Gefragt in der COVID-19-Welt: Europäische Führung

27. April 2020   ·   ​Tobias Bunde, Ferdinando Nelli Feroci, ​Boris Ruge, ​Nathalie Tocci

Italien und Deutschland sollten sich für eine EU-Reaktion auf COVID-19 einsetzen, die über Europa hinausgeht. Die EU sollte dabei die Krisen in ihrer Nachbarschaft im Blick haben, multilaterale Institutionen stärken und im nächsten Finanzrahmen die notwendige Solidarität auch außerhalb Europas reflektieren. Auf dem Spiel stehen die Grundprinzipien der Europäischen Union.

Das europäische Projekt ist aus der Asche zweier Weltkriege entstanden. Die andauernde COVID-19-Krise, die verheerendste Pandemie, die die Menschheit im letzten Jahrhundert heimgesucht hat, könnte diesem Projekt nun zum Verhängnis werden. Oder kann sie der Katalysator für den Aufbau einer stärkeren Europäischen Union der Zukunft sein? Darüber werden die kommenden Monate und Jahre entscheiden. 

Die EU ist eines der Epizentren dieser globalen Pandemie, daher beginnt die Aufgabe unweigerlich zuhause. Während die europäischen Länder darum kämpfen, dass die Infektionszahlen nicht weiter steigen und endlich sinken, und sich mit der komplexen Frage auseinandersetzen, wann und wie nationale Kontaktsperren gelockert werden können, sehen sie wirtschaftlich desolaten Zeiten entgegen.

Europa wird diese Krise nur gemeinsam bewältigen können

Angesichts der Schätzungen von einer um sieben Prozent des BIP schrumpfenden EU-Wirtschaft inmitten einer globalen Rezession, wie es sie seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hat, ist offensichtlich, dass eine Erholung von dieser Krise nur möglich ist, wenn die Europäer geschlossen auftreten. Nur wenn nationale von gemeinsamen wirtschaftlichen Maßnahmen flankiert werden, welche die unmittelbaren Auswirkungen von COVID-19 mildern und Volkswirtschaften wieder ankurbeln können, kann die Union eine langwierige Rezession vermeiden, die ihre Grundlagen als Ganzes gefährden könnte.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat kürzlich betont, dass selbst diejenigen, die die Krise recht gut zu bewältigen scheinen und sich große nationale Konjunkturpakete leisten können, nicht in der Lage sein werden, auf sich allein gestellt zu gesunden. Er verwies in diesem Zusammenhang besonders auf die Verantwortung seines eigenen Landes: „Deutschland kann nicht stark und gesund aus der Krise kommen, wenn unsere Nachbarn nicht auch stark und gesund werden.“

Diese Erkenntnis hat bereits zu mehreren konkreten Maßnahmen geführt. Von der Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts über das befristete „Pandemie-Anleihekaufprogramm“ der Europäischen Zentralbank bis hin zu einer europäischen Arbeitslosenregelung, den Kreditgarantien der Europäischen Investitionsbank und der Überarbeitung des Europäischen Stabilitätsmechanismus wurden wichtige Entscheidungen getroffen.

Würden diese mit einem ambitionierten europäischen Wiederaufbaufonds, der Förderung von gemeinsamer Forschung an Medizin und Impfstoffen und, was vielleicht am wichtigsten ist, mit einer entschlossenen Antwort auf den Frontalangriff auf die Demokratie innerhalb der Grenzen der EU einhergehen, hätte die EU Beachtliches geleistet und sich den Herausforderungen in ihrem Innern gestellt.

Ein außenpolitischer Winterschlaf ist keine Option für Europa

Wie die EU von heute mit der Krise umgeht, wird die Union von morgen bestimmen. Wenn sich nationalistische Antworten durchsetzen, wird der Nationalismus auch allgemein erfolgreich sein – und das europäische Projekt akut bedrohen. Sollte es uns jedoch gelingen, eine wahrhaft europäische Strategie für den Umgang mit der Krise und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen zu entwickeln, können wir ein besseres Europa und eine wirkliche Union aufbauen.

Dies würde auf ein enorm ambitioniertes Maßnahmenpaket hinauslaufen, um das europäische Projekt zu stärken und sich von der schlimmsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise zu erholen, die Europäerinnen in ihrem Leben gesehen haben. Doch so bedeutsam ein solches Paket auch sein mag; allein wird es nicht ausreichen. Es liegt an den Mitgliedsstaaten, angefangen bei zwei Gründerstaaten und Schwergewichten wie uns – Italien und Deutschland –, sich gemeinsam für eine EU-Reaktion einzusetzen, die der Herausforderung angemessen ist.

In einer Welt, die von einer verstärkten Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und China geprägt wird, in der COVID-19 in der fragilen Nachbarschaft der Europäischen Union immensen Schaden anrichtet und der Multilateralismus genau dann zusammenzubrechen droht, wenn er am dringendsten gebraucht wird, ist ein außenpolitischer „Winterschlaf“ keine Option für Europa. COVID-19 stellt nicht nur einen entscheidenden Moment für den inneren Zusammenhalt der EU dar, sondern eben auch für ihre Rolle in der Welt. Mittelfristig sind beide gleichermaßen existentiell und beide gleichermaßen gefährdet.

Es ist unbestreitbar, dass Europa, verwickelt in seinen internen Überlebenskampf, erst spät auf diese vielschichtige Krise reagiert hat. Doch die Grundprinzipien, die der Rolle der EU in der Welt zugrunde liegen – Sicherheit, Resilienz, ein integrierter Ansatz zur Bewältigung von Konflikten und Krisen, regionale Zusammenarbeit und Multilateralismus–, wurden durch COVID-19 nur bestätigt. Sie bieten Europa auch die Möglichkeit, jetzt zu handeln und verlorenes Terrain wettzumachen.

Die EU sollte die Resilienz fragiler Staaten stärken – aus aufgeklärtem Eigeninteresse

Die Pandemie macht deutlich, dass es von grundlegender Bedeutung ist, die Resilienz fragiler und konfliktbeladener Regionen im Osten und Süden der Union auf umfassende Weise zu stärken und dabei gesundheitliche, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte gemeinsam anzugehen. Dieses Virus kennt keine Grenzen und verdeutlicht eindrücklich, dass die Beschäftigung mit unserer Nachbarschaft nicht nur aus Altruismus, sondern aus aufgeklärtem Eigeninteresse erfolgen sollte.

Wir wissen, dass kein Kontinent eine Insel ist und dass wir die Resilienz von fragilen Staaten unterstützen müssen, weil die Vernachlässigung unserer Nachbarschaft über kurz oder lang doch auf uns selbst zurückfallen würde. Wenn schließlich europäische Diplomaten und Geschäftsleute, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Zivilgesellschaft, Studierende und Touristen ihre Häuser verlassen und in die Welt ausströmen, wird die Gefahr eines Rückfalls, noch vor der Ankunft eines Impfstoffs, weiter steigen.

Unsere Reaktion auf COVID-19 kann nicht an den Grenzen des Schengen-Raums Halt machen, die für das Virus ohnehin keine Hürde darstellen. Dies gilt in erster Linie für den Westlichen Balkan, wo nicht nur die öffentliche Gesundheit und die sozioökonomische Zukunft auf dem Spiel stehen, sondern auch die politische Orientierung der ganzen Region. Das wohl kalkulierte Lob Serbiens an China und die Verunglimpfung der EU könnte ein Sonderfall staatlich geförderter Desinformation sein. Aber es sollte auch als Warnung davor dienen, was passieren kann, wenn die EU dem Westlichen Balkan nicht die maximale Unterstützung bei der Bekämpfung von COVID-19 gewährt.

Die Pandemie wird Krisen in den Nachbarregionen Europas verschärfen

Dies ist jedoch erst der Anfang. In Nordafrika, im Nahen Osten und in ganz Subsahara-Afrika ist COVID-19 ein Bedrohungsmultiplikator, der die bereits bestehenden Verwundbarkeiten und Krisen weiter verschärfen wird. Die dicht besiedelten Städte Afrikas in Verbindung mit ihren hohen Armutsraten sind eine tickende Zeitbombe für die Ausbreitung von COVID-19-Infektionen. In Syrien, wo das öffentliche Gesundheitssystem in den von der Opposition kontrollierten Gebieten systematisch von der russischen Luftwaffe und dem Regime angegriffen wurde, gibt es nur 325 Intensivbetten mit Beatmungsgeräten für eine Bevölkerung von 17 Millionen Menschen. Noch dramatischer ist, dass es im von der Opposition kontrollierten Idlib, wo 3,5 Millionen Menschen leben, nur 20 solcher Betten gibt. Das Luxusgut „Social Distancing“ existiert hier nicht, und die Zahl der Todesopfer wäre verheerend, wenn sich COVID-19 in diesen Regionen ausbreiten würde.

Ebenso besorgniserregend sind die indirekten Auswirkungen der Pandemie auf die Nachbarregionen Europas, die hart getroffen sein werden – ganz unabhängig davon, wie stark sich das Virus auch dort verbreiten sollte. Risiken wie Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung am Horn von Afrika, die soziale Instabilität im Irak, in Algerien oder im Libanon sowie der Terrorismus und die Stärkung des Autoritarismus verschärfen sich in bisher unbekannten Ausmaßen.

All dies anzugehen, während die Union um ihr eigenes Überleben kämpft, wirkt überwältigend. Da aber wahrscheinlich kein anderer globaler Akteur eingreifen wird, fiele ein Nichtstun auf die Europäische Union selbst zurück. Die USA verzichten (vorübergehend) auf ihre globale Führungsrolle, während immer deutlicher wird, dass das energische internationale Engagement Chinas vor allem die eigenen geostrategischen Vorteile im Blick hat.

Leitprinzip des nächsten Finanzrahmens muss auch die externe Solidarität sein

Die EU hat bereits damit begonnen, die drohenden Auswirkungen in den Blick zu nehmen. Sie hat mehr als 15 Milliarden Euro bereits zugesagter Mittel im Angesicht der Corona-Krise umgewidmet und weitere fünf Milliarden Euro – vier Milliarden durch die EU-Mitgliedstaaten und eine Milliarde durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) – zur Verfügung gestellt, um COVID-19 über ihre Grenzen hinaus anzugehen. Wenn man jedoch bedenkt, dass allein Deutschland ein nationales COVID-19-Konjunkturpaket im Wert von über 750 Milliarden Euro aufgelegt hat, ist dies allenfalls ein erster Tropfen auf den heißen Stein.

Die Europäer müssen nicht nur umgehend vorhandene Ressourcen mobilisieren, um fragile Gesundheitssysteme in der europäischen Nachbarschaft zu unterstützen, sondern auch sicherstellen, dass das Leitprinzip des mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 die interne, aber auch die externe Solidarität ist. Darüber hinaus sollte COVID-19 einen letzten Anstoß zu einer kohärenteren europäischen Finanzarchitektur geben, in der sich sowohl die Europäische Investitionsbank (EIB) und die EBWE als auch die Institutionen der Mitgliedsstaaten koordinieren, um gemeinsam Mittel für das Ausland zu mobilisieren.

Neben der Wichtigkeit von Resilienz in unserer Nachbarschaft unterstreicht COVID-19 auch die zentrale Bedeutung eines weiteren Eckpfeilers der europäischen Außenpolitik: den Multilateralismus. Diese Pandemie könnte schließlich den Wendepunkt für eine internationale Ordnung darstellen, die sich von liberalen Werten abwendet und in eine Zukunft schreitet, in der Großmachtkonkurrenz und ideologische Auseinandersetzungen die Norm sind. Wenn sich die Machtverhältnisse des internationalen Systems ändern, drohen auch die darauf aufbauenden Prinzipien, Gesetze und Institutionen zu zerfallen.

Die Aufrechterhaltung des multilateralen Systems hängt mehr denn je von Europa ab

Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Kontroverse um die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Unabhängig von den Verdiensten, Grenzen und Fehlern der WHO ist eines klar: Es ist völlig unverantwortlich, dass die USA ihr auf dem Höhepunkt der Pandemie die Finanzmittel streichen. Vor allem aber zeigt die Kontroverse die Dramatik der globalen Konfrontation zwischen den USA und China, welche sogar die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit in der Bekämpfung eines Virus überschattet, das nur gemeinsam besiegt werden kann. Die Bewältigung globaler Pandemien wie auch aller anderen transnationalen Herausforderungen unserer Zeit, vom Klima bis zur Digitalisierung und Demographie, erfordern mehr internationale Zusammenarbeit, Normen, Regeln und Institutionen, nicht weniger.

Die COVID-19-Krise verdeutlicht mehr denn je die Notwendigkeit einer europäischen Führungsrolle bei der Aufrechterhaltung und Verbesserung des multilateralen, auf Regeln basierenden Systems und zwingt die Allianz für Multilateralismus, der bereits mehr als 60 Staaten beigetreten sind, zum Handeln. Weltweit hat COVID-19 die Grenzen einer Governance-Architektur offengelegt, die lediglich beobachtet und empfiehlt, statt durchzusetzen.

Als entschiedenste Unterstützerin der Vereinten Nationen (VN) steht die Europäische Union in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Post-COVID-19-Welt durch ein erneuertes Bekenntnis zu den VN und der multilateralen Ordnung geprägt wird. Angesichts des verantwortungslosen Verhaltens der USA könnte ein erster Ansatzpunkt für die EU darin bestehen, der WHO zusätzliche 500 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen und diese an die klare Erwartung zu koppeln, dass die Organisation eine kritische Evaluation ihres Handelns in der Krise vornimmt. Nicht weniger wichtig ist es, multilaterale Foren wie die G20 zu mobilisieren, um die globalen wirtschaftlichen Auswirkungen einer Krise zu mildern, die im Gegensatz zu 2007-2008 in der Realwirtschaft begonnen hat, aber auch auf die Finanzmärkte übergreifen könnte. Ein erster wichtiger Schritt war der Beschluss der G20-Finanzminister über ein Moratorium für die Schuldenrückzahlung von Entwicklungsländern.

Letztlich geht es um die Verteidigung von Kernprinzipien der Europäischen Union

Darüber hinaus bietet die Klimakonferenz COP26 die Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass der Neustart des globalen Wachstums nachhaltig ist. Da zwei europäische Länder – das Vereinigte Königreich und Italien – den Vorsitz der COP26 und der G7 und G20 im Jahr 2021 innehaben, ist die bessere Nutzung dieser Plattformen für Global Governance eine Chance, die die Europäer nicht verpassen dürfen. Nach COVID-19 wird und muss sich die Globalisierung ändern. Aber anstatt in Abschottung, Nationalismus und destruktive wechselseitige Entkoppelung zu verfallen, muss die Globalisierung 2.0 ihre Prinzipien der Offenheit und Interdependenz beibehalten, gleichzeitig fairer und regionaler werden sowie für mehr Sicherheit sorgen, indem sie notwendige Redundanzen und Regelungen für kritische Infrastrukturen und Versorgungsketten beachtet.

Die gegenwärtige politische Debatte zeigt, dass der Erfolg dieser Prinzipien bei weitem nicht vorherbestimmt ist. Bislang scheinen diejenigen die internationale Debatte zu bestimmen, die Multilateralismus und internationale Institutionen verunglimpfen und die Rückkehr des scheinbar allmächtigen Nationalstaates preisen. Deswegen müssen die Verfechter eines fairen und wirksamen Multilateralismus jetzt ihre Stimme finden – und lauter werden. Wer – wenn nicht die Europäer – sollte damit beginnen?

All dies zu tun, liegt im unmittelbaren Interesse Europas, um sicherzustellen, dass die Welt aus dieser Krise auf die einzig mögliche Art und Weise herauskommt: gemeinsam. Darüber hinaus muss in dem, was der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die „Schlacht der Narrative“ genannt hat, die europäische Version laut und deutlich zu hören und zu sehen sein. Diese Sichtbarkeit wird nicht nur wichtig sein, um die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Dimensionen dieser Krise anzugehen. Letztlich geht es auch darum, dass die Prinzipien der Offenheit, der Rechtstaatlichkeit, der Regelbasiertheit und der Kooperation, auf denen sich die Union gründet, als bestimmende Merkmale unserer europäischen Lebensweise fortbestehen.


Rom/Berlin, 17.04.2020. 

Dieser Beitrag erschien am 20.04.2020 auf Englisch als IAI Commentary 20/27 und Beitrag für die Website der Münchner Sicherheitskonferenz unter dem Titel „European Vision and Ambition Needed: Italy and Germany Must Promote a Global EU Response to COVID-19“ und am 23.04.2020 auf Italienisch auf der Website von Affari Internazionali unter dem Titel „Italia e Germania insieme per una risposta globale a guida europea“.

Übersetzung ins Deutsche: Hanna-Sophie Bollmann. 

Europäische Union Stabilisierung COVID-19

​Tobias Bunde

Tobias Bunde ist Leiter Politik und Analyse der Münchner Sicherheitskonferenz und forscht am Centre for International Security der Hertie School. @TobiasBunde

Ferdinando Nelli Feroci

Ferdinando Nelli Feroci ist Präsident des Istituto Affari Internazionali (IAI) in Rom.

​Boris Ruge

Boris Ruge ist stellvertretender Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. @RugeBoris

​Nathalie Tocci

Nathalie Tocci ist Direktorin des Istituto Affari Internazionali (IAI) und Honorarprofessorin an der Universität Tübingen. Sie war Sonderberaterin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. @NathalieTocci