Leitlinien in der Praxis: Brauchen wir mehr „gemeinsame Analysen?“

10. Januar 2019   ·   Birgit Velte

Der erste Schritt zur ressortgemeinsamen Analyse sind gemeinsame Fragestellungen mit verbindlichen Ergebnissen. Hierfür können gemeinsame Analysestrukturen sinnvoll sein. Doch viel wichtiger ist eine Kultur des Informationsaustausches, die auf gegenseitigem Verständnis beruht. Die Ressorts sollten das Thema „Analyse“ nicht in die klandestine Ecke schieben, sondern als Querschnittsaufgabe würdigen.

In den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ bekennt sich die Bundesregierung zum ressortgemeinsamen Handeln in der Entwicklungs-, Friedens- und Sicherheitspolitik. Das bedeutet, das Vorgehen der Ressorts zu harmonisieren und komplementär zu gestalten. Der Anspruch der Bundesregierung geht allerdings sehr viel weiter und zielt auf eine „frühzeitige Strategieentwicklung und gemeinsame Planung“. Daraus ergeben sich Ansprüche an die Verfahren der gemeinsamen Analyse.

Gemeinsames Handeln ohne gemeinsame Strategie?

Die Ressorts, etwa für Auswärtiges, Entwicklung, Inneres oder Verteidigung, haben jeweils eigene Aufgaben. Ihre Informationen aus den Einsatzländern kommen meist von durchführenden Organisationen. Hierzu gehören nachgeordnete Behörden, Unternehmen, internationale sowie nicht-staatliche Einrichtungen. Entsprechend haben die Ressorts unterschiedlichen Bedarf an und Zugang zu Informationen sowie unterschiedliche Beurteilungskriterien. Der Austausch vorhandener Informationen (sowohl Quellen als auch Auswertungen) ist in vielen Politikfeldern zwar gut etabliert. Doch ressortgemeinsames Handeln beruht notwendigerweise darüber hinaus auf einer gemeinsamen Lagebeurteilung. Im Idealfall entwickelt die Bundesregierung daraus eine Gesamtstrategie, aus der sich wiederum gemeinsamer Informationsbedarf ableitet.

In der Praxis besteht solch eine Gesamtstrategie nur selten. Die Ressorts sind im internationalen Umfeld in eine Vielzahl multilateraler Prozesse eingebunden. So können mehrere deutsche Akteure in einem Einsatzland zwar zeitgleich, aber nicht aus den gleichen Gründen tätig sein. Das setzt einem „vernetzten Ansatz“ bisweilen Grenzen. Daher müssen die Ressorts ihre Mandate reflektieren und gemeinsame Nenner identifizieren, aus denen sich gemeinsame Fragestellungen ergeben. Denn Analyse ist kein Selbstzweck: Wenn es keine gemeinsamen Nenner gibt, müssen die Ressorts diese nicht zwangsläufig erzeugen.

Wer die richtigen Fragen stellt, erhält die richtigen Antworten

Gemeinsame Analysen können fach- und kontextspezifische Analysen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Die Ressorts sollten klare gemeinsame Fragestellungen identifizieren und von vorneherein mitdenken, wie eine gemeinsame Beurteilung in ihre individuellen Entscheidungsprozesse einfließt – vor allem, wenn sie den eigenen Schlussfolgerungen widerspricht. Sie sollten ihre begrenzten Ressourcen nur dann für gemeinsame Analysen einsetzen, wenn sie auf Grundlage der Ergebnisse zu handeln bereit sind. Die gemeinsamen Fragestellungen sollten die Ressorts in einem Analyseplan festhalten.

Häufig werden in der Praxis leider die richtigen Fragen gar nicht erst gestellt, oder die Fragestellungen so konzipiert, dass sie die gewünschten Ergebnisse bereits beinhalten. Problematisch wird das, wenn ein politisch favorisiertes, aber unrealistisches Szenario in der operativen Planung zu einer vorgegebenen Grundannahme wird. Die entsprechenden Programme gehen dann an der Realität vorbei. Und je mehr Zeit und Geld hineinfließen, desto schwieriger wird es, einen Kurswechsel politisch zu rechtfertigen. Daher ist es durchaus sinnvoll, den Analysten zu Raum geben, über den Tellerrand der politischen Rahmenbedingungen zu schauen.

Ein zielloser Informationsaustausch erhöht nur die Informationsflut

Wenn die beteiligten Akteure keine präzisen Fragen stellen, findet lediglich ein Informationsaustausch nach dem „je mehr, desto besser“-Prinzip statt. Ihre bereits gut beschäftigten Mitarbeiter lesen ohnehin meist die gleichen Informationen über ein Projektland, die häufig aus öffentlichen Quellen stammen und selten in der Landessprache sind. Ein zielloser Informationsaustausch erhöht nur die Informationsflut – mit geringem Erkenntnisgewinn, da die individuellen Berichte auf den gleichen Quellen beruhen oder Auswertungen zu fachspezifisch sind.

Wenn sie nicht auf spezifischen gemeinsamen Fragestellungen beruhen, bleiben auch gemeinsam erstellte Informations- und Analyseprodukte so generisch, dass sie die Ressortanforderungen zur Entscheidungsfindung nicht erfüllen. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte ließen sich durch Aufgabenteilung Redundanzen abbauen und Raum für tiefergehende Analysen schaffen. Die Ressorts müssen sicher sein, dass ihre spezifischen Fragestellungen berücksichtigt werden. Quellen, spezialisiertes Kontextwissen und Engpassressourcen wie Sprachkenntnisse könnten so optimal genutzt werden.

Strukturen sollten ad hoc geschaffen werden

In welchen Strukturen gemeinsame Analysen stattfinden, sollte im Einzelfall entschieden und im Analyseplan festgehalten werden. Die Entscheidungskriterien sind 1) die gemeinsame Strategie oder gemeinsamen Nenner, 2) die verfügbaren Ressourcen und 3) die Entscheidungsinstanz (Leitressort, Sondergesandter, dezentral). Wo letztendlich die politischen Entscheidungen getroffen werden, müssen alle dazu notwendigen Informationen zur Verfügung stehen.

Während ein Leitressort die eigenen Strukturen und Prozesse nutzen wollen wird, könnte ein zentral zuständiger Sonderbeauftragter durchaus Interesse an einer zentralen Analyseeinheit haben. Integrierte, multi-dimensionale VN-Friedensmissionen sind ein Beispiel dafür. Dem Sondergesandten des Generalsekretärs steht meist ein interdisziplinäres „Joint Mission Analysis Centre (JMAC)“ zur Verfügung. Dort analysieren Vertreter aller Fachrichtungen mit Zugriff auf die Informationen aller Komponenten (Militär, Polizei, zivil) exklusiv die Fragestellungen der Leitung. Das erleichtert die „informierte“ Entscheidungsfindung erheblich. Gleichzeitig kritisieren die Fachbereiche und dezentralen Standorte hierbei jedoch, dass den eigenen Analysten die Informationen entgleiten und das JMAC diese ohne Kontextwissen bisweilen fehlinterpretiert. Zudem fließen Informationen im streng hierarchischen VN-Berichtswesen oft nur in eine Richtung. Das gilt auch für die Ergebnisse der JMAC-Analysen, die dann nicht wieder an die operativ-taktische Ebene zurückgegeben werden.

Die Analyse dort belassen, wo das Kontextwissen vorhanden ist

Zentrale Analysestrukturen sind nicht unbedingt notwendig, insbesondere wenn die Entscheidungen in den einzelnen Ressorts verbleiben oder im internationalen Raum (z.B. VN, EU, NATO) getroffen werden. Es spricht einiges dafür, die Analyse dezentral dort zu belassen, wo das notwendige Kontextwissen vorhanden ist. In diesem Fall bearbeiten die Analysten der Ressorts im Analyseplan definierte gemeinsame Fragestellungen. Idealerweise stehen ihnen dazu auf allen Hierarchieebenen die Informationen der anderen Ressorts zur Verfügung. Die jeweiligen Ergebnisse geben sie nicht nur „nach oben“ weiter, sondern spiegeln deren Synthese auch wieder „nach unten“ zurück. Im operativen Tagesgeschäft können die Ergebnisse dann sowohl genutzt als auch validiert werden. Notwendig ist dann lediglich eine Art Sekretariat, welches die Beiträge zum Analyseplan koordiniert und bündelt. Die Sekretariatsfunktion sollte möglichst nah an der Entscheidungsebene angesiedelt sein. Sie kann von vorhandenen Organisationseinheiten, wie z.B. dem Büro eines verantwortlichen Staatssekretärs, übernommen werden, wenn diese die dazu notwendigen Ressourcen und Zuarbeit erhalten. 

Interdisziplinäre Analyseworkshops können ad hoc eine gute Ergänzung sein, wenn sie konkrete, als relevant empfundene Fragestellung bearbeiten. Lediglich Szenario-Workshops sollten gerade im Sinne der Krisenprävention auch ohne konkreten Anlass regelmäßig stattfinden, da die Erstellung von Szenarien kein einmaliges Unterfangen ist, sondern diese immer wieder neu bewertet werden müssen.

Raus aus der klandestinen Ecke!

Der Austausch von Informationen setzt Vertrauen und verbindliche Absprachen voraus, z.B. in Bezug auf Inhalt, Frequenz, Verbindlichkeit und Vertraulichkeit. Für die durchführenden Organisationen gelten sehr unterschiedliche Berichtsformate und -intervalle, ihre Auswertung folgt operativen Fragestellungen und sie sind nicht alle im gleichen Maße bereit (oder verpflichtet), über die Projektberichterstattung hinaus Informationen weiterzugeben. Wenn sie es tun, geben sie zum Teil nur rohe Daten weiter, weil ihnen die Weitergabe der eigenen Auswertung zu heikel ist, oder nur ihre Auswertung, um ihre Quellen zu schützen. Nicht alle Informationen eignen sich daher zur gemeinsamen Analyse.

Grundsätzlich sollten die Ressorts ihre Analysen aus der klandestinen Ecke befreien, um einen breiteren Kreis von externen Analysten einzubeziehen und ‚group think‘-Dynamiken entgegenzuwirken. Das hat gerade in sensiblen politischen Fragen natürlich Grenzen. Verbindliche Regeln zur Vertraulichkeit sind unumgänglich. Geheimhaltung kann allerdings übertrieben werden und entsteht auch aus den falschen Gründen – etwa aus Gewohnheit, um sich nicht für Fehleinschätzungen verantworten zu müssen, oder um die Deutungshoheit nicht zu verlieren.

Oft fehlt den Mitarbeitern schlichtweg die Zeit für tiefergehende Analysen. Es braucht zudem eine Weile, um Expertise und Vertrauen aufzubauen. Viel zu häufig landen Mitarbeiter gerade wenn sie Expertise entwickelt haben bei der nächsten Verwendung in einem ganz anderen Themenbereich. Auf ihr Wissen greift dann niemand mehr zurück, obwohl das durchaus möglich wäre und eigentlich selbstverständlich sein sollte. Die Bundesregierung sollte daher vermehrt Analystenlaufbahnen ermöglichen, in denen Mitarbeiter einer Region oder einem Thema langfristig treu bleiben, aber durchaus zwischen den Institutionen rotieren. So können sie das entsprechende Netzwerk, Fachexpertise, Sprach- und Landeskenntnisse erwerben. In Kombination mit den Generalisten ließe sich hier eine Balance schaffen, in der Wissen erhalten bleibt, ohne dass „Silos“ entstehen.

Die richtige Kultur des Informationsaustausches schaffen 

Grundsätzlich können viele der gemeinsamen Fragen mit vorhandenen Analysekapazitäten der Ressorts bearbeitet werden, für andere können gemeinsame Formate und Strukturen sinnvoll sein. Die methodischen Verfahren und technischen Hilfsmittel sind zweitrangig: Viel wichtiger ist es, eine Kultur des Informationsaustausches zu schaffen, welche auf gegenseitigem Verständnis der individuellen Aufgaben und Ziele beruht. „Analyse“ sollte kein klandestines Nischendasein führen, sondern als Querschnittsaufgabe gewürdigt und in allen Bereichen mit entsprechenden Ressourcen hinterlegt werden.

Friedenseinsätze Kommunikation

Birgit Velte

Birgit Velte ist unabhängige Beraterin im Bereich Frieden und Sicherheit. Sie war für die Vereinten Nationen tätig und hat u.a. ein Projekt zur Verbesserung der gemeinsamen Analyse und des Informationsaustauschs zwischen Friedenseinsätzen in der MENA-Region geleitet.