Nach COVID-19: Reboot der Vereinten Nationen

16. April 2020   ·   Matthias Leitner

COVID-19 ist eine existentielle Herausforderung für multilaterale Zusammenarbeit. Die Bundesregierung sollte jetzt ein Forum einrichten, das konkrete Vorschläge für UN-Reformen erarbeitet, und ihre Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat dazu nutzen, solche Reformen schon in diesem Jahr voranzutreiben.

Der Effekt der COVID-19-Pandemie auf nationale Akteure und das globale Staatensystem seit Anfang 2020 ist ebenso dramatisch wie unbestreitbar. Ein Ende ist derzeit noch kaum in Sicht, doch die meisten Beobachter sind sich einig, dass der Gipfelpunkt der Globalisierung überschritten ist und ein historischer „Wendepunkt“ erreicht wurde, wie es der Kommentator John Gray kürzlich im New Statesman-Magazin ausgeführt hat. Hingegen gibt es noch wenig weiterführende Überlegungen dazu, was multilaterale Einrichtungen (insbesondere UN, OSZE und NATO) in einer Phase der Konsolidierung unter stark veränderten Bedingungen nun leisten können und müssen.

Bisher haben die nationalen Alleingänge Auftrieb

Die Pandemie fordert Einzelstaaten und Bündnisse sowie das Weltsystem auf eine Weise heraus wie zuletzt vor 100 Jahren. Einige Beobachter sehen auch Parallelen mit dem Jahr 1989, dem Abzug der Sowjetunion aus Afghanistan und dem Ende des Warschauer Pakts nach dem Fall der Berliner Mauer. Für 2020 ist Stabilisierung noch fraglich, trotz einiger solidarischer Gesten im EU-Raum und international mit China sowie in der Konfiguration der G20-Staaten. Experten in Asien sehen die latente Konfrontation zwischen den USA und China nicht als überwunden an, sondern eher noch verschlimmert durch die Pandemie. Die Gestaltung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit als Starthilfe für Normalisierung selbst im EU-Raum ist nach wie vor umstritten. Am 14. April verfügte US-Präsident Trump den Stopp der amerikanischen Mitgliedsbeiträge für die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die an vorderster Front der Bekämpfung von COVID-19 steht.

Es ist daher davon auszugehen, dass die Krise langfristige und tiefgreifende Folgen hat und somit auf Dauer eine existentielle Herausforderung für multilaterale Zusammenarbeit darstellt. Zwar ist noch kein klares Muster zu erkennen, wie sich die Pandemie auf aktive Konflikte oder eingedämmte Konflikte auswirkt, ob sie etwa den Konflikt in Libyen beschleunigen oder im Nahen Osten wie auch in der Ostukraine Gewalt zeitweise verringern wird. Klar ist aber, dass die Nationalismen weiter Auftrieb gewinnen.

Erst am 9. April trat der Weltsicherheitsrat erstmals in New York zusammen, um über die Pandemie zu beraten und erhielt ein vertrauliches Briefing des UN-Generalsekretärs. Doch er fasste weder einen Beschluss, noch veröffentlichte er ein verbindliches Statement, um die Pandemie als Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Welt anzuerkennen. Es bedarf wohl noch extremerer Entwicklungen und die Hinwendung der Supermächte auf den eigenen Gesundheitsnotstand, bevor von Region zu Region unterschiedlich eine „Pax COVID-19“ zustande kommt.

Internationale Institutionen reagieren – aber ohne große Würfe

Während die UN zuerst mit den Sonderorganisationen, allen voran der WHO, auf die Pandemie reagierte, folgten im März/April Initiativen des UN-Generalsekretärs in Form eines Aufrufs zur globalen Waffenruhe und zur Umschuldung für Länder des globalen Südens, sowie der Launch eines Globalen Fonds für Nothilfe zugunsten der Entwicklungsländer und humanitärer Hotspots.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Ausbreitung des Virus in Afrika, wo der Gesundheitsschutz oft mangelhaft ist und viele fragile Staaten existieren, hat der Hohe EU-Vertreter für Außenbeziehungen Josep Borrell zur Solidarität aufgerufen und eindringlich auf die Interdependenz zwischen Europa und Afrika hingewiesen: Ohne Erfolg in der Kontrolle des Virus in Afrika wird auch Europa nicht einfach zurück in eine Normalität finden.

Am 22. März wandte sich die Exekutiv-Sekretärin von UN-ECA wegen eines dringenden Hilfspakets, einschließlich medizinischer Soforthilfe für die Staaten Afrikas, an die Leiter der zwei wichtigsten multilateralen Geber (Weltbank, IMF) und an die Europäische Zentralbank. Allein die Ausfälle an Exporten im Energiesektor (Rohöl) werden Afrika nach Angaben von UN-ECA ca. 101 Milliarden US-Dollar kosten. Afrikas Finanzminister haben Partnerschaften gefordert, um die Sustainable Development Goals-Dekade 2020 auf dem Kontinent zu lancieren; sie haben zudem ein anfängliches Hilfspaket von 100 Milliarden US-Dollar befürwortet, um die wirtschaftlichen Schäden durch COVID-19 in Grenzen zu halten.   

Der Weltwährungsfonds (IMF) erklärte sich bereit, seine finanziellen Mittel voll einzusetzen und die Weltbank-Gruppe kündigte an, ein 12 Milliarden US-Dollar schweres Paket für Staaten und den Privatsektor zur Verfügung zu stellen, um die finanziellen Einbußen durch die Pandemie aufzufangen und das Gesundheitswesen zu stärken.

Diese Maßnahmen zielten auf breitesten Konsens ab und brachten das moralische Gewicht der UN-Führung ein, um essenzielle Hilfe zu ermöglichen, trotz der Beanspruchung aller Partner durch COVID-19. Es ist jedoch problematisch, dass die Einrichtungen zur Weltfinanzordnung agieren, wie bei anderen Krisen – nur eben mit größeren Beträgen –während es gleichzeitig an Einigkeit im UN-Sicherheitsrat fehlt, um globale Hilfe strategisch zu steuern und Hindernisse zu beseitigen. Auch bekommt man den Eindruck, dass einige Akteure die Pandemie zum gewöhnlichen humanitären Fundraising benutzen, obwohl der Rahmen der Interventionen ungleich komplexer geworden ist. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund einer zunehmenden Polarisierung im UN-Sicherheitsrat verständlich, wo die globale Vermittlerrolle der UN in Frage gestellt wird, humanitäre Hilfe instrumentalisiert bzw. die Lösung von brennenden Konflikten fast unmöglich geworden ist.

Die Vereinten Nationen stehen vor einer existenziellen Krise

Mit den finanziellen Rettungsmaßnahmen in Asien und auf beiden Seiten des Atlantiks versuchen die Staaten den tiefen Einbruch ihrer Wirtschaften aufzufangen. Damit stehen künftig wesentlich weniger Ressourcen zur Verfügung, um den jeweils festgesetzten nationalen Beitrag für die UN (und auch OSZE oder NATO) zu entrichten. Noch weniger Finanzmittel werden für freiwillige Beiträge der UN bereitstehen, auf die einige Mitglieder der UN-Familie stark angewiesen sind, darunter die WHO. Von der chronischen finanziellen Knappheit der UN ist es nur ein Schritt zur existenziellen Krise.

Seit 2019 ist ein UN-Jahreshaushalt in Kraft; das traditionelle Biennium-Modell wurde abgeschafft. Der UN-Haushalt für 2020 von knapp über drei Milliarden US-Dollar wurde am 27. Dezember 2019 beschlossen. Im nächsten UN-Haushaltsplan wird mit Notmaßnahmen zu rechnen sein, nachdem die angestrebte Kostensenkung 2019 mäßig erfolgreich war. Die meisten UN-Sonderorganisationen arbeiten gerade im Tele-Work-Modus und sind daher gebremst; die Auswirkungen von COVID-19 waren am deutlichsten im UN-Menschenrechtsrat spürbar. Nach Angaben von Mitarbeitern des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) läuft gerade ein „Sense Making“-Prozess an, um sich auf die veränderten Gegebenheiten einzustellen. In der OSZE wurde durch den Generalsekretär Thomas Greminger Mitte März eine Diskussion über die Relevanz der Zusammenarbeit im gegebenen sicherheitspolitischen Rahmen der OSZE angeregt.

Die Bundesregierung sollte ein Forum für UN-Reformen einrichten…

Während die multilaterale Architektur insgesamt geschwächt ist, steht die UN als deren Hauptakteur durch die Pandemie vor ihrer größten Herausforderung. Der Reformdruck der letzten Jahre wird nicht nachlassen und es besteht ein hohes Risiko, dass die Weltorganisation in dieser Krise nur noch improvisiert weiterarbeitet und an Akzeptanz verliert. Kollektive Führung auf Weltebene und gemeinsame Entscheidungen zu Frieden und Sicherheit können dabei verlorengehen und ein Vakuum hinterlassen, das noch mehr Instabilität produziert. Ziele und strategische Interessen der Bundesregierung zu Krisenprävention, Stabilisierung und Friedensförderung werden davon unmittelbar betroffen sein.

Um dem vorzubeugen, sollte die Bundesregierung jetzt gegensteuern und die enorme Herausforderung dieser Krise nutzen, um sich für zentrale Reformen des UN-Systems einzusetzen. Dafür sollte sie ein Forum für UN-Reform einrichten und darin die strategischen Interessen Deutschlands artikulieren. Hierbei sollten sowohl die renommierten Think Tanks und Forschungsinstitute als auch die zahlreichen Praktiker und Experten in UN-Friedenseinsätzen in Deutschland einbezogen werden. Es geht nicht nur um wissenschaftliche Analysen, sondern auch um handfeste Vorschläge, um einen Kollaps des bisher bestehenden UN-Systems zu vermeiden.

… und die Ergebnisse zielführend im UN-System umsetzen

Noch während der deutschen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat bis Januar 2021 sollten die Ergebnisse dieses UN-Reformforums in die politische Arbeit mit gleichgesinnten UN-Mitgliedsstaaten eingebracht und somit die Haushaltserstellung für die UN im Herbst 2020 im 5. Komitee unterstützt werden. Unter den UN-Delegationen gibt es die Gruppe derer, die sich mit Deutschland seit längerem für eine Reform des UN-Sicherheitsrates aussprechen (Brasilien, Indien, Japan). Dies ist die Grundlage für eine Koalition der reformwilligen Staaten, die gemeinsam mit Deutschland fundierte Ergebnisse des UN-Reformforums aus Deutschland weitertragen und realisieren kann. Dafür kann auch die Gruppe der kleineren Staaten einschließlich der Schweiz und Singapur gewonnen werden, die seit 2013 als überregionale Gruppierung („Accountability, Coherence, and Transparency“/ACT) agiert. Diese Staaten verbindet neben erfolgreichen Ansätzen zur Eindämmung des Virus ein elementares Interesse an praktischer UN-Reform als Garant einer Weltordnung, die auf internationalem Recht und gegenseitiger Achtung basiert. Was für das multilaterale System global auf dem Spiel steht, hat die vormalige Leiterin von UNDP Helen Clark deutlich gemacht. Sie setzt sich für einen „Pandemic Emergency Co-ordination Council“ ein, der die Gesamtkoordination für die UN übernimmt nach dem Muster der Ebola-Krise 2014, was die Notwendigkeit von Strukturreformen in der UN angesichts der Pandemie veranschaulicht.

Mit europäischen Partnern und transatlantisch koordinieren

Als vorbereitende Schritte könnten ein übergreifendes Netzwerk und strukturelle Reformen der UN unverzüglich damit beginnen, die kompetenten Zentren in Deutschland für Reformen der UN auf eine breitere Basis zu stellen, angefangen mit politischen Forschungseinrichtungen, Bildungszentren und der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN). Es bietet sich auch an, gemeinsame Grundpositionen mit den maßgeblichen europäischen Partnerinstituten (speziell Frankreich, England, Spanien und Italien) sowie der EU/EEAS zu erarbeiten. Das UN-Reformforum sollte genügend Mittel besitzen, um solche Akteure einzubinden, um breitestmöglich Perspektiven für eine Reform der UN zu entwickeln, ohne dass dies als deutscher Sonderweg missverstanden wird. Engagement mit Einrichtungen des transatlantischen Dialogs können zusätzlich Vertrauen bilden.

Thematische Cluster zur UN-Reform, die denkbar wären, sind der Bereich Personalwesen, Zusammenarbeit/Subsidiarität mit den Regional Economic Commissions (RECs) und EU-Partnerschaft sowie Rule of Law und globale digitale Standards bzw. Technologietransfers für Krisenvorsorge und Bekämpfung von künftigen Pandemien. Auch globale Gesundheitssicherheit sollte dabei eine zentrale Rolle spielen. Denn nie war klarer, dass die Welt globales Handeln braucht, als in diesen Zeiten einer handfesten planetaren Krise. Reformen in dieser Krise könnten die letzte Gelegenheit für „build back better“ sein. Nur so haben die Vereinten Nationen die Chance, ihrer zentralen Rolle für die Wahrung globaler Ordnung gerecht zu werden, die ihnen 1945 nach dem 2. Weltkrieg zugedacht war. Deutschland hat daran ein fundamentales Interesse.

Vereinte Nationen Stabilisierung COVID-19

Matthias Leitner

Matthias E. Leitner war von 1997 bis 2019 in OSZE- und UN-Friedensmissionen tätig, unter anderem als Stabschef der Politischen UN-Mission in Guinea-Bissau (Westafrika). Er hat kürzlich mit IGAD in Addis Abeba (Äthiopien) ein EU-Trust Fund-Projekt (ADA Österreich) im Bereich Frieden und Sicherheit durchgeführt.