Afghanistan: Der Ansatz „Viel hilft viel“ ist gescheitert 15. Juni 2020 · Thomas Feidieker Im Auftrag des BMZ haben renommierte Experten das langjährige Engagement internationaler Geber in Afghanistan in einer Meta-Review ausgewertet. Die Review zeigt unter anderem, dass bescheidene, lokal eingebettete Projekte am besten funktionieren. Für internationale Geber gilt es, sich zukünftig realistischere Ziele zu setzen und mehr Wert auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit zu legen. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Seit mehr als 18 Jahren engagiert sich die Bundesregierung in Afghanistan und erlebt dort die besonderen Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit in einem von Krieg und Terror gezeichneten Land. Vor diesem Hintergrund hat das zuständige Regionalreferat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) seit dem Jahr 2005 mehrere Evaluierungen und Portfolio-Reviews mit externen Gutachtern durchgeführt und ein System zum Monitoring der Maßnahmen aufgebaut. Für den Zeitraum 2021/22 plant das BMZ eine Review des Portfolios oder eine Evaluierung – abhängig von der Sicherheitslage. Um dafür eine Datenbasis zu erhalten, beauftragte das Ministerium Professor Christoph Zürcher von der Universität Ottawa, eine Meta-Review von Evaluierungen internationaler Geber im Zeitraum 2008 – 2018 durchzuführen. Die Review sollte dem Evaluationsteam belastbare Daten an die Hand geben, wie es um die Sektoren bestellt ist, in denen die Bundesregierung agiert und was daraus für ihr zukünftiges Engagement abzuleiten ist. Zudem sollte für das BMZ eine analytische Grundlage geschaffen werden, um zu klären, wie sich die internationale Gemeinschaft in Afghanistan zukünftig und im kommenden Friedensprozess am besten aufstellt. Darüber hinaus können aus den Erfahrungen Ansätze für andere fragile Kontexte, zum Beispiel Irak, Libyen, Mali oder Syrien abgeleitet werden. Mittels einer systematischen Literaturrecherche haben Professor Zürcher und sein Team englischsprachige Publikationen aus dem Zeitraum 2008-2018 identifiziert. Sie durchsuchten sechs große Datenbanken und recherchierten zusätzlich manuell Studien aller OECD/DAC-Länder, multilateraler Geber (Weltbank, Asiatische Entwicklungsbank, UNO), NGOs sowie Publikationen des „Special Inspector General for the Reconstruction of Afghanistan“ (SIGAR). Anhand von strengen Inklusionskriterien wählten sie 148 Evaluierungen aus, teilten sie in fünf Gruppen auf, analysierten und fassten sie und in der Meta-Review zusammen. Entstanden sind daraus fünf Berichte sowie das zusammenfassende „Chapeau-Paper: Meta-Review of Evaluations of Development Assistance to Afghanistan, 2008 – 2018“. Auch die politische Ökonomie der Gebergemeinschaft ist in Frage zu stellen Die Meta-Review ist der zurzeit umfangreichste systematische Überblick über den Stand der internationalen Bemühungen in Afghanistan. Das Chapeau-Papier beleuchtet die Ergebnisse in dem Kontext, den die internationale Gemeinschaft vorfand. Zu nennen sind hier insbesondere Krieg, Terror und eine immer schlechtere Sicherheitslage. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die komplexe politische Ökonomie der afghanischen Gesellschaft mit ihren unberechenbaren Eigendynamiken. Von Tag eins an war die Gebergemeinschaft mit einem fragmentierten, instabilen politischen Umfeld konfrontiert, in dem es den Eliten teils an Reformwillen und vor allem an Kapazitäten zur Umsetzung fehlte. Deshalb gelang es kaum, die hereinströmenden Mittel produktiv zu nutzen und zu steuern. Auch die Unterstützung von Maßnahmen in sensiblen Sektoren wie Good Governance, Gender, Menschenrechte, Dezentralisierung und Antikorruption hielt sich in Grenzen. Insbesondere die SIGAR-Berichte belegen das ausgeprägte Rent-Seeking-Verhalten und die endemische Korruption, die wiederum das Misstrauen der Bevölkerung in die Regierung schürten. Im Gesamtkontext ist aber auch die politische Ökonomie der Gebergemeinschaft in Frage zu stellen. Sie stand unter einem enormen Handlungsdruck durch die Politik: Unter schwierigsten Sicherheitsbedingungen sollte sie schnelle Ergebnisse erzielen und die Köpfe und Herzen der Bevölkerung gewinnen. Grundsätze wie Wirksamkeit und Nachhaltigkeit wurden dabei mitunter hinten angestellt. Am besten funktioniert haben lokal eingebettete Projekte mit greifbarem Nutzen für die Bevölkerung Kleine Infrastruktur und Ausbildung haben die Lebensgrundlagen in ländlichen Gemeinden verbessert – doch die meisten der ehrgeizigeren Ziele wurden verfehlt. Bemerkenswert ist, dass die Befunde zu den Sektoren Governance, Afghanistan Reconstruction Trust Fund (ARTF), sub-nationale Regierungsführung, Stabilisierung, Bildung, Gesundheit, Gender, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, Infrastruktur und Kapazitätsentwicklung in allen fünf Berichten sehr ähnlich ausfallen. Es hat beachtliche Erfolge gegeben – der Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung, Grundbildung, Elektrizität und sauberem Trinkwasser wurde verbessert, Straßen und Brücken wiederaufgebaut, rudimentäre staatliche Dienstleistungen geschaffen. Kleine Infrastruktur und Ausbildung haben die Lebensgrundlagen in ländlichen Gemeinden verbessert – doch die meisten der ehrgeizigeren Ziele wurden verfehlt. Insgesamt sticht ein Befund deutlich heraus: Die internationale Gemeinschaft hat wiederholt überschätzt, was sie selbst und ihre afghanischen Partner leisten können, um einen raschen sozialen Wandel herbeizuführen. Am besten funktioniert haben bescheidene, lokal eingebettete Projekte mit unmittelbarem, greifbarem Nutzen für die Bevölkerung. Komplexe Projekte, die auf wirtschaftliche Entwicklung, Verhaltensänderungen, den Aufbau institutioneller Kapazitäten in der afghanischen Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit oder Gender abzielten, waren selten erfolgreich. Aufgrund der schwachen institutionellen Kapazitäten stellen fast alle Evaluierungen in Frage, dass die Ergebnisse nachhaltig Bestand haben. Die meisten Evaluierungen weisen darauf hin, dass die Erfolgsmaßstäbe unklar und die Monitoring- und Evaluationssyteme der Geber ungenügend sind. Wirkungen und Ergebnisse seien so nur schwer messbar und damit fehle die Grundlage, um zu lernen und sich konzeptionell und operativ besser aufzustellen. Der vielleicht bizarrste Befund der Meta-Review ist, dass trotz zahlreicher kritischer Evaluierungen nur wenige Geber ihre Ansätze grundlegend verändert haben. Maßnahmen stärker im systemischen Kontext denken Seit dem Abzug der International Security Assistance Force der NATO (ISAF) im Jahr 2014 hat das Afghanistan-Referat des BMZ, unter anderem aufgrund der Beratung von Professor Zürcher, viele der Erkenntnisse der Meta-Review antizipiert und aufgegriffen. Das Portfolio wurde kontinuierlich angepasst und bei der Implementierung wird zum Beispiel deutlich mehr Wert auf Capacity Building gelegt, um den nachhaltigen Betrieb und die Wartung der getätigten Investitionen sicherzustellen. Einiges bleibt noch zu tun: Es geht vor allem darum, die Maßnahmen noch stärker im systemischen Kontext zu denken, das polit-ökonomische Umfeld und die Anreizstrukturen zu analysieren sowie konzeptionell zu internalisieren und die Maßnahmen nach der Übergabe durch ein Ex-post Monitoringsystem zu beobachten. Auf diese Weise können wir die Evaluierbarkeit verbessern, langfristige Wirkungen genauer messen, mehr über das sozio-kulturelle Umfeld lernen und verstehen, warum bestimmte Dinge funktionieren und andere nicht. Realistischere und verbindliche Ziele setzen und mehr Wert auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit legen Für alle internationalen Geber gilt es, sich zukünftig und im kommenden Friedensprozess besser abzustimmen. Vielleicht zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in Afghanistan, dass der Ansatz „Viel hilft viel“ nicht selten das Gegenteil bewirkt. Die Ergebnisse der Meta-Review stimmen sehr nachdenklich, sie sind unbequem für die internationale Gebergemeinschaft und das ist positiv zu bewerten. Denn vor allem sollten wir die Meta-Review als eine großartige Chance begreifen, selbstkritisch Lehren zu ziehen und zu lernen. Für alle internationalen Geber gilt es, sich zukünftig und im kommenden Friedensprozess besser abzustimmen. Dazu gehört auch, realistischere und verbindliche Ziele zu setzen und mehr Wert auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit zu legen. Vor allem müssen wir die Anstrengungen verstärken, die Korruption zurückzudrängen, einen inklusiveren Entwicklungsansatz fahren und Konflikt treibende Ursachen wie Zugang zu Land, Wasser und Ressourcen zu entschärfen, um den Menschen in Afghanistan nach mehr als 18 Jahren Krieg endlich eine Perspektive zu geben. Die Berichte der Meta-Review sowie des Evaluierungs- und Monitoringansatzes des Afghanistan-Regionalreferats des BMZ können unter https://www.ez-afghanistan.de/en/page/results-german-cooperation abgerufen werden. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Friedenseinsätze Afghanistan Stabilisierung Thomas Feidieker Thomas Feidieker ist Referent im Afghanistan/Pakistan-Referat im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, zuständig für Wasser, Energie, Highway Kholm-Kunduz, Monitoring, Evaluation und Öffentlichkeitsarbeit. Kontakt: Thomas.Feidieker@bmz.bund.de.
Podcast S3E2 | COVID-19, Friedensverhandlungen und die deutsche Politik in Afghanistan In dieser Folge spricht Sarah Brockmeier mit Dr. Magdalena Kirchner, Leiterin des Afghanistan-Projekts der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie diskutieren die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Afghanistan, den Stand der Friedensverhandlungen und Politikoptionen für Deutschland nach dem bevorstehenden Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Land. PeacebyPeace • 02. Juni 2020
Artikel Entwicklung und Frieden zusammendenken: Anregungen für die deutsche Politik Die Erwartungen an die Entwicklungszusammenarbeit, zu Konfliktbearbeitung beizutragen, sind gestiegen. Eine neue Studie zeigt: Es fehlt nicht in erster Linie das Wissen dazu, was nötig wäre, damit Entwicklungszusammenarbeit zu Frieden beiträgt. Es mangelt an der Umsetzung – gerade beim Primat der Prävention und der uralten Frage nach der Politikkohärenz. HSFK-Autor*innen • 19. Februar 2020
Artikel International Rule of Law Assistance: Learning from Failures in Afghanistan 18 years of rule of law assistance in Afghanistan provide key lessons for donors: Ensure that assistance for security and assistance for justice go hand in hand and make fighting corruption a priority. In supporting local organizations, Germany should combine clear criteria for funding with the flexibility needed to work in a country like Afghanistan. Lutforahman Saeed • 08 May 2019