikttransformation und erfolgreiche Vergangenheitsarbeit ist es notwendig, dass Überlebende von der Absolutheit der eigenen Wahrheit zurücktreten und Elemente der Wahrheit des Anderen in ihr Weltbild integrieren.

Verschiedene Perspektiven zulassen, historische Narrative mitdenken

Der israelische Forscher Daniel Bar-Tal hat herausgearbeitet, wie in Konflikten “conflict supporting narratives” entstehen, die später zum Hindernis in Friedensprozessen werden. Diese Narrative beziehen sich nicht ausschließlich auf den gegenwärtigen Konflikt, in ihnen spielen immer auch historische Narrative eine Rolle. Bei den Konflikten im postsowjetischen Raum sind das beispielsweise Heldennarrative, die durch den sowjetischen Mythos vom „Großen Vaterländischen Krieg“ tief im Bewusstsein auch heutiger Generationen verwurzelt sind. Im Bergkarabach-Konflikt ist der Genozid an den Armeniern und wie dieser durch die Konfliktparteien behandelt bzw. ignoriert wird von wichtiger Bedeutung. 

Solche (historischen) Narrative wirken unabhängig davon, auf welcher Seite mobilisiert wird. In ihnen manifestieren sich häufig nicht überwundene Großgruppentraumata, die nach Vamik Volkan dazu führen können, dass die Konfliktparteien einen „Zeitkollaps“ erleben. Das bedeutet, dass die Gegenwart mit einer vergangenen traumatischen Situation gleichgesetzt wird. In den Erzählungen von Veteranen lassen sich solche Narrative als wichtiger Mobilisierungsfaktor identifizieren. Während sie bei der Aufarbeitung von Gewalt eine entscheidende Rolle spielen, werden sie bei der Gewaltprävention und der Steigerung von Gewaltresilienz in Vor-Konfliktsituationen oder der unmittelbaren Konflikteskalation bisher kaum berücksichtigt. Akteur*innen könnten jedoch durch die Reflexion solcher Mobilisierungsfaktoren dazu motiviert werden, sich vom Gewaltgeschehen zu distanzieren.

Die Bundesregierung – zusammen mit Praktiker*innen und Theoretiker*innen – sollte anstelle von Transitional Justice und Dealing with the Past ein größeres Arbeitsfeld denken, in dem Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungsthemen auf verschiedenen Wirkungsebenen und in verschiedenen Eskalationsphasen betrachtet werden. Die Bundesregierung sollte Initiativen mit einem solchen erweiterten Verständnis fördern. Die weitverbreitete Konzentration auf die unmittelbare, gewaltbelastete Vergangenheit bildet nur einen schmalen Ausschnitt der konfliktrelevanten Themen ab. Sie birgt das Risiko, den breiteren Blick auf historische Ereignisse und Diskurse zu verstellen. Konfliktanalysen sollten deshalb historische Diskurse und ihre Instrumentalisierung durch verschiedene Akteur*innen einbeziehen. Hoffnungsgebende Beispiele gegenseitiger Unterstützung über Konfliktlinien hinweg sowie schwere Erinnerungen an Gewalt und Krieg bilden für Deeskalation und konstruktive Konfliktbearbeitung wichtige Anknüpfungspunkte.

Insgesamt sollten Akteur*innen der Zivilgesellschaft sowie Regierungen die bewusste multiperspektivische Interpretation von Ereignissen (wie des „Großen Vaterländischen Krieges“ oder des Genozids an den Armeniern) als gesellschaftlich breit angelegte Entscheidung verstehen. Eine solche Herangehensweise hat das Potential, friedensfördernde Sichtweisen bewusst zu stärken und den Einfluss konfliktfördernder Sichtweisen zu mindern.

Internationalen Best-Practice-Austausch fördern

Initiativen, die sich vor Ort mit der Aufarbeitung vergangener Gewalt beschäftigen, entstehen zumeist aus einer unmittelbaren Notwendigkeit heraus: Kriegsveteranen haben Schwierigkeiten, in einer friedlichen Nachkriegsordnung ihren Platz zu finden; Opfer und Täter sind gezwungen zusammenzuleben und brauchen einen Austausch über vergangene Gewalt, um neues Vertrauen zu fassen; die gesellschaftliche Akzeptanz „alter“ Narrative fördert neuen Nationalismus und ermöglicht die Mobilisierung zu neuer Gewalt. Zumeist versuchen lokale Initiativen, auf diese und ähnliche Probleme maßgeschneiderte Lösungen zu finden und erfinden dabei nicht selten das Rad neu. Praktiker*innen von außen, die sie dabei unterstützen, sind häufig damit ausgelastet, den Kontext zu verstehen und angemessen auf ihn zu reagieren. Sie haben wenig Zeit, Wissen aus anderen Kontexten einzubeziehen. Erfahrungsberichte und Projektpublikationen sind zumeist auf ihren Konfliktkontext beschränkt, sodass ihre mögliche Nutzbarkeit für andere Kontexte verborgen bleibt. Demgegenüber stehen akademische Publikationen, deren Autor*innen es an der praktischen Erfahrung im Feld mangelt. 

Die Beispiele zeigen, dass es durchaus allgemeingültige Prozesse gibt, die in unterschiedlichen Konfliktlagen ähnlich ablaufen. Innerhalb dieser Abläufe gibt es zwar kulturelle Spezifika, die bei der Umsetzung von Projekten berücksichtigt werden müssen. Dennoch können Methoden entwickelt werden, die leicht abgewandelt in unterschiedlichen Kulturen Anwendung finden können. In der Praxis vor Ort und in der vergleichenden Forschung lohnt es sich, nach strukturellen Merkmalen zu suchen. Praktiker*innen und Forschende sollten übergreifende Fragen stellen, wie: „Welche Eigenschaften müssen friedensfördernde Narrative haben?“ „Wie kann die Existenz und der Einfluss von Narrativen auf das Konfliktgeschehen an eine akademisch nicht gebildete Zielgruppe vermittelt werden?“ „Wie können Angebote psychologischer Nachsorge in bestehende gesellschaftliche und soziale Strukturen eingebettet werden, ohne dass ihre Wirksamkeit beeinträchtigt wird?“ 

Antworten auf solche Fragen finden sich in der Praxis der Akteur*innen vor Ort. Die haben jedoch selten Zeit, sie zu reflektieren und zusammenzufassen, um sie allgemein zugänglich zu machen. Durch den Druck der Finanzierung werden Probleme in der Arbeit oft verschwiegen, obwohl gerade diese ein gutes Feld zum Lernen bieten. Die akademische Zunft sollte Praktiker*innen vor Ort darin unterstützen, in ihrer Arbeit sowohl kulturspezifische Besonderheiten als auch allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren und zu teilen, um die Arbeit zu professionalisieren und internationale Standards auszubilden. Die Bundesregierung sollte solche vergleichenden Projektansätze sowie Kooperationen zwischen Forschenden und Praktiker*innen fördern, um allgemeine Strukturprinzipien aufzuzeigen.

Arbeitsfelder klarer trennen und umfassender definieren

Die Arbeit mit Geschichte und Erinnerung in der Konflikttransformation steckt noch in den Kinderschuhen. Ihre bisherige Angliederung an Regeln und Begriffe der Strafverfolgung hat einerseits ihre Bedeutung erst sichtbar gemacht, andererseits jedoch dazu geführt, wichtige Potentiale zu blockieren. Wir sehen drei Bereiche der Konflikttransformation, in der diese Arbeit eine zentrale Rolle spielt: juristische Aufarbeitung, gesellschaftliche Aufarbeitung (inklusive sozialer und psychologischer Prozesse) und die Gewaltprävention. 

Es ist notwendig, die juristische von der sozialen und psychologischen Aufarbeitung klar zu trennen. Die Bundesregierung sollte bei der Förderung von Projekten und bei der Entwicklung ihrer Strategien und Politikfelder auf diese Trennung achten. Gewaltprävention kann als drittes, gesondertes Feld hinzugenommen werden, wenn sie auf den Erfahrungen mit der Aufarbeitung vergangenen Unrechts basiert. 

Während für das juristische Feld die Joinet-Prinzipien bestehen bleiben, müssen die Maximen der Vergangenheitsaufarbeitung und Gewaltprävention erst klar formuliert und getestet werden. Sie könnten lauten: 

  • Kritische Selbstreflexion;
  • Wahrnehmung und Anerkennung des Leidens der eigenen und anderen Seite;
  • Multiperspektivität statt normativer Begriffe und
  • Kritische Analyse herrschender Diskurse.

Inwieweit sie im Gegensatz zur juristischen Aufarbeitung stehen oder diese ergänzen, muss sich zeigen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung

Friedensförderung Zivilgesellschaft Friedensforschung Transitional Justice

Andrea Zemskov-Züge

Dr. Andrea Zemskov-Züge ist Historikerin und arbeitet derzeit als unabhängige Beraterin, Trainerin und Fazilitatorin im Bereich Dealing with the Past und Gewaltprävention. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Dialogmethoden und Unterstützung von Prozessen der Vergangenheitsarbeit.

Beatrix Austin

Beatrix Austin ist Senior Coordinator bei der Berghof Foundation und Mitherausgeberin des Berghof Handbook for Conflict Transformation. Ihr derzeitiges Hauptforschungsinteresse kreist um Fragen von Vergangenheitsarbeit, Konflikttransformation und Opferdynamiken in Nachkriegsgesellschaften.