Rechtsstaatsförderung in fragilen Kontexten: Gibt es Lernerfahrungen?

05. März 2019   ·   Jens Deppe

Klassische Rechtsstaatsförderung stößt in fragilen und Post-Konflikt-Ländern schnell an ihre Grenzen. Denn in diesen Kontexten ist kaum ein Engagement politisch neutral oder gar unpolitisch, wie auch jüngste Evaluationen zeigen. Die Bundesregierung sollte daher bei neuen Projekten eine längere Vorbereitungs- und Analysephase einplanen, die konkreten Nutzen jeder externen Intervention ermitteln sowie früher und gezielter auf der lokalen Ebene ansetzen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Krisen verhindern, Konflikte bewältigen und Frieden fördern“ – diese drei Aufgaben im Titel der Leitlinien sind so umfassend, dass sie an die komplizierte Formulierung des nachhaltigen Entwicklungsziels Nr. 16 der Agenda 2030 der Vereinten Nationen erinnern: „Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.

In fragilen Kontexten ist die Förderung von Rechtsstaatlichkeit oft nicht die Priorität

Im Vergleich zu dieser weltweiten Kompromissformel der UN weist die erstgenannte Formulierung noch deutlicher auf fragile und Post-Konflikt-Staaten hin. Konkret gesagt gelten derzeit etwa 60% der Länder, in denen die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) aktiv ist, als „fragil“. In vielen von ihnen stößt die klassische Förderung von Rechtsstaatlichkeit schnell an gewisse Grenzen.

Hier stellen sich so grundlegende Fragen wie die zur Wiederherstellung der Sicherheitslage und der Legitimität des Staates. Die unmittelbare Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung ist wichtiger als alles andere. Rechtsstaatliche Institutionen erscheinen in vielen Kontexten erst einmal zweitrangig. Es kommt darauf an, dass der Staat das Vertrauen der Bevölkerung mit den Leistungen zurückerobert, die von ihm allgemein erwartet werden und die den sozialen Vertrag des Staates mit seinen Bürgerinnen und Bürgern erneuern (sog. „Output-Legitimität“).

Aber gibt es sie überhaupt, die klassische Förderung von Rechtsstaatlichkeit? Die Unabhängigkeit der Gerichte, Gewaltenteilung, Rechtssicherheit, Transparenz und die Partizipation der Bevölkerung waren vor allem in den post-sowjetischen Transformationsstaaten zentrale Forderungen. Sie sind auch heute noch wichtige Bestandteile unserer Förderung von Rechtsstaatlichkeit. Aber angesichts der Probleme fragiler und autoritär geführter Staaten rücken andere Herausforderungen stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Späte Erkenntnisse  

In Syrien stellte sich gleich als erstes die Frage, mit welchen Partnern es überhaupt legitim wäre, zu kooperieren. Selbst für Not- und Aufbauhilfe sind umfangreichere Ermittlungen notwendig. Für die Zusammenarbeit mit lokalen Gemeinden wurden ausgefeilte Legitimitätskriterien entwickelt, wie demokratische Legitimität oder pluralistische Zusammensetzung. Doch auch ihre Anwendung schützt nicht unbedingt davor, dass die Hilfe in die falschen Hände gelangt.

In länger anhaltenden Konflikten wie z. B. in Afghanistan hat sich gezeigt, dass es wenig Sinn macht, Rechtsstaatlichkeit zu fördern, ohne zuvor den Kontext genauer zu analysieren. Heute wird dem Westen vorgeworfen, zu wenig dafür getan zu haben, dass die afghanischen Reformer sich mit den Zielen und Instrumenten der Aufbauhilfe identifizierten („Ownership“). John Sopko, Spezieller Generalinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans, sagte 2015 im Interview: “Wir haben an einem Afghanistan gebaut, dass sie sich nicht leisten können” und meinte damit vor allem „Dinge, die nicht funktionieren; Dinge, die die Afghanen nicht kannten; die sie entweder nicht nutzen konnten oder nicht nutzen wollten; und Dinge, die nicht beibehalten werden konnten.“ Und im Jahr 2016 wurde der US-Botschafter Ryan Crocker mit den Worten zitiert: „Der letztendliche Grund des Scheiterns unserer Bemühungen war nicht der Aufstand … es war das Gewicht endemischer Korruption.

Eine weitere, nachträglich gesehen verblüffende Erkenntnis ist es, wie zusammenhanglos die internationale Gebergemeinschaft das Land Afghanistan über Jahre hinweg gefördert hat. Das betrifft nicht zuletzt auch die Justiz- und Verwaltungsreformen, die anfangs nur halbherzig verfolgt wurden und deren Ergebnisse bis heute umstritten sind.

Den Nagel nicht auf den Kopf getroffen

Was bedeuten die Erfahrungen mit Afghanistan für die Förderung von Rechtsstaatlichkeit? Bemerkenswert sind hier die Empfehlungen der britischen Kommission zu fragilen Staaten, Wachstum und Entwicklung. Sie formulieren eine klare Absage an das bisherige „OECD-Modell der politischen Governance“. Die ersten sechs lauten:

  • Hilf einer Regierungsbildung, die der Gewaltenteilung unterworfen ist und zugunsten der Allgemeinheit wirkt;
  • Hilf innerstaatliche Sicherheit zu schaffen, und zwar von Anfang an, schon während der Phase internationaler und regionaler Sicherheit;
  • Schlage Kapital aus den Dreh- und Angelpunkten, in denen Interventionen eine Aussicht auf Erfolg haben,
  • Gib nur begrenzt langfristige Ziele vor, mit Fokus auf die Bürger und ihre Identität,
  • Schau nach schnellen Erfolgen in kurzer Frist, um Vertrauen zu bilden,
  • Konzentriere auf wirtschaftliche Regierungsführung, nicht Politik.“

Diese Empfehlungen sind gut vergleichbar mit den Ergebnissen der OECD-Studie „Hitting the Target, but Missing the Point“ von 2017. Auch diese Studie handelt von der Notwendigkeit des Umdenkens. Vieles spricht dafür, dass die Förderung von Rechtsstaatlichkeit in fragilen und Post-Konflikt-Staaten allerseits als eine besondere Herausforderung angenommen wird. Auch hier wird die Abkehr von alten Konzepten gefordert.

Im Unterschied zu den oben zitierten Empfehlungen weist die OECD allerdings darauf hin, dass „vieles an der heutigen Fragilität und der Konflikte politischer Natur ist“. Unvoreingenommene polit-ökonomische Analysen, die alle staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen im Blick haben, sind daher ein Muss.

Der Wert der OECD-Studie liegt vor allem darin, selbst-reflexiv die Schwächen der internationalen Gebergemeinschaft aufzudecken und dabei auch die politische Dimension zu beleuchten. So benennt die Studie vier größere „Lücken zwischen den politischen Realitäten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und denjenigen fragiler Kontexte“:

1. Peacebuilding gap: Die Sicherheitsinteressen der Geber geraten oft in Konflikt mit den Prioritäten inklusiver und legitimer Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere, wenn die Geber selbst in die Konflikte verwickelt sind.

2. Statebuilding gap: Die Geber fokussieren sich zu sehr auf die zentralstaatlichen oder formalen Aspekte von Politik, um faktische politische Legitimität herzustellen. Dabei vernachlässigen sie weitergehende inklusive Ansätze zugunsten von Minderheiten und unterprivilegierten Gruppen.

3. Empowerment gap: Formale staatliche Institutionen allein erfassen nicht die Dynamik zwischen Staat und Gesellschaft. Es gilt, das Engagement über diese Institutionen hinaus in die Breite zu tragen.

4. Ownership gap: Durch politischen Dialog und ausreichend Zeit für Interventionen sollte mehr eigenes Engagement der Partnerländer erreichen werden, anstatt den eigenen Baukasten der Programmierung internationaler Zusammenarbeit in Szene zu setzen.

Rechtsstaatsförderung früher und gezielter einsetzen

Die Studie trägt somit der Tatsache Rechnung, dass kaum ein Engagement in fragilen und Post-Konflikt-Staaten politisch neutral oder gar unpolitisch betrieben werden kann. Sie bringt aber auch einige Vorbehalte gegenüber der bisherigen Politik der internationalen Gebergemeinschaft zum Ausdruck. Die Förderung der Rechtsstaatlichkeit liegt nicht am Rande, sondern inmitten der dargestellten Problematik. Die - auch für die Strategie der Bundesregierung relevanten - Folgen sind:

Rechtsstaatlichkeit sollte früher und gezielter gefördert werden, d. h. teilweise auch lokaler und mit Blick auf bestimmte, für den Staatsaufbau notwendige Zwischenziele wie Vertrauensbildung und soziale Kohäsion. Sie ist kein Selbstzweck, sondern immer im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation zu sehen.

Gerade für fragile und Post-Konflikt-Staaten ist zur Rechtfertigung jeder Intervention die Frage zu stellen, was sie der Bevölkerung an konkretem Nutzen bringt. Insofern kann es anfangs wichtiger sein, den Zugang zu Recht schon auf der lokalen Ebene zu fördern, als die zentralstaatlichen Gerichte neu einzurichten. Es kann wichtiger sein, in die Köpfe der neuen Generation zu investieren, als eine (vor)schnelle Institutionenbildung zu betreiben. Es kann wichtiger sein, auf das „legal empowerment“ der Bürgerinnen und Bürger zu setzen, als über Verfassungstexte zu streiten.

Orientierungsphase zur Vorbereitung und Analyse einplanen

Die Bundesregierung sollte als Teil ihrer Strategie zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit ganz bewusst eine längere Orientierungsphase (6 bis 12 Monate) bei neuen Vorhaben in fragilen und Post-Konflikt-Staaten vorschalten. Für vorbereitende Analysen vor Ort sowie zur Konsensbildung innerhalb des Partnerlandes ist das wichtig. Die anfänglich oft bestehende Strategielücke sollten deutsche Akteure nicht mit ausländischen Konzepten füllen. Denn für kontextangepasste Lösungen ist es wichtig, Reformallianzen und Koalitionen im Partnerland zu bilden, die aus ihrer Sicht die Prioritäten zugunsten der Bevölkerung setzen. 

Es ist nicht einfach, den Ausgleich zu finden zwischen spürbaren sofortigen Veränderungen und partizipativen Strategieprozessen für die Institutionenbildung. Doch eines ist seit Einführung der Agenda 2030 und ihrer allgemeinen Grundsätze inzwischen klargeworden: Die Suche nach der besten Förderung von Rechtsstaatlichkeit mit konkreten Fortschritte für die Gesamtbevölkerung geht in kleinen Schritten vorwärts. Sie beginnt gegebenenfalls zuerst auf lokaler Ebene, aber im Hinblick auf eine mögliche landesweite Implementierung. Die drei Dimensionen der Agenda 2030 – sozial, wirtschaftlich und ökologisch – sind dabei ebenso mitzudenken wie die drei Defizite fragiler Staaten: das defekte staatliche Gewaltmonopol, die Kapazitätsmängel bei der Erbringung staatlicher Dienstleistungen und die schwache Legitimität staatlicher Strukturen. Und wie bereits Daniel Heilmann an dieser Stelle argumentierte, ist der Korruptionsbekämpfung hierbei ein hoher Stellenwert einzuräumen.

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Entwicklungszusammenarbeit Rechtsstaatsförderung

Jens Deppe

Dr. Jens Deppe ist Seniorfachplaner für Verwaltungsreformen im Fach- und Methodenbereich der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Dieser Beitrag gibt lediglich seine persönliche Meinung wieder.