Maritime Sicherheit: Nicht nur militärisch, auch zivil investieren!

14. August 2018   ·   Sebastian Bruns

Durch die tektonischen Verschiebungen der außen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen wird maritime Sicherheit zukünftig eine Schlüsselrolle spielen. Die Bundesregierung sollte sie die Potentiale und Flexibilität maritimer Kräfte nutzen und sich zum Beispiel durch ein Hospitalschiff in „Good Boat Diplomacy“ profilieren.

Die Wahl Deutschlands als nicht-ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat ist eine große Chance für die Bundesrepublik. Einerseits kann sie Verantwortung in aktuellen Krisen und Konflikten übernehmen, andererseits auf der Bühne der Weltöffentlichkeit die Aufmerksamkeit auf Jahrhunderttrends lenken. Fernab von New York stehen in Berlin spätestens seit 2016 fundamentale sicherheitspolitische Verwerfungen auf der Tagesordnung: (1) die Zukunft der NATO und der EU, (2) die stark empfundene, neue konventionelle Bedrohung durch Russland und (3) der Umfang des künftigen deutschen (Bündnis-)Verteidigungsbeitrags.

Diese Herausforderungen erschüttern die politische Elite und Bevölkerung in Deutschland nachhaltig. Doch gerade jetzt ist politischer Mut gefragt, um die kollektive Sicherheit ganzheitlich anzugehen und Themen wie Klimawandel, Demographie, Bildung und Armutsbekämpfung angesichts der Rückkehr von Landes- und Bündnisverteidigungsfragen nicht aus den Augen zu verlieren. Eine Nation wie die Bundesrepublik darf es sich nicht länger leisten, Sicherheitspolitik nach Gefühl und als Rosinenpickerei anzugehen. Vielmehr braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, ohne den Deutschland in beiden Sicherheitspolitikfeldern Kapital verspielen würde. Die maritime Sicherheit bietet hierfür ein breites und geeignetes Handlungsfeld. Dies gilt nicht nur für das Verteidigungsministerium (BMVg), sondern auch für das Auswärtige Amt (AA) und das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

Deutschland ist ebenso maritim abhängig wie maritim anfällig

Die außen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen Berlin seine Politik formuliert, verschieben sich tektonisch – und das bereits seit Jahren. Die maritime Sicherheit spielt dabei eine Schlüsselrolle. Erstens, Europa ist von drei Seiten von Meeren umgeben. Zweitens, der Kontinent bezieht rund 90 Prozent seiner Rohstoff- und Veredelungsimporte über See und verschifft gleichzeitig seine Exportprodukte nach Amerika, Asien, Afrika und Australien über See. Ebenfalls etwa 90 Prozent des internationalen Datenverkehrs läuft über unterseeische Kabel. Der freie Zugang zu diesen Seewegen ist für die Industrienation Deutschland von vitaler Bedeutung. Allerdings hat, drittens, die Globalisierung dazu geführt, dass nicht mehr nur die Sicherheit der Seewege vor Kiel oder Wilhelmshaven, sondern auch die jener am Golf von Aden oder an der Straße von Malakka direkte soziale und politische Auswirkungen auf Deutschland hat. Die Verschlechterung von maritimer Sicherheit kann konkrete Versorgungs- und Stabilitätsprobleme mit sich bringen. Deutschland ist folglich ebenso maritim abhängig wie maritim anfällig.

Wesentliche Einsätze der Deutschen Marine im letzten Jahrzehnt – wie die Ertüchtigung der libanesischen Seestreitkräfte im Rahmen der UNIFIL-Task Force zur See (seit 2006), der Anti-Piraterie-Einsatz „EU NAVFOR Atalanta“ vor Somalia (seit 2008), der Seenotrettungs- und Aufklärungseinsatz „EU NAVFOR Sophia“ im zentralen Mittelmeer (seit 2015) – stellen den Versuch dar, Symptome wie maritimen Terrorismus, Seeräuberei oder Massenmigration zu bewältigen. Maritime Sicherheit ist aber auch ein wesentlicher Frühwarnindikator von Staatszerfall, Ressourcenkonflikten und vielfältigen sozialen Spannungen. In diesem Sinne bietet die See wiederum die Möglichkeit, sicherheitspolitische Herausforderungen strategisch zu adressieren, bevor diese Europa ernsthafter bedrohen.

Marinen sind die „Schweizer Armeemesser“ der Außenpolitik

Aufgrund ihrer einzigartigen Skalierbarkeit und Flexibilität gelten Marinen und hochseefähige Küstenwachen als die „Schweizer Armeemesser“ der Außenpolitik. Deutsche Fregatten etwa sind ebenso in der Lage, U-Boote zu jagen oder mit NATO-Alliierten zu interoperieren, wie Seenotrettungen oder diplomatische Hafenbesuche durchzuführen. Das Internationale Seerecht legitimiert die Freiheit der Hohen See ebenso wie Recht auf friedliche Durchfahrt in Küstengewässern von Drittstaaten. So können maritime Kräfte auch in entfernte Weltregionen wirken, ohne politisch heikle Zugeständnisse wie Überflugrechte oder Stationierungsabkommen wie bei anderen Auslandseinsätzen sichern zu müssen.

Dieses Thema rückt auch wieder in den Fokus der Bundeswehr. Wesentliches Merkmal mit Blick auf die Ausrichtung der Bundeswehr ist die Rückbesinnung auf den konventionellen Konflikt an Europas Randlagen. In sicherheitspolitischen Zirkeln wird nun wieder über Panzerbrigaden, Abschreckung, U-Boot-Jagd, Nord- und Südflanke und ebenjene Kontrolle von Seewegen gesprochen. Landes- und Bündnisverteidigung werden mit neuem Leben gefüllt. Und doch kommt diese Entwicklung zur Unzeit. Denn die Bundeswehr ist personell und infrastrukturell verkümmert, anknüpfend an den fundamentalen Wandel zur Einsatzarmee seit den 2000er Jahren intellektuell auf Stabilisierungseinsätze in Asien oder Afrika optimiert, unterfinanziert und gesellschaftspolitisch in weiten Teilen immer noch mit „gepflegtem Desinteresse“ (Bundespräsident a.D. Horst Köhler) gestraft. Der deutschen Verteidigungspolitik droht ein schmerzlicher Spagat zwischen kollektiver Sicherheit und Verteidigung.

Eine maritime außenpolitische Agenda

Nichts wäre fataler, als die Jahrhundertprobleme der kollektiven Sicherheit fernab von Europas Grenzen jetzt zugunsten der Landes- und Bündnisverteidigung auszublenden oder darauf zu hoffen, dass sich jemand anders aus der internationalen Staatengemeinschaft dieser Krisen annimmt. Hier kommen die deutsche Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit ins Spiel. Das Auswärtige Amt (AA) etwa fokussiert sich seit geraumer Zeit auf den Indischen Ozean, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) konzentriert sich vor allem auf Afrika. Beide Regionen haben klare maritime Dimensionen. Darüber hinaus liegen ohnehin 95 Prozent der größten Städte der Welt am Meer, 90 Prozent der Weltbevölkerung lebt innerhalb von 250 Kilometern von der See. Der Klimawandel, die Urbanisierung, die Auflösung staatlicher Ordnungsstrukturen, die Zunahme von Naturkatastrophen, Überfischung und potentielle Trinkwasserknappheit werden an der See besonders sichtbar und sind Symptome sicherheitspolitischer Problementwicklung.

Ein außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Gesamtansatz für maritime Sicherheit ist für Berlin deswegen nötiger denn je. BMZ und AA spielen hier noch eine untergeordnete Rolle. Gerade die Entwicklungszusammenarbeit steht vor der fundamentalen Frage, wie sie zwischen unterschiedlichen Zeitprioritäten und im Spannungsfeld zwischen moralischen und pragmatischen Rahmenbedingungen dirigiert wird. Zusammen mit aufgeschlosseneren Stellen im BMVg und Denkfabriken sollte daher über geeignete Maßnahmen nachgedacht werden. Die Vollausstattung der Deutschen Marine ist zwingend notwendig, wenn die deutsche Außenpolitik im maritimen Feld wirken möchte. Was ist aber mit innovativen Gedanken darüber hinaus, zum Beispiel ein von AA/BMZ betriebenes Hospitalschiff für die Bundesrepublik?

Eine weiße Flottille für Deutschland

In den USA sind gleich zwei solcher Schiffe ganz in weiß in Fahrt, während kürzlich eine Werft aus dem US-Bundesstaat Alabama gar eine High-Speed-Fähre als Basis künftiger Hilfsschiffe ins Spiel brachte. Für Außenminister Heiko Maaß und Entwicklungshilfeminister Gerd Müller böte sich die Gelegenheit zur Profilierung, solange die Grundsatzdebatte – „Was sind deutsche Interessen und wie werden sie konkret gesichert?“ – aus dem Kanzleramt absehbar nicht geführt werden wird. Zwei bis drei nach Handelsschiffstandards gebaute Offshore-Einheiten mit weißem Rumpf, Helikopterdeck, Klassenräumen, Spital und Unterkünften könnten als „Weiße Flottille“ der Bundesrepublik Deutschland in Fahrt kommen. Alternativ wäre auch ein viertes Schiff der von der Marine betriebenen Einsatzgruppenversorger der Berlin-Klasse denkbar. Die Marine kann hier extrem wertvolle Erfahrungen an die zivilen/gemischten Operateure weitergeben und so Lektionen aus den Operationen Atalanta, UNIFIL, Operation Sophia u.v.m. sichern.

Es handelt sich hier um eine pragmatische Beschaffungsmaßnahme, die zusätzlich zu den beschriebenen Vorteilen auch Deutschlands internationaler Positionierung als Zivilmacht dient. Es wäre ein strategischer Ansatz, dessen Fehlen oft diagnostiziert und noch häufiger beklagt wird. Kurzum: Die Bundesrepublik würde sich in „Good Boat Diplomacy“ statt in „Gun Boat Diplomacy“ versuchen.  

Somit kann sich die Bundesrepublik sowohl der Landes- und Bündnisverteidigung, als auch der kollektiven Sicherheit an entfernten Orten widmen. Eine Spitalflotte kann:

  • als „maritimer Arm des Technischen Hilfswerks“ bei humanitären Notlagen helfen,
  • medizinische Grundversorgung an den Küsten Afrikas und Südostasiens bieten und damit „Soft Power“ projizieren,
  • Interoperabilität mit regionalen Seestreitkräften üben, und
  • Grundlagenkenntnisse und Capacity Building im Bereich Maritime Domain Awareness vermitteln, worunter sicherheits-, wirtschafts- und umweltbezogene Entwicklungen auf, unter, über und an der See fallen, die die sicherheitspolitische Lage beeinträchtigen könnten.

AA und BMZ sollten gemeinsam mit BMVg die aus den maritimen Sicherheitsoperationen UNIFIL und Atalanta operativen und politischen Lehren anwenden, die UN-nahe International Maritime Organization (IMO) mit einbeziehen und so gleichsam die UN und das institutionelle Lernen der Bundesrepublik fördern.

Diplomatischer Gewinn für Berlin

Überwölbender Effekt wäre der diplomatische Gewinn für die Bundesrepublik: Maritime Kräfte haben von jeher auch außenpolitische Funktionen, die die Deutsche Marine seit ihrer Gründung stets „mit“ gemacht haben. Es wird Zeit, diesen mehr Bedeutung zu geben und die Deutsche Marine nachhaltig zu entlasten. Das kostet Geld, verspricht aber politisches Kapital. International wäre es ein wirkmächtiges Zeichen zu konkreter Verantwortungsübernahme durch Deutschland und Sinnbild für vorschauendes Handeln. Die Bundesregierung würde auf der Weltbühne zeigen, dass sie verstanden hat, auch globale Themen und die kollektive Sicherheit mit einem entsprechenden Ressourceneinsatz zu adressieren. Innenpolitisch würde deutlich, dass man weniger mit reaktiven und unpopulären Einsätzen wie in Afghanistan oder in Mali rechne, sondern die maritime Domäne als Handlungsfeld für Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit verstehe. Die politische Initiative wäre ein Stückweit zurückgewonnen.

Zivil-militärische Zusammenarbeit Early Action Frieden & Sicherheit Klimawandel

Sebastian Bruns

Dr. Sebastian Bruns leitet das Center for Maritime Strategy & Security (CMSS) am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK). Der Artikel erschien in ähnlicher Form im MarineForum 7/8-2018.