Erst die Stabilisierung, dann die Demokratie?

17. Oktober 2019   ·   Karina Mross

In Wissenschaft und Praxis wird diskutiert, ob Demokratieförderung nach Konflikten zu Stabilisierung beiträgt, oder einen ohnehin fragilen Frieden eher destabilisiert. Neue Forschungsergebnisse zeigen: Deutschland als Geberland sollte nicht Stabilität priorisieren, sondern auch politischen Wettbewerb und Stärkung einer unabhängigen Justiz gleichwertig verfolgen.

Es wird oft angenommen, dass Demokratie (immer) gut für Frieden ist. In der Tat sind Demokratien besonders stabil. Allerdings birgt der Übergang zum demokratischen System ein erhöhtes Gewaltrisiko, insbesondere in Post-Konflikt-Gesellschaften. Während demokratische Institutionen besonders gut mit gesellschaftlichen Konflikten umgehen können, kann die Veränderung von Machtverhältnissen durch mehr politischen Wettbewerb auch Machtkämpfe auslösen. Dies kann erneute Gewalt hervorrufen, insbesondere in Kontexten unmittelbar nach Beendigung von Konflikten.

Dennoch werden nach einem Bürgerkrieg häufig Wahlen abgehalten, um eine neue, legitimierte politische Ordnung zu schaffen. Dies schien positiv für den Frieden in Nepal und Nicaragua, es wird in der Wissenschaft jedoch in Liberia (1997) und Angola (1992) mit dem Wiederausbruch von Gewalt in Verbindung gebracht. Was bedeutet das für internationale Demokratieförderung in Post-Konflikt-Situationen? Provoziert derartige Unterstützung den Ausbruch neuer Gewalt, oder kann sie destabilisierende Effekte abmildern?

Diese Fragen hat die Autorin in ihrer Doktorarbeit untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Geber Demokratisierungsprozesse aktiv mit Demokratieförderung begleiten sollten, da derartige Unterstützung destabilisierende Effekte von Post-Konflikt Demokratisierung abmildern kann. Geber sollten außerdem berücksichtigen, dass es nicht weniger risikobehaftet ist, Stabilität gegenüber Demokratie zu priorisieren anstatt von Beginn an beide Ziele zu verfolgen. Diese Forschungsergebnisse beziehen sich dabei auf Länder, in denen die Gewalt beendet und im Anschluss ein Demokratisierungsprozess eingeleitet wurde, wie Bosnien, Nicaragua, Nepal und Sierra Leone. Die Diskussion bezieht sich nicht auf Länder wie Afghanistan, wo die Gewalt nie wirklich endete.

Stabilität über Demokratie zu priorisieren schafft nicht zwangsläufig Frieden

Um mit den Zielkonflikten von Frieden und Demokratisierung umzugehen, werden von ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis zwei unterschiedliche Ansätze empfohlen: 1) Stabilität über Demokratie zu priorisieren, um zu verhindern, dass der politische Wettbewerb die Stabilität gefährdet und 2) der graduelle Ansatz, sowohl Stabilität als auch Demokratie von Beginn an in kleinen, inkrementellen Schritten zu unterstützen, ohne Stabilität zu priorisieren.

Seit deutlich wurde, dass Frieden und Demokratisierung nicht unbedingt Hand in Hand gehen, herrscht bei Vielen in Politik und Wissenschaft die Auffassung, dass externe Akteure sich in Post-Konflikt-Situationen auf Stabilität konzentrieren und von Demokratieförderung Abstand nehmen sollten, um erneute Gewalt zu vermeiden. Obwohl die internationale Gebergemeinschaft die Bedeutung von legitimen und inklusiven Institutionen oft betont und in den meisten Post-Konflikt Ländern Demokratieförderung stattfindet, wird in der Praxis fast immer Stabilität der Vorrang gegeben. Dies ist jedoch nicht per se empfehlenswert, wie ein systematischer Vergleich der verschiedenen Strategien an zentralen Momenten der Friedensprozesse in Burundi und Nepal zeigt.

Die Beispiele Burundi und Nepal zeigen: ein gradueller Ansatz ist sinnvoll

Stabilität zu priorisieren kann helfen, erneute Gewalt zu vermeiden, wie bei den Wahlen in Nepal 2008. Nationale und internationale Akteure konzentrierten sich auf die Durchführung friedlicher Wahlen, die pünktlich stattfinden und deren Ergebnisse akzeptiert werden sollten. Dies wurde in der Gebergemeinschaft als wichtiger angesehen, als die höchsten demokratischen Standards zu erreichen, die in diesem Kontext möglich gewesen wären. So gab es Unregelmäßigkeiten, Einschüchterung, kleinere Vorfälle von Wahlbetrug und Wahlgewalt, die jedoch nach Einschätzung von Wahlbeobachtern die Ergebnisse nicht maßgeblich beeinträchtigt haben. Die Wahlen leisteten somit einen wichtigen Beitrag zum Friedensprozess.

Eine solche Priorisierungsstrategie kann jedoch auch scheitern oder sogar kontraproduktiv sein. Statt Instabilität zu verhindern, riskierte man in mehreren Situationen in Burundi und Nepal diese noch zu befördern, da die Geber aufgrund der Priorisierung von Stabilisierung Chancen auf erreichbare demokratische Errungenschaften ungenutzt ließen. Im Umfeld der Wahlen in Burundi 2010 verschloss die internationale Gemeinschaft die Augen vor zunehmend autoritären Tendenzen und Menschenrechtsverletzungen, solange das Land relativ stabil blieb. Außerdem wurde im Bemühen, die letzte Rebellengruppe zur Waffenaufgabe zu bewegen, stets ihr fast garantierter Wahlsieg betont, statt dafür zu sensibilisieren, dass der Ausgang einer Wahl immer ungewiss ist.

Die Priorisierung von Stabilität erwies sich für den Frieden in Burundi als nicht hilfreich. Vielmehr wurden die Verletzung bürgerlicher und politischer Rechte durch Repression und eine allgemeine Machtmonopolisierung von den Gebern akzeptiert, wodurch negative Pfadabhängigkeiten entstanden, die schließlich in 2015 zu erneuter Gewalt beitrugen, die bis heute anhält. Weitere Untersuchungen sind nötig, um diese Ergebnisse für eine größere Fallzahl zu belegen. Aber die Analyse widerspricht der herrschenden Auffassung, dass es in Post-Konflikt-Situationen weniger riskant ist, Stabilität gegenüber Demokratie zu priorisieren. Demokratie sollte nicht erst dann gefördert werden, wenn ein Land nach einem Bürgerkrieg nachhaltig stabil ist. Vielmehr birgt Demokratieförderung, die schon früh mit einem graduellen Ansatz geleistet wird, ein erhebliches Potenzial, um Frieden nachhaltig zu stärken.

Geber sollten nicht nur freie Wahlen, sondern auch eine unabhängige Justiz stärken

Wie sollte Post-Konflikt-Demokratieförderung gestaltet sein? Auf Basis der potenziell friedens- aber auch konfliktfördernden Dynamiken von Demokratisierung nach Bürgerkriegen sind theoretisch drei Aspekte von Bedeutung: 1) die intensive Förderung politischen Wettbewerbs (z. B. Förderung freier und fairer Wahlen); 2) institutionalisierte Machtkontrolle (z. B. Stärkung einer unabhängigen Justiz); und 3) Kooperation (z. B. Förderung von Versöhnung).

Welche Aspekte oder Kombinationen zu Frieden beitragen, zeigt der Vergleich aller 18 Fälle von Post-Konflikt-Demokratisierung nach 1990 im Rahmen der Doktorarbeit der Autorin: Vor allem die Unterstützung des „kontrollierten Wettbewerbs“ kann potenziell negative Auswirkungen von Demokratisierung abmildern. Hierzu sollten Geber nicht nur politischen Wettbewerb, sondern auch Kontrollmechanismen (checks and balances) fördern. Ein Beispiel dafür ist die Stärkung einer unabhängigen Justiz, damit diese den Machtmissbrauch durch Wahlsieger verhindern kann. Wenn die Opposition eine faire Chance hat, die nächsten Wahlen zu gewinnen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass politische Streitigkeiten friedlich bleiben und auch unerwünschte oder unerwartete Ergebnisse akzeptiert werden.

In Liberia konnten demokratische Kontrollmechanismen den Frieden bewahren

Das Beispiel Liberias zeigt, dass es nicht ausreicht, politischen Wettbewerb zu fördern, ohne ihn durch institutionelle Kontrollmechanismen zu beschränken, um ein Wiederaufflammen von Gewalt zu verhindern. In der ersten Post-Konflikt-Periode in Liberia konzentrierten sich die Geber (u.a. die USA, VN und EU, aber auch weitere Geber wie Deutschland) primär auf die Wahlen von 1997. Die Wahlen endeten auch deshalb mit einem überwältigenden Sieg des Warlords Charles Taylor, weil viele annahmen, dass er eine Wahlniederlage nicht friedlich hinnehmen würde. In Abwesenheit institutioneller Kontrollmechanismen konnte Taylor seine demokratisch legitimierte Macht einsetzen, um scharf gegen die Opposition und die Medien vorzugehen, was schließlich in einen zweiten Bürgerkrieg mündete.

Nach dem Ende des zweiten Bürgerkriegs im Jahr 2003 förderten Geber den „kontrollierten Wettbewerb“. Unterstützung für freie und faire Wahlen und die Förderung dynamischer Medien stärkten den Pluralismus und ermöglichten echte Wahlmöglichkeiten. Diese Unterstützung hat die konflikteinhegenden Elemente der demokratischen Institutionen und die Legitimität der Ergebnisse erheblich gestärkt. Jedoch könnte eine solche Unterstützung theoretisch auch destabilisierende Auswirkungen verstärken: Ein ausgeglichenes Spielfeld, auf dem alle politischen Akteure eine faire Chance haben an die Macht zu kommen, kann von den Machthabern als Bedrohung angesehen werden, repressive Reaktionen provozieren und gewaltsame Dynamiken auslösen.

Bei den Wahlen in Liberia 2017 stellte die besiegte Regierungspartei die Ergebnisse infrage, und die Angst vor gewaltsamen Auseinandersetzungen wuchs. Die Geber hatten jedoch auch die Schaffung institutionalisierter Machtkontrolle gefördert, wodurch die Kapazität, der Zugang und die Unabhängigkeit der Judikative gestärkt wurden. So konnte die Regierungspartei rechtliche Mittel nutzen, statt den Konflikt auf die Straße zu tragen. Sie legte eine offizielle Beschwerde bei der Wahlkommission und später beim obersten Gerichtshof ein. Alle Parteien warteten die Entscheidung geduldig ab und akzeptierten sie schließlich, was einen friedlichen Machtwechsel ermöglichte.

Demokratieförderung statt Demokratisierung

Ist Demokratieförderung auch unmittelbar nach einem Bürgerkrieg sinnvoll? Robuste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass obwohl Demokratisierung ein erhöhtes Risiko von Instabilität birgt, internationale Demokratieförderung jedoch die potenziellen negativen Auswirkungen abmildern und Frieden stärken kann. Demokratieförderung löst nicht erneute Gewalt aus. Daher sollten Geber wie Deutschland Demokratisierungsprozesse aktiv mit Demokratieförderung begleiten. Sie sollten diese Unterstützung nicht erst anbieten, wenn sich die Situation nachhaltig stabilisiert hat, da sie einen wichtigen Beitrag für Frieden leisten und destabilisierende Auswirkungen verhindern kann.

Bei Zielkonflikten zwischen Stabilität und Demokratie ist zu berücksichtigen, dass es nicht unbedingt erfolgversprechender ist, Stabilität zu priorisieren, als einen graduellen Ansatz zu verfolgen, der schrittweise sowohl Stabilität als auch Demokratie fördert, ohne Stabilität zu priorisieren. Daher sollte Deutschland als Geberland politische Dynamiken vor der Entscheidung für eine Strategie sorgfältig analysieren und berücksichtigen, dass ein gradueller Ansatz über erhebliches Potenzial verfügt, Frieden nachhaltig zu stärken.

Im Kontext von Post-Konflikt-Demokratisierung sollten Geberländer wie die Bundesregierung einen „kontrollierten Wettbewerb“ fördern, um destabilisierende Effekte abzumildern. Die Förderung des politischen Wettbewerbs stärkt die friedensstiftende Wirkung demokratischer Institutionen, politische Macht friedlich zuzuweisen, aber auch wieder zu entziehen. Die Förderung institutioneller Machtkontrolle hilft, die Willkür der Exekutive zu beschränken und demokratische Regeln durchzusetzen.

Dieser Text fasst Ergebnisse aus der Doktorarbeit von Karina Mross zusammen und wurde in einer längeren Version auch als Briefing Paper des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik publiziert. Eine ausführliche Analyse von Geberstrategien finden Sie hier.

Stabilisierung Frieden & Sicherheit Friedensforschung

Karina Mross

Dr. Karina Mross forscht am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) im Programm „Transformation politischer (Un-) Ordnung“ insbesondere zu den Themen Friedens- und Demokratieförderung in Post-Konflikt-Gesellschaften. Hierzu hat sie auch an der Universität St. Gallen promoviert: Mross, K. (2019). Democracy support and peaceful democratization after civil war: A disaggregate analysis. PhD Thesis. St. Gallen, Switzerland: University of St. Gallen. @KarinaMross