Umbruch in Algerien: Deutschland muss aktiv werden

24. September 2019   ·   Rachid Ouaissa

In Algerien ringen Protestbewegung und Militärführung um die Zukunft des Landes. Dabei hält sich die internationale Gemeinschaft – Deutschland innbegriffen – bisher stark zurück. Dies ist ein Fehler: Die Bundesregierung sollte sich mit der Forderung nach einer demokratischen Verfassung solidarisieren, bevor es zu einer Eskalation von Gewalt kommt.

Mehrere Millionen Menschen aller sozialen Schichten und Altersgruppen Algeriens protestieren seit dem 22. Februar 2019 gegen das algerische Regime, das seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1962 an der Macht ist. Die Proteste begannen in Fußballstadien, breiteten sich von dort rasch auf urbane Zentren aus und erreichten schließlich alle 48 Regierungsbezirke des Landes, sowie die Diaspora, unter anderem in Frankreich, Belgien und den USA.

Auch nach Bouteflikas Rücktritt halten die Proteste an

Die Mobilisierung erfolgt bislang spontan und ohne hierarchische Struktur. Die "Hirak", wie die Algerier die Protestbewegung nennen, ist eine Massenbewegung, die parteipolitische Strukturen und regionale Zugehörigkeiten überwindet. Drei Gruppen dominieren hierbei die Hirak, was sie von anderen Protestbewegungen seit 1962 unterscheidet: Jugendliche, Frauen und Vertreter der Mittelschicht.

Richteten sich die Demonstranten zu Beginn noch vor allem gegen eine erneute Kandidatur des schwerkranken Langzeitpräsidenten Abdelaziz Bouteflika für eine fünfte Amtszeit, werden inzwischen Forderungen nach einer Absetzung des gesamten Regimes und der Etablierung eines Rechtsstaats laut. Auch der Rückzug des Militärs aus der Politik gehört zu den Forderungen der Protestbewegung. Das Regime antwortet mit massiver Polizeigewalt und Festnahmen von Demonstrierenden. Zahlreiche jugendliche Demonstrationsteilnehmer, bekannte Veteranen des Befreiungskriegs, Vertreter politischer Parteien wurden verhaftet.

Unter dem Druck der Straße trat Abdelaziz Bouteflika am 2. April 2019 noch vor Ablauf seiner vierten Amtszeit vom Amt des Staatspräsidenten zurück. Nach Artikel 102 der algerischen Verfassung ist seither der Präsident des Rates der Nation (Oberhaus des Parlaments), Abdelkader Bensalah, vorläufiges Staatsoberhaupt. Diese Übergangszeit ist eigentlich auf maximal 90 Tage begrenzt, doch die für den 4. Juli angesetzte Wahl wurde verschoben. Der Interimspräsident kündigte kürzlich Präsidentschaftswahlen für den 12. Dezember 2019 an.

Tauziehen zwischen Opposition und Militär

Zur Lösung der politischen Krise finden in Algerien seit einigen Monaten vom Regime organisierte politische Diskussionsforen und Dialogveranstaltungen statt. Bei diesen treten zwei Meinungspole in den Vordergrund: Auf der einen Seite stehen Teile der politischen Elite, die im Sinne der Protestbewegung einen klaren Bruch mit dem Regime fordern. Diese Parteien, Verbände und Gewerkschaften fordern eine Übergangszeit mit einem vom Regime unabhängigen souveränen Verfassungsprozess oder der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Das Ziel ist dabei die Gründung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats.

Auf der anderen Seite stehen Akteure, die für eine schnelle Durchführung der Präsidentschaftswahlen plädieren, eine Übergangsphase mit einer verfassungsgebenden Versammlung ablehnen und sich damit für eine Kontinuität des Regimes einsetzen. Zu den prominentesten Vertretern dieser Seite zählt der Armeechef General Ahmed Gaïd Salah. Seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 entschied das Militär als Rückgrat des Regimes über die Einsetzung und Entlassung aller algerischen Präsidenten, so auch im Falle der Absetzung Bouteflikas. Gemäß dieser Tradition möchte die Armeeführung auch in der aktuellen Krise die Oberhand über die Entwicklungen beibehalten und radikale Reformen bzw. einen demokratischen Transitionsprozess verhindern – im ureigenen Interesse.  

Der Haushalt des Verteidigungsministeriums hat seit dem Amtsantritt von Bouteflika astronomische Steigerungen erfahren: Zwischen 2000 und 2019 ist das Militärbudget des Landes um 320 Prozent auf 12 Milliarden US-Dollar angestiegen, was rund ein Viertel des gesamten Staatshaushalts ausmacht. Der Rangliste des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) 2019 zufolge steht Algerien auf Platz 25 der internationalen Militärmächten mit den höchsten Militärausgaben, innerhalb Afrikas sogar an erster Stelle.

Die internationale Gemeinschaft hält sich bedeckt

Weltweit haben bislang lediglich wenige Staaten ihre Solidarität mit dem algerischen Volk bekundet. Während Kanada und die Vereinigten Staaten sich dabei in ihren Erklärungen darauf beschränkt haben, ihre Unterstützung für eine friedliche Revolution zu formulieren, hat Belgien seine Position deutlicher zum Ausdruck gebracht. So erklärte der belgische Botschafter in Algier, Pierre Gillon, anlässlich des belgischen Nationalfeiertags: "Belgien unterstützt eine Transformation Algeriens, die den demokratischen Bestrebungen seiner Bevölkerung entspricht. Es wünscht und hofft, dass Algerien dies für das Glück und den Wohlstand seiner Bürger gelingt."

Frankreich, das einflussreichste Land in Algerien, hält sich bislang zurück. Der französische Premierminister Edouard Philippe äußerte sich am 6. März 2019 wie folgt: „Uns sind die Entwicklung in Algerien nicht gleichgültig, aber wir wollen uns nicht einmischen“.

Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien haben sich hingegen gegen die Etablierung eines demokratischen Systems in Algerien ausgesprochen. Demokratie, so die offizielle Meinung der beiden Staaten, berge die Gefahr von Chaos. Von Deutschland kam bislang keine offizielle Reaktion.

Waffenexporte und ein Mangel an regionaler Expertise halten die Bundesregierung zurück

Dabei ist nicht nur das Schweigen der Bundesregierung überraschend, sondern auch das geringe Medienecho sowie die europaweit zurückhaltende zivilgesellschaftliche Reaktion. Die deutsche Politik positioniert sich auffällig reserviert gegenüber einer Protestbewegung, in der Millionen von Algerierinnen und Algeriern seit nun sieben Monaten für einen friedlichen und demokratischen Wandel plädieren.

Diese beinahe wie ein Boykott anmutende Haltung könnte mehrere Ursachen haben. Zum einen scheinen die negativen Erinnerungen an die Folgen des „Arabischen Frühlings“ bei vielen deutschen Akteure noch stark präsent zu sein und ihre Politik gegenüber der Region zu bestimmen. Zum anderen könnte möglicherweise auch die Bestrebung der Bundesregierung eine Rolle spielen, Algerien als ein sicheres Herkunftsland einzustufen, was im Kontrast zu den aktuellen Entwicklungen steht. Und nicht zuletzt liegt die Vermutung nahe, dass die Interessen der deutschen Rüstungsindustrie eine Rolle spielen: Mit einem Kaufvolumen von durchschnittlich einer Milliarde Euro ist Algerien ist bereits seit Jahren der wichtigste Abnehmer deutscher Waffen – noch vor Ägypten und Saudi Arabien. Dies macht das algerische Militär zu einem wichtigen Handelspartner für Deutschland.

Hinzu kommt ein Mangel an Expertise und die Tatsache, dass die Maghreb-Forschung in Deutschland de facto nicht existiert, was eine solide journalistische und politische Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Algerien erschwert. Deutsche Universitäten und Forschungseinrichtungen sollten der Maghreb-Forschung größere Beachtung schenken und diese stärker fördern. Sonst kommt es dazu, dass die deutsche Außenpolitik – wie in vielen Fällen, wenn es um ihre Mittelmeer- und Nordafrikapolitik geht – auf Signale aus Paris wartet. Da von dieser Seite aber Zurückhaltung gegenüber den Protesten in Algerien geübt wird, ergreift auch die Bundesregierung keinerlei Initiative.

Deutschland sollte sich mit der Protestbewegung solidarisieren

Doch als ein demokratischer Staat, der sich den internationalen Einsatz für Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte auf die Agenda gesetzt hat, muss Deutschland eine klare Position beziehen, die den Freiheitswunsch des algerischen Volkes respektiert und fördert. Es ist auch im deutschen Interesse, dafür zu sorgen, dass die Lage in Algerien nicht eskaliert, weil sonst sehr bald die nächste Flüchtlingswelle auf den europäischen Kontinent zurollen wird. Konkret sollte die Bundesregierung nach dem Vorbild der Schweiz die Konten des Bouteflika-Clans, der trotz Rücktritt des Präsidenten noch einflussreich ist, einfrieren und die deutschen Waffenexporte an das Regime aussetzen. Auf diplomatischer Ebene sollte sie sich für einen demokratischen Übergang inklusive einer verfassungsgebenden Versammlung und eine friedliche Machtübergabe an eine zivile und demokratisch legitimierte Regierung einsetzen.

Nicht zuletzt ist es Deutschlands Aufgabe, auf europäischer Ebene auf eine gemeinsame Position der EU zur Unterstützung der Demokratiebewegung des algerischen Volkes hinzuarbeiten. Dazu sollte es seine Position innerhalb der  Europäischen Union nutzen. Das algerische Volk ist entschieden, einen Bruch mit dem alten Regime herbeizuführen, was das Militär nicht akzeptiert. Damit ist eine Gewaltanwendung durch Einsatz des Militärs nicht mehr ausgeschlossen. In seiner Rede vom 18. September kündigte der Generalstab an, Demonstrationen in der Hauptstadt zu verbieten. Zurecht weisen Isabelle Werenfels und Luca Miehe auf dem PeaceLab-Blog darauf hin, dass eine direkte ausländische Einmischung sowohl von der Regierung als auch vom algerischen Volk unerwünscht ist. Dennoch gilt: Eine Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen sowie sanfter diplomatischer Druck durch Deutschland und die Europäischen Union können helfen, eine Eskalation des Konflikts zwischen der Armeeführung und dem Volk zu vermeiden.

Naher Osten & Nordafrika Frieden & Sicherheit Algerien

Rachid Ouaissa

Rachid Ouaissa ist Professor für Politik des Nahen und Mittleren Osten am Centrum für Nah- und Mittelost Studien (CNMS) an der Universität Marburg.