„Nie wieder?“ Massenverbrechen effektiver verhindern

16. Mai 2018   ·   Jens Stappenbeck

Die Verhinderung von schwersten Menschenrechtsverletzungen gehört zur deutschen Staatsräson, so die Bundesregierung in den Leitlinien. Dann gilt es jetzt die Ärmel hochzukrempeln. Die Bundesregierung sollte die Prävention von Massenverbrechen als eine ressortübergreifende Aufgabe anerkennen, einen Bestandsbericht über deutsche Kapazitäten erstellen und in bessere Frühwarnmechanismen investieren.

Völkermord und andere schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, gehört zur deutschen Staatsräson. So hielt es die letzte Bundesregierung in den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ fest. Damit hat sich die Forderung von Genocide Alert und anderen, die Prävention von Massenverbrechen stärker zu priorisieren, erfolgreich in den Leitlinien niedergeschlagen. Die Bundesregierung bekannte sich außerdem erneut zum Prinzip der Internationalen Schutzverantwortung (engl. Responsibility to Protect, kurz: R2P) und betonte insbesondere, die Weiterentwicklung ziviler Ansätze unterstützen zu wollen.

Das ist gut so, denn die Bundesrepublik besitzt nicht nur eine besondere historische und moralische Verantwortung. Sie hat auch handfeste wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen an der Prävention von Massenverbrechen. 

„Nie wieder?“ Massenverbrechen effektiver verhindern

Abbildung: Die Flucht vor Massenverbrechen

73% der beim UNHCR registrierten 17,2 Mio. Flüchtlinge stammen aus nur zwölf von Massenverbrechen betroffenen oder bedrohten Staaten. Sie stellen die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge in Deutschland und Europa, die vor allem aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Nigeria stammen. Aus diesen Staaten kamen auch 70% der 262.000 Flüchtlinge, deren Asylanträge im Jahr 2017 vom BAMF bewilligt wurden. Dennoch floh nur eine sehr kleine Minderheit nach Europa: Die Mehrheit der 17,2 Mio. Flüchtlinge hält sich vor allem in instabilen Nachbarstaaten auf. Von den insgesamt 67,7 Mio. bei der UNHCR registrierten Schutzbedürftigen, leben sogar 65% (43,8 Mio.) innerhalb ihrer Heimatstaaten, wo sie häufig weiteren Übergriffen ausgesetzt sind. 

„Nie wieder?“ Massenverbrechen effektiver verhindern

Abbildung: Massenverbrechen und bewaffnete Konflikte

Hunderttausende wurden in den von Massenverbrechen betroffenen oder bedrohten Staaten getötet; 147.000 allein im Jahr 2017. Viele der erfassten Situationen zählen zu den brutalsten Konfliktgebieten weltweit: 87% aller von ACLED im Jahr 2017 in 71 Staaten erfassten Toten und 84% aller Zivilisten wurden in nur zehn der zwölf von Massenverbrechen betroffenen oder bedrohten Staaten getötet. Wie Nordkorea und Myanmar unterstreichen, sind Massenverbrechen und Bürgerkriege jedoch nicht deckungsgleich. Massenverbrechen können auch außerhalb bewaffneter Konflikte verübt werden.

Weitere grausame Tatbestände von Massenverbrechen sind zudem quantitativ kaum erfassbar, erklären aber, weshalb die Anzahl der Flüchtlinge aus Staaten wie der Zentralafrikanischen Republik und Myanmar so hoch ist, selbst wenn kein schwerer Bürgerkrieg vorliegt. Plünderungen, Zerstörungen von Wohngebieten, Vergewaltigungen, Entführungen, Folter, Krankheiten und Hungersnöte verursachen immenses Leid, traumatisieren Gesellschaften über Jahrzehnte, destabilisieren ganze Regionen – und sind prinzipiell vermeidbar. Leider schweigen die Leitlinien ausgerechnet darüber, wie die Staatsräson konkret in die Praxis umgesetzt werden könnte.  

Blinde Flecken & Handlungsoptionen

In Deutschland mangelt es nicht nur an institutioneller Verankerung und politischer Koordination, sondern ganz grundsätzlich an einer Übersicht über Zuständigkeiten und verfügbaren Instrumenten für die Prävention von Massenverbrechen. Damit unser Engagement in Krisenstaaten effektiv ist, muss die Bundesregierung deshalb zunächst mit dem Aufbau von Kapazitäten bei uns zu Hause beginnen. Dabei lohnt sich ein Blick auf nationale Mechanismen zur Prävention von Massenverbrechen in anderen Staaten wie zum Beispiel das US-amerikanische Atrocity Prevention Board und ICGLR Genocide Prevention Committees. Diese nutzen, wie die Vereinten Nationen, Forschungsergebnisse zu spezifischen Indikatoren, Akteursmotivationen und Eskalationsdynamiken zur frühzeitigen Erkennung von Massenverbrechen und koordinieren präventives Engagement in ressortübergreifenden Gremien.

In einem Handlungsleitfaden für Parlamentarier zur Prävention von Massenverbrechen zeigt Genocide Alert blinde Flecken innerhalb der Bundesrepublik und 27 konkrete Handlungsoptionen für Parlamentarier auf. Die gute Nachricht: Die Strukturen der zivilen Krisenprävention sind derart aufgestellt, dass dringend nötige Verbesserungen nicht nur machbar, sondern im Zuge der aktuellen Neustrukturierung auch kostengünstig sind. Die wichtigsten Punkte für die Bundesregierung:  

Die Prävention von Massenverbrechen muss als ressortübergreifende Aufgabe verstanden werden

Die Prävention von Massenverbrechen kann nicht nur vom Auswärtigen Amt bewerkstelligt werden: Kurzfristige, operative Maßnahmen alleine reichen nicht. Vielmehr gilt es strukturelle Risikofaktoren für Massenverbrechen einzudämmen. Dazu zählen unter anderem hohe soziale und ökonomische Ungleichheiten zwischen Gruppen, hohe Kindersterblichkeitsraten, schlechte Regierungsführung und schwache staatliche Strukturen. Diese müsste eine zielgerichtete Entwicklungszusammenarbeit angehen, die maßgeblich über die akute Brandbekämpfung hinausgeht. Da die Bundesregierung das Verhindern von Massenverbrechen bislang nicht als ressortübergreifende Zielsetzung versteht, ist diese Aufgabe für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im besten Fall nur ein Nebenprodukt. Für eine effektive Prävention ist sie zu verstreut und isoliert.  

Dies zeigt das Beispiel Nigeria: Außenpolitisch liegt die Aufmerksamkeit auf den Gräueltaten Boko Harams im nördlichen Borno. Immerhin 54% der 2.130 getöteten Zivilisten wurden im Jahr 2017 aber in anderen Provinzen ermordet; allein 360 durch Fulani. Diese semi-nomadischen Viehbesitzer wurden zunehmend vom Zugang zu Weideflächen ausgeschlossen und überfallen seit Jahren Bauern und Dörfer. Racheakte lokaler Milizen treffen immer öfter andere Ethnien. Zwischen Januar und April 2018 wurden nun bereits 840 Zivilisten durch Fulani getötet; fünfmal mehr als durch Boko Haram im gleichen Zeitraum und doppelt so viele wie durch sämtliche Akteure im gesamten Sudan im ganzen Jahr 2017. Projekte wie die BMZ-Sonderinitiative „Grünes Innovationszentrum Nigeria“, die sich hauptsächlich auf die Aus- und Fortbildung der Bäuerinnen und Bauer in Nigeria konzentriert, können dieser Gewaltspirale nicht entgegenwirken. Im schlimmsten Fall könnten solche Maßnahmen die Gewalt sogar anheizen, wenn sich dadurch der Eindruck festigt, dass sesshafte Bauern bevorteilt werden.  

Wirksame politische Aufmerksamkeit erreichen derartige Konflikte weiterhin viel zu oft erst, wenn es bereits zu spät ist. Und Herder-Farmer-Konflikte sind bekanntlich nicht die einzige Problematik. Nachdem die Gräueltaten in Rakhine in Myanmar nicht verhindert werden konnten: Was könnten deutsche Akteure dazu beitragen, dass sich Rohingya in den Flüchtlingslagern in Bangladesch nicht radikalisieren? Wie könnten sie dazu beitragen, Gewalttaten gegenüber Zivilisten durch die zahlreichen bewaffneten Gruppierungen im Irak zu vermeiden? Durch welche Programme könnten sie den afghanischen Staat darauf vorbereiten, die Taliban zu integrieren und gleichzeitig Minderheiten zu schützen? Diese Fragen dürfen nicht nur in die Zuständigkeit eines einzelnen Ressorts fallen, sondern benötigen Input der Geheimdienste und der Ministerien für Wirtschaft, Verteidigung, Justiz und Entwicklung, die bei der Prävention von Massenverbrechen und dem Stichwort Responsibility to Protect nicht lediglich aufs Auswärtige Amt verweisen dürfen.  

Notwendig und kostengünstig: Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen

Nach den Leitlinien gilt es nun, die Ärmel hochzukrempeln und sich an die konkrete Umsetzung der Staatsräson zu machen. Das bedeutet zunächst vor allem: Institutionelle Voraussetzungen schaffen. Die Bundesregierung sollte einen Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen in Auftrag geben. Dieser sollte Kapazitäten in allen relevanten Ministerien zusammenstellen, einen Überblick über Zuständigkeiten und Handlungsoptionen bieten, Instrumente definieren, die sich zur frühzeitigen Prävention eignen und ein Konzept vorschlagen, wie die Bundesregierung ihr präventives Engagement koordinieren sollte. Kurzum: Der Bestandsbericht sollte einen Vorschlag für einen nationalen Mechanismus zur Prävention von Massenverbrechen entwickeln.

Anknüpfungspunkte, um einen solchen Bestandsbericht zu erstellen und einen derartigen Mechanismus zu entwickeln, bieten der im Jahr 2008 veröffentlichte Bericht der US-amerikanischen Genocide Prevention Task Force, der 2016 veröffentlichte USAID Field Guide zur Prävention von Massenverbrechen und das 2017 veröffentlichte AIPR-Booklet on National Mechanisms. Auch das dritte Global Action Against Mass Atrocity Crimes-Treffen (GMAAC) wird sich im Mai 2018 der Etablierung nationaler Mechanismen widmen.

Ein deutscher Mechanismus zur Prävention von Massenverbrechen sollte sich pragmatisch an der bestehenden Architektur der deutschen Zivilen Krisenprävention orientieren und eine sogenannte mass atrocity prevention lens integrieren, die sicherstellt, dass Risiken für Massenverbrechen rechtzeitig erfasst und ihre Folgen für präventives Engagement immer mitbedacht werden. Das ist kostengünstig und von großem Ertrag. Es erfordert allerdings, Frühwarnkapazitäten zu evaluieren und Erkenntnisse in ohnehin angestrebten Koordinationsgremien einzuspeisen.

Frühzeitige Erkennung von Massenverbrechen

Risikosituationen frühzeitig zu erkennen, ist Grundvoraussetzung für effektives Engagement. Zumindest bis zum Neustart des Genocide Alert Monitors existiert in Deutschland derzeit kein einziges Frühwarnprojekt für Massenverbrechen. Das wird der Problematik nicht gerecht, denn bewaffnete Konflikte und Massenverbrechen sind nicht deckungsgleich, wie Myanmar jüngst erneut unterstrich. Auch wenn das grundsätzliche Risiko für Massenverbrechen an den Rohingya bekannt war, führte der Fokus auf die bewaffneten Konflikte in anderen Provinzen Myanmars und den Demokratisierungsprozess zu einer massiven Fehlkalkulation. Die katastrophalen Auswirkungen konnte der geschäftsführende Außenminister Ende 2017 per Hubschrauber über einem Lager in Bangladesch mit 830.000 Flüchtlingen begutachten. Zudem gibt es politisch sehr stabile Staaten wie Nordkorea, in denen Massenverbrechen verübt werden. Auch Syrien wurde auf keinem Index für politische Instabilität geführt – bis Massenverbrechen bereits begangen wurden.

Sollen Massenverbrechen mit angemessenem Engagement verhindert werden, muss der Ressortkreis Zivile Krisenprävention deshalb vergleichsweise seltene Risikosituationen sowie potenzielle Straftäter so zielsicher und frühzeitig wie möglich identifizieren. Modelle zur Evaluierung politischer Instabilität und zur Vorhersage von Bürgerkriegen reichen nicht aus. Die Bundesregierung sollte deshalb evaluieren, inwiefern bestehende Analysen wie das PreView-Datenprojekt im Auswärtigen Amt und das qualitative BMZ-Ampelsystem Risiken für Massenverbrechen inner- und außerhalb bewaffneter Konflikte erfassen können.

Die Bundesregierung sollte zudem einen Fond für Programmierwettbewerbe wie die Tech Challenge for Atrocity Prevention oder die IARPA Geopolitcal Forecasting Challenge einrichten, um kostengünstig neue Ansätze und Codes zu sammeln. Ergänzend könnten auch Erkenntnisse nichtstaatlicher Monitoringprojekte in die angestrebten Koordinationsgremien integriert werden, wie es etwa in Tansania der Fall ist. Diese könnte etwa der Beirat Zivile Krisenprävention sammeln und einspeisen. Dafür bräuchte der Beirat aber ein klares Mandat, ein Budget und ein Sekretariat. Auch die Idee einer digitalen Vorhersageplattform ist weiterhin sinnvoll.

Mehr Stellen für Prävention & Aufwertung des R2P Focal Points

Identifizieren Frühwarnsysteme Risikostaaten, sollte innerhalb von Länderberichten verpflichtend über Anzeichen für Massenverbrechen berichtet werden. Dafür braucht es mehr Diplomaten in Krisenstaaten. Auch das Bundeskriminalamt und das Referat für Völkerstrafrecht beim Generalbundesanwalt brauchen dringend mehr Stellen, um Massenverbrechen juristisch aufzuarbeiten, Verantwortliche zu bestrafen und potenzielle Täter abzuschrecken.

Zuletzt sollte das Auswärtige Amt die Position des R2P Focal Points unbedingt in die Zuständigkeit eines eigenen Beauftragten des Auswärtigen Amtes für die Schutzverantwortung verlagern. In der bisherigen Verankerung bei der stellvertretenden Leitung der Abteilung S des Auswärtigen Amtes fallen die Aufgaben des Focal Points mit einer zu großen Vielzahl weiterer Aufgaben zusammen. Den Focal Point aufzuwerten, würde einen erheblichen Fortschritt in der Institutionalisierung der Prävention von Massenverbrechen darstellen. Wie ursprünglich beabsichtigt, könnte der/die Beauftragte für die Schutzverantwortung Expertise zur Prävention von Massenverbrechen bündeln und verschiedene staatliche und nichtstaatliche Initiativen miteinander in Einklang bringen.

Atrocity Prevention Menschenrechte Frieden & Sicherheit

Jens Stappenbeck

Jens Stappenbeck ist Geschäftsführer von Genocide Alert und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), wo er zu Möglichkeiten der Risikoanalyse und Frühwarnung forscht. Er arbeitet außerdem als Superforecaster/Berater bei Good Judgement Inc.