Prävention von Massenverbrechen: Von der Staatsraison zur Strategie

12. Mai 2021   ·   Robin Hering, Gregor Hofmann, Jens Stappenbeck

Deutschland bleibt hinter dem eigenen Anspruch zurück, die Verhinderung von Massenverbrechen systematisch zu priorisieren. Es fehlt weiterhin an einer Strategie, an Expertise und Personal. Die Bundesregierung sollte einen ressortübergreifenden Bestandsbericht erarbeiten, auf dessen Basis sie eine koordinierte Strategie entwickeln und Ressourcen aufbauen kann.

Die in Syrien, Jemen, Myanmar und China verübten Gräueltaten stehen zurzeit exemplarisch für Massenverbrechen wie systematische Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und mutmaßlich genozidale Gewalt. Auch aus Äthiopien gibt es vermehrt Berichte über ethnisch motivierte Gewalttaten und Massaker an der Zivilbevölkerung. Sie verdeutlichen, wie brutal und perfide, aber auch wie kompliziert und mit anderen politischen Faktoren verwoben schwerste Menschenrechtsverletzungen sind. Zudem zeigen insbesondere die aktuellen Entwicklungen in Myanmar und die Lage in Xinjiang aufs Neue, dass Massenverbrechen auch außerhalb von bewaffneten Konflikten auftreten. Ein ausschließlicher Fokus auf Gewaltkonflikte genügt nicht, um diese weltweit zu verhindern.

Die Bundesrepublik zeigt sich allerdings zögerlich bis tatenlos im Angesicht solcher Massenverbrechen: Als in Myanmar ab Mitte 2017 hunderttausende Rohingya massive Gräueltaten erlitten, war lange nichts von der Bundesregierung oder den Spitzenpolitiker:innen aller Parteien zu hören. Auch das Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen im Jemen, welches laut UN-Expert:innen das „Gewissen der Menschheit schockieren sollte“, führte hierzulande zwar zu Debatten über Waffenlieferungen, nicht aber zu konkreten Präventions- und Lösungsstrategien. Und während westliche Partner deutlich Stellung gegenüber Chinas Verbrechen an der uigurischen Bevölkerung beziehen, besticht die Bundesregierung bislang durch lautes Schweigen. Einen Abschiebestopp an das menschenrechtsverletzende Assad-Regime ließ die Innenministerkonferenz Ende 2020 auslaufen.

Massenverbrechen stellen eigenständige Typen politischer Gewalt dar, die spezifisch analysiert und adressiert werden müssen. So wie für die Analyse und Prävention von Terrorismus ganz selbstverständlich fachspezifische Expertise, Strukturen und Konzepte anerkannt sind, ist dies auch für Massenverbrechen erforderlich. Während andere Staaten wie die USA dies schon länger realisiert und entsprechend umgesetzt haben, hinkt Deutschland hinterher und verpasst damit die Chance für ein effektiveres Engagement. Das Verhindern von Völkermord und schwersten Menschenrechtsverletzungen wurde in den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ zur deutschen Staatsraison erklärt. Ein wichtiger Schritt! Doch was ist in dieser Hinsicht passiert?

Nur die nachträgliche gerichtliche Aufarbeitung von Massenverbrechen reicht nicht aus

Im Bericht über die Umsetzung der Leitlinien der Bundesregierung findet sich bedauerlicherweise wenig zur Prävention von Massenverbrechen. Auf das Staatsraison-Bekenntnis der Leitlinien wird kein einziges Mal Bezug genommen. In ihrem Bericht verweist die Bundesregierung im Hinblick auf die Querschnittaufgabe Menschenrechtspolitik auf den „Aktionsplan Menschenrechte der Bundesregierung 2021-2022“. Zudem gründete sie eine neue Arbeitsgruppe RSV (Rechtsstaatsförderung, Sicherheitssektorreform, Vergangenheitsarbeit und Versöhnung), die unter anderem die neue Transitional Justice Strategie in ressortgemeinsame Arbeit überführen soll.

Zum Themenbereich Massenverbrechen verweist der Umsetzungsbericht auf den Einsatz für die Stärkung der internationalen Strafgerichtsbarkeit sowie die Unterstützung der EU- und UN-Sanktionsregime. Insbesondere die deutsche Justiz hat in den vergangenen Jahren tatsächlich viel erreicht: Im Zuge der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Syrien und der Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staats wurde beispielsweise die „Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen“ zu einem eigenen Referat im Bundeskriminalamt (BKA) aufgewertet und personell gestärkt. Gleichzeitig gab es Fortschritte in der Anwendung des im Völkerstrafgesetzbuch verankerten Weltrechtsprinzips. Beispielhaft ist der weltweit erste Prozess gegen das syrische Folterregime.

So wichtig die gerichtliche Aufarbeitung von Massenverbrechen ist und so vorbildlich das deutsche Engagement in diesem Bereich bewertet werden kann: Es bleibt zu lückenhaft und zu oft wirkungslos, um aktuellen Gräueltaten Einhalt zu gebieten oder gar abschreckend auf künftige Täter zu wirken. Der Staatsraison wird dies noch nicht gerecht.

Scheitern an den eigenen Ansprüchen

Deutschland scheitert insofern am in den Leitlinien selbst formulierten Anspruch. Unter dem Begriff der Staatsraison wird üblicherweise verstanden, dass diese grundlegenden staatlichen Interessen Vorrang vor anderen Interessen hätten. Bei der Prävention von Völkermorden und anderen Massenverbrechen haben staatliche Stellen demnach stets zu prüfen, ob und inwiefern sie mit ihren Handlungen solchen Verbrechen entgegenwirken können oder sie zumindest nicht verstärken.

Doch die hierfür erforderliche systematische Perspektive ist bislang nicht zu erkennen: Zwar haben Krisenprävention und -früherkennung an Bedeutung für die deutsche Außenpolitik gewonnen, allerdings existiert bislang kein dezidiertes Konzept zur Prävention von Massenverbrechen. Es mangelt an Strategie und politischer Prioritätensetzung. Auch birgt ein ausschließlicher Fokus auf Gewaltkonflikte die Gefahr blinder Flecken.

Insgesamt fehlt es an spezifischer Expertise und thematischer Sensibilisierung. Bis zur Verabschiedung der Leitlinien verfügte die gesamte Bundesregierung über nur eine volle Analyst:innenstelle im Auswärtigen Amt (AA) mit Bezug zur Prävention von Massenverbrechen und der Umsetzung der internationalen Schutzverantwortung (engl. Responsibility to Protect, R2P). Seitdem wurde diese eine Stelle sogar auf einen 50%-Anteil reduziert. Ein „R2P Focal Point“ war 2015 bei der Schaffung der Abteilung S auf stellvertretender Abteilungsleitungsebene angesiedelt. Seit längerem befindet sich diese Stelle nur noch auf Referatsleitungsebene. Ernsthaftes Engagement sieht anders aus.

Es ist Zeit für einen ressortübergreifenden Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen

Um die Lücken zu füllen, sollten die Ministerien einen ressortübergreifenden Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen erarbeiten. Dieser muss neben AA und dem BMZ auch das BMVg, BMWi, BMI, BMF und BMJV sowie das Kanzleramt einbeziehen. Er sollte sich schwerpunktmäßig der Frage widmen, wie innerhalb der bestehenden Strukturen eine sogenannte Atrocity Prevention Lens integriert werden kann. Dies empfehlen neben der NGO Genocide Alert auch internationale Expert:innen und die UN.

Ein Bestandsbericht erfordert eine kritische Betrachtung außenpolitischer Instrumente und Entscheidungen und sollte auch strukturelle Risikofaktoren für Massenverbrechen berücksichtigen. Dazu zählen beispielsweise eine Geschichte vergangener Massenverbrechen bei anhaltend schwacher Staatlichkeit oder politischer Instabilität verknüpft mit ethnischen Spannungen. Die einzelnen Ressorts müssen sich intensiver austauschen über Informationen zu diesen und weiteren Risikoindikatoren, die etwa der Frühwarn-Analyserahmen des UN-Büros für Völkermordprävention und R2P benennt. Dies gilt insbesondere, wenn konkrete Erkenntnisse über Kapazitäten und Motivationen potentieller Täter:innen hinzukommen (z.B. Waffen horten oder ein Anstieg an Hate Speech) oder Lageberichte über Ereignisse, die Massenverbrechen auslösen könnten (z.B. gewaltsame Übergriffe, Regierungskrisen oder revolutionäre Umbrüche). Darüber hinaus sollte ein Bestandsbericht Möglichkeiten darstellen, ressortübergreifendes politisches Handeln gegenüber potentiellen staatlichen und nichtstaatlichen Täter:innengruppen zu koordinieren.

Mehr Koordinierung, mehr Expertise und mehr Personal

Auf Grundlage eines solchen Bestandsberichtes sollte eine koordinierte Strategie entwickelt und Fachexpertise zur Prävention von Massenverbrechen durch Fortbildungen und Neueinstellungen ausgebaut werden.

Eine im März 2021 veröffentlichte Studie zum Handeln der Bundesregierung im Angesicht des Völkermordes in Ruanda 1994 unterstreicht die Bedeutung von Ressortkoordination, thematischer Expertise und ausreichend Personal: Die verantwortlichen Stellen in Deutschland wussten damals mehr über die eskalierende Lage, als bislang bekannt war. Doch zum einen fehlte es an Verständnis für die Besonderheiten genozidaler Prozesse, zum anderen fand keine Koordination zwischen den Ressorts statt. Im Resultat blieb die Bundesrepublik tatenlos, während 800.000 Menschen in rund 100 Tagen ermordet wurden.

Spezifisch mit der Verhinderung von Massenverbrechen betraute Positionen, wie die R2P Focal Point-Stelle, müssen sich mit Ansprechpersonen anderer Regierungen vernetzen. Darüber hinaus sollten sie aber auch Vorschläge für eine Verankerung der Prävention von Massenverbrechen im deutschen Regierungshandeln erarbeiten und entsprechende Aktivitäten koordinieren. Denn genau hier besteht die Lücke: Die Verhinderung von schwersten Menschenrechtsverletzungen und Völkermord muss permanent und vorrausschauend bei analytischen Lagebewertungen und politischen Handlungsentscheidungen mitbedacht und verfolgt werden – und das nicht nur im AA, sondern auch im Kanzleramt, BMZ, BMWi und BMI.

Warum gerade ressortübergreifende Berichte und Verantwortlichkeiten sowie die Kenntnis des Konzepts der Massenverbrechenprävention auch jenseits des AA wichtig sind, zeigt die Situation der Uiguren in China. Außenwirtschaftshandeln kann nicht unabhängig von schweren Menschenrechtsverletzungen in Partnerstaaten umgesetzt werden. Unternehmen, die sich an der Entwicklung von Maßnahmen zur gezielten Überwachung ethnischer Minderheiten beteiligen, dürfen nicht am Aufbau der digitalen Infrastruktur beteiligt werden, auf denen die Informationsflüsse unserer demokratischen Gesellschaft fußen.

Es ist Zeit zu handeln!

Selbst unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump gelang in den USA ein Ausbau der Kapazitäten zur Mass Atrocity Prevention aufgrund der großen und – eigentlich selbstverständlichen – parteiübergreifenden Unterstützung. Warum bewegt sich ausgerechnet in Deutschland nichts, wo die Leitlinien mit dem Begriff der Staatsraison doch bereits die offensichtliche Brücke zur historischen Verantwortung geschlagen haben? Die Bedeutung der Prävention von Massenverbrechen wurde in den Leitlinien, auf Gedenkveranstaltungen und auch bei einer Anhörung im Bundestag unterstrichen. Die Bunderegierung sollte dem nun Taten folgen lassen und eine entsprechende Strategie entwickeln, die alle Ressorts miteinbezieht und Expertise aufbaut.

Atrocity Prevention Krisenprävention Ressortgemeinsamkeit

Robin Hering

Robin Hering ist ehrenamtlicher stellvertretender Vorsitzender von Genocide Alert. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter forscht er an der Universität Passau zu Möglichkeiten des Schutzes von Zivilisten durch Schutzzonen sowie zum Umgang der deutschen Politik und Gesellschaft mit Massenverbrechen-Fällen.

Gregor Hofmann

Gregor Hofmann ist ehrenamtlicher Vorsitzender von Genocide Alert. Er ist zudem Mitglied im Forum Neue Sicherheitspolitik der Heinrich Böll Stiftung. Beruflich wechselt er derzeit vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), wo er bislang wissenschaftlicher Referent der Institutsleitung war, an das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) als Referent in den Stab der Präsidentin.

Jens Stappenbeck

Jens Stappenbeck ist Geschäftsführer von Genocide Alert und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), wo er zu Möglichkeiten der Risikoanalyse und Frühwarnung forscht. Er arbeitet außerdem als Superforecaster/Berater bei Good Judgement Inc.