Stabilisierung zwischen Realpolitik und Normativität

06. April 2020   ·   Andreas Wittkowsky

Eine aktuelle Studie des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) zeigt fünf Gemeinsamkeiten zwischen den Stabilisierungskonzepten der Bundesregierung und ihren wichtigsten internationalen Partnern. In Deutschland liegt noch zu viel Aufmerksamkeit auf Budgetlinien für Stabilisierung und zu wenig darauf, wie Wirkung ressortgemeinsam erzielt werden kann.

In den letzten 25 Jahren sind mehrere Milliarden US-Dollar in Stabilisierungsengagements geflossen. In jüngster Zeit haben die wichtigsten internationalen Partner Deutschlands diese auf den Prüfstand gestellt. Ihre Schlussfolgerungen sind überraschend selbstkritisch – und auch für die weitere Gestaltung des deutschen Engagements relevant. Alle Partner propagieren, die Ansprüche an ihr Stabilisierungsengagement herunterzuschrauben und es konsequent auf ein Zwischenziel der Friedensförderung auszurichten. Diplomatische, entwicklungspolitische und sicherheitspolitische Instrumente sollen zunächst den Raum für eine weitergehende gewaltfreie Konfliktbearbeitung schaffen. Da eine scharfe Abgrenzung zu längerfristigen Aktivitäten der Friedensförderung nicht möglich ist, ist ein effektiver vernetzter Ansatz im Interesse aller Beteiligten – wenn sie Wirkung erzielen wollen.

Die ersten Stabilisierungsaktivitäten der „liberalen“ Friedensagenda zielten noch auf ein umfangreiches state- and nation-building ab. Doch die Resultate haben ernüchtert. Die jüngste Diskussion bei den Vereinten Nationen, UNDP, in der EU, den USA und Großbritannien markiert dementsprechend eine Renaissance der Realpolitik in der internationalen Konfliktbearbeitung. “Not all good things come together” – so bringen es die Briten auf den Punkt. Angestrebt wird deshalb ein politisches Arrangement, das die weitere, gewaltfreie Konfliktbearbeitung überhaupt erst ermöglicht. Dieses Zwischenziel soll die Chance vergrößern, es überhaupt zu erreichen.

Trotz aller Realpolitik sind die jüngsten Stabilisierungskonzepte weiterhin normativ. Sie betonen, dass die gewünschten politischen Arrangements Legitimität in der Bevölkerung genießen müssen, um Bestand zu haben. Rhetorisch rückt das Militärische in den Hintergrund. Denn auch wenn der Stabilisierungsansatz im Kontext militärischer Einsätze entstand, ist seine größte Herausforderung deren zivile Begleitung.

Bis heute sind die Konzepte nicht deckungsgleich, doch eine aktuelle Studie des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) zeigt einen „Korridor“ von fünf Gemeinsamkeiten:

1. Konfliktnahes Zwischenziel der Friedensförderung

Stabilisierung wird als jener Bereich der Friedensförderung verstanden, der nahe an einer „heißen“ Phase eines Gewaltkonflikts wirken soll. Im Zentrum steht die Frage, welche Prioritäten kurzfristig am wichtigsten sind, um eine gewaltsame Konfliktaustragung zu überwinden. Dabei sind die Stabilisierungsakteure mit dem Dilemma konfrontiert, wie sie die realpolitischen Grenzen des eigenen Einflusses mit den fortbestehenden normativen Ansprüchen vereinbaren sollen.

2. Politische Arrangements zur Transformation akuter Gewaltkonflikte

Das wichtigste strategische Ziel von Stabilisierung ist die Überführung akuter oder unmittelbar drohender Gewaltkonflikte in politische Arrangements, die eine gewaltlose Konfliktbearbeitung durch die lokalen Akteure vor Ort ermöglichen. Stabilisierung ist demnach vor allem ein politisches Unterfangen, das einen vernetzten Ansatz erfordert, in dem die unterstützenden diplomatischen, entwicklungspolitischen und sicherheitspolitischen Instrumente auf dieses strategische Ziel ausgerichtet werden.

3. Sicherheit als Voraussetzung und Ziel

Um das strategische Ziel zu erreichen, muss Stabilisierung ein Minimum des „öffentlichen Guts“ Sicherheit bereitstellen. Gelingt dies nicht, werden die Aktivitäten einer nachhaltigen Friedens- und Entwicklungsförderung keine Erfolge erzielen. Hieraus resultiert auch die Bedeutung einer möglichen militärischen Komponente, die in lokale Kräfteverhältnisse eingreifen und den notwendigen Raum für politische Prozesse schaffen kann.

4. Wirkung durch vernetzten Ansatz

Stabilisierung erfordert den Einsatz diplomatischer, entwicklungspolitischer und sicherheitspolitischer Mittel – die je nach Konfliktkontext unterschiedlich kombiniert werden müssen. Aufgrund der fließenden Übergänge zwischen Aktivitäten der Stabilisierung und einer längerfristigen Friedens- und Entwicklungsförderung – die auch teilweise parallel zueinander durchgeführt werden – muss es im Interesse aller Beteiligten sein, nicht gegeneinander zu arbeiten und die Übergänge gemeinsam zu gestalten.

5. Schneller Start, Risikobereitschaft, schnelle Wirkung

Wenn entwicklungspolitische Maßnahmen einen wirksamen Beitrag zur Stabilisierung leisten sollen, müssen sie deren strategisches Ziel in den Mittelpunkt stellen, frühzeitig durchführbar sein und möglichst schnell erste Ergebnisse bringen. Dabei sind sie mit dem Problem konfrontiert, dass die Absorptionsfähigkeit in einem fragilen Umfeld begrenzt ist, da Partnerinstitutionen fehlen oder schwach sind. Oft ist es deshalb sinnvoll, mit kleineren Maßnahmen zu beginnen, ihre Umsetzung genau zu verfolgen und sie dann flexibel anzupassen oder weiterzuentwickeln.

Von der Wirkung her denken und ressortgemeinsam verständigen

Für den deutschen Stabilisierungsansatz bleibt es eine Herausforderung, diese konzeptionellen Ansprüche aufzugreifen und konkret umzusetzen. Mitunter kreist die hiesige Debatte zu stark um die Frage, welche Budgetlinien der Stabilisierung zuzurechnen sind und welche nicht. Wichtiger ist es, innerhalb dieser Linien und zwischen ihnen vom Ende her zu denken, nämlich wie stabilitätspolitische Wirkung erzielt wird. Das Ressortgemeinsame – von der Planung bis zur Umsetzung – sollte dabei nicht nur auf das absolute Minimum beschränkt sein. Besonders wichtig ist ein ressortübergreifendes Verständnis von stabilitätspolitischen Zielen, Wirkannahmen (theory of change) und Risiken.

Die Bereitschaft, höhere Erfolgsrisiken zu akzeptieren, ist wichtig. Sie sollte aber nicht dazu führen, eine regelmäßige, kritische Überprüfung der Wirkannahmen durch gemeinsame Reviews und Evaluierungen zu unterlassen. Stabilisierungsaktivitäten erfordern eine besonders selbstkritische Diskussions- und Fehlerkultur. Diese trotz der unvermeidlichen Ressortkonkurrenzen zu leben ist anspruchsvoll, aber angesichts der gewollten Verantwortung Deutschlands in der globalen Konfliktbearbeitung unabdingbar.

Fünf Jahre nach Gründung der Abteilung S fällt dem Auswärtigen Amt hier besondere Verantwortung zu. Einerseits ist es aufgrund seiner „Außenpolitik mit Mitteln“ inzwischen Partei geworden in der Ressortkonkurrenz um Haushaltsmittel. Andererseits muss es – ganz im Sinn des Baggerschen Diktums der „Systemintegration“ einer „netzwerkorientierten Außenpolitik“ – über seinen Schatten springen und eine „Plattformfunktion“ wahrnehmen, also eine integrierende Mittlerrolle im vernetzten Ansatz der Bundesregierung. 

Dieser Beitrag bezieht sich auf die aktuelle ZIF-Studie „25 Jahre Stabilisierungsdiskurs: Zwischen Realpolitik und Normativität.“ 

Politikkohärenz Stabilisierung Frieden & Sicherheit

Andreas Wittkowsky

Dr. Andreas Wittkowsky ist Leiter des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geförderten Projekts „Frieden und Sicherheit“ am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin.