Rechtsstaat ist keine Einbahnstraße

11. April 2019   ·   Anja Mihr

In vielen Staaten missbrauchen Eliten staatliche Strukturen für ihre Interessen und lassen die Bevölkerung bewusst im Unklaren über ihre Rechte. Hier sollte die Bundesregierung ansetzen und durch breit angelegte Bildungsprogramme das Rechtsbewusstsein in Partnerländern stärken. Parallel dazu sollte sie diese Eliten durch Rechtsstaatsdialoge zu nachhaltigen Reformen überzeugen.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Rechtsstaatsförderung macht nur dann Sinn, wenn im Partnerland bereits staatliche Institutionen vorherrschen, die das Vertrauen ihrer Bevölkerung genießen und – im Fall von Gerichten – ein Mindestmaß an Unabhängigkeit bewiesen haben. Dies ist aber in den wenigsten Transitionsgesellschaften des Globalen Südens und Ostens der Fall. Daran ändern die vielen Lippenbekenntnissen der Regierungen nichts, die SDGs und andere Reformen voll und ganz umzusetzen.

Wer einmal die schönen Schaufenster der Glitzermetropolen dieser Länder verlässt und sich auf holprigen Straßen in die kleinen Ortschaften mit kaputter Infrastruktur begibt, stößt in der Bevölkerung schnell auf Unverständnis, warum überhaupt Beschwerden bei der Polizei zu melden sind, oder warum jemand sein Anliegen vor einem Gericht vortragen solle? Man wisse doch, dass dort nur das Recht des Stärkeren gelte.

Denn Steuergelder – man sieht dies an den Landstraßen und öffentlichen Gebäuden – werden keinesfalls im öffentlichen Interesse ausgegeben, zu denen auch die Ausbildung oder Bezahlung von Richtern zählt, sondern landen in den Taschen der SUV-fahrenden Landoligarchen. Ein Staatsanwalt, der trotz eines offiziellen Monatsgehalts von 100-200 Euro eine Mercedes S-Klasse fährt, schafft bei der Bevölkerung wenig Vertrauen in einen Rechtsstaat. Die Ungerechtigkeit und das Versagen des Staates sind an allen Ecken derart offensichtlich und werden durch die sozialen Medien massiv verstärkt, dass rechtsstaatliche Institutionen immer weniger Vertrauen genießen.

Das Vertrauen in den Staat war nie da

Hier gelten für den Großteil der Bevölkerung andere Prinzipien als das Recht. Vom Rechtsstaat gibt es keine Spur, da der Staat nicht als vertrauenswürdig gilt, sondern als Unrechtssystem machthungriger und geldgieriger Oligarchen und Parteifunktionäre. Alternativ werden dann Senioritätsprinzipien, Vergeltungsrecht, Blutrache und sogar das Verheiraten oder Verkaufen von Kindern als bewährte Methoden angesehen, um Interessen durchzusetzen und Streitigkeiten beizulegen. In diesem Sinne ist Recht, was kurzfristig Frieden zwischen den Konfliktpartien schafft. Allein das zählt. Das hat aber wenig mit Staat zu tun, geschweige denn mit Rechtsstaatlichkeit.

In vielen ehemaligen Sowjetrepublik – aber nicht nur hier – kämpfen Zivilgesellschaft, internationale Organisationen und Regierungen darum, nie dagewesenes Vertrauen in staatliche Institutionen durch externe Rechtsstaatsförderung herzustellen, gern im Zuge von Demokratie- und Parteienförderung sowie Anti-Korruptionstrainings und -techniken.

Aber gerade im Bereich der Korruptionsbekämpfung basieren viele dieser Ansätze und Maßnahmen darauf, Personen zu bestrafen, die Gesetze verletzen, ohne darüber aufzuklären, warum diese Strafen verhängt werden. Und  meistens treffen die Strafen nur diejenigen, die es sich nicht leisten können, sich aus dem System freizukaufen. Zu Recht fragt die Bevölkerung, warum in einem angeblichen Rechtsstaat nur bestraft wird, wer keine Kontakte oder zumindest Geld hat. Rechtsstaatliche Institutionen verlieren auf diese Weise rapide  an Vertrauen, sofern sie es denn je gehabt haben.

Sonderstellung einer kleinen Elite untergräbt die Integrität des Staates

Ein Schritt in eine andere Richtung wäre es, Zusammenhänge zwischen Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlichem Wohlstand aufzuzeigen und mit gutem Beispiel voranzugehen, indem beispielsweise korrupte Sicherheitskräfte und Politiker sich vor Gericht verantworten müssen, weil Klagen aus der Bevölkerung stattgegeben werden. Stattdessen wird aber der Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und Gemeinwohl als ein westlich aufgezwungenes Konzept verteufelt, dass kein Recht bringe und schon gar nicht Gerechtigkeit.

In diesen Ländern entkommen immer wieder einige Eliten, reiche Oligarchen und mafiöse Geschäftsleute oder die Mitglieder von Ältestenräten strafrechtlichen Konsequenzen, indem sie sich freikaufen, das Rechtssystem erpressen oder auf Traditionen berufen. Solange sich das nicht ändert, werden selbst die neuen, international finanzierten, elektronischen Techniken zur Registrierung von Straftaten oder gesetzlichen Übertritten nicht zum dringend notwendigen Vertrauen in einen (nicht vorhandenen) Rechtsstaat führen. Viele der elektronischen Erfassungssysteme, die von Entwicklungsorganisationen, NGOs und internationalen Organisationen finanziert werden, können zwar Vertrauen steigern, aber nicht fehlendes Vertrauen ersetzen.  

Indes wären viele Kläger durchaus offen dafür, das Rechtsstaatsprinzip vom Ende her zu denken, z.B. mit den Fragen: Welchen Staat wollen wir? In welchem Land und welcher Gemeinschaft wollen wir leben und unsere Konflikte friedlich lösen? In einer, in der die Blutrache immer noch als probates Mittel gehandelt wird und Klagen bei Gericht nur pro forma gestellt werden und schnell in der Datenflut verschwinden? In einer Gesellschaft, in der die Ältestenräte zweier streitender Familien oder Partien darüber entscheidet, wer wem welche Schuld abträgt? Auf die dabei rechtlose Rolle der Frau, insbesondere junger, unverheirateter Frauen, kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden: Sie ist unerträglich.

Rechtsstaatsförderung ist Vertrauensförderung

Vertrauen in Institutionen, seien sie formal oder informal, kann nur durch Praxis und Erfahrung gewonnen werden. Menschen möchten ihre Konflikte, seien sie administrativer, sozialer oder strafrechtlicher Natur, so effektiv, neutral und damit gerecht wie möglich lösen. Der Ruf nach ‚social justice‘ wird in den meisten Ländern immer lauter, in denen Korruption den Rechtsstaat gar nicht erst hat entstehen lassen. Damit ist auch fairer und angstfreien Zugang zu Recht gemeint und eine unabhängige Gerichtsbarkeit.

Dass dies nicht funktioniert, hat auch damit zu tun, dass es in den meisten Entwicklungsgesellschaften ein sehr großes Defizit an Kenntnissen und Wissen über Gesetze, Regeln und Institutionen gibt. Ein Großteil der Bevölkerung wird häufig bewusst im Unklaren gelassen, welche Rechte ihnen zustehen, ganz gleich, ob es sich dabei um ihre Rechte als Staatsbürger oder Menschenrechte handelt. Das Motto, wer seine Rechte kennt, wird sie früher oder später auch einklagen, ist in diesen Gesellschaften durchaus bekannt. Das heißt, dass der Mangel an Rechtsstaatlichkeit nicht allein Resultat der Korruption der Eliten ist, sondern auch auf dem verbreiteten Mangel an Wissen über die Rechte beruht.

Rechtsstaat ist keine Einbahnstraße

Doch der Teufelskreis von Rechtlosigkeit und mangelnder Rechtsstaatlichkeit ist keine Einbahnstraße und kann durchbrochen werden. Rechtsstaatsförderung durch Aufbau von Institutionen, Ausbildung von Juristen und Richtern oder technische Hilfen ist wichtig. Aber ebenso wichtig ist es ein Rechtsbewusstsein innerhalb der breiten Bevölkerung zu schaffen. Hier kann die Strategie der Bundesregierung ansetzen. Deutsche Programme zur Rechtsstaatsförderung können durch breit angelegte Bildungsprogramme und soziale Medien dieses Bewusstsein stärken. Die GIZ, beispielsweise, arbeitet seit Jahren im Rahmen von Youth-Empowerment Programmen mit Zivilgesellschaft und lokalen Gemeinden zusammen. Keine Frage: Derartige Programme, wenn sie vom Ausland finanziert werden, werden häufig als Einmischung betrachtet und rufen Widerstand hervor – allerdings selten von der Zivilgesellschaft, sondern eher von den Eliten.

Daher ist es wichtig, dass deutsche Akteure sich auch in den Rechtsstaatdialog in diesen Ländern aktiv und systematisch einklinken, indem sie an öffentlichen Diskussionsforen in Gemeinden, Konvents, Universitäten oder Kulturhäusern (ein Erbe aus der Sowjetzeit) teilnehmen, den Erfahrungsaustausch weit ab von den Metropolen vorantreiben, und die Frage stellen: Welchen Rechtsstaat wollt ihr – wollt ihr ihn überhaupt? Und wenn ja, welche Akteure, Gruppen und Institutionen wollen daran mitwirken? Denn solange nicht eine Mehrheit der Bevölkerung dies wünscht, solange sie die mafiösen, familienbasierten und korrupten Gesellschaftssysteme – die seit Jahrhunderten scheinbar funktioniert haben – als bessere Alternativen sehen, ist jede Rechtsstaatsförderung zum Scheitern verdammt. 

Auf der einen Seite sollte der Rechtsstaatsdialog also den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten in dem betreffenden Land das Versprechen abringen, eine unabhängige und gerecht bezahlte Justiz aufzubauen – denn bislang sind Staatsanwälte und Polizei auf Schmiergelder angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Auf der anderen Seite sollten parallel dazu breite und leicht verständliche Aufklärungsprogramme für die Bevölkerung angeboten werden. Erst wenn es Bewegung auf beiden Seiten gibt, also Zugeständnisse der Eliten und Regierungen auf der einen Seite und wirksame Maßnahmen zum zur Aufklärung, zum legal empowerment durch die Zivilgesellschaft auf der anderen, macht Rechtsstaatsförderung Sinn.

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in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin