Rechtsstaatsförderung kommt an Machtfragen nicht vorbei

06. März 2019   ·   Günther Maihold​

Rein technische Rechtsstaatsreformen vernachlässigen Fragen der praktischen Machtausübung und bleiben daher erfolglos. Die Bundesregierung sollte deswegen ihre Rechtsstaatsprogramme durch rigide Kontext- und Interessensanalysen politisch einbetten und mit diplomatischem Druck flankieren. Außerdem sollte sie ihre lokalen Partner diversifizieren, um den einseitigen Missbrauch ihrer Programme zu vermeiden.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Projekte zur Rechtsstaatsförderung mobilisieren relativ schnell Unterstützung aus dem Bereich der Außenpolitik und der Entwicklungszusammenarbeit. Die Ansätze sind vielfältig. Sie reichen von Transitional Justice, Justiz- und Polizeireformen über alternative Konfliktlösungen bis zur Ausbildung einer Kultur der Legalität und rechtlicher Gleichstellung. Doch (rechts)technische Beratung reicht nicht aus, um politische Macht und deren Ausübung durch (in)formelle Machtträger zu begrenzen. Das zeigt die lateinamerikanische Erfahrung. Fragen des Verhältnisses von Bürger und Staat oder auch die Veränderung von Grundprinzipien, die das Zusammenleben von Bürgern miteinander bestimmen, müssen unvermeidlich auch immer berührt werden. Rechtsstaatsförderung kommt an Machtfragen nicht vorbei. Deshalb sind ihre Ergebnisse oftmals begrenzt oder die Wirkungsketten so lang, dass kein direkter Impact nachweisbar ist.

Rechtsstaatlichkeit jenseits vorgestanzter Formen

Wer die Reichweite möglicher Ansätze der Rechtsstaatsförderung analysieren möchte, muss die jeweiligen kulturellen, politischen und institutionellen Kontexte berücksichtigen. Ein Beispiel ist das unterschiedliche Rechtsverständnis in Lateinamerika. Das lateinamerikanische Verständnis von bürgerlichen und Freiheitsrechten sowie von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten weicht deutlich von dem in Europa ab – trotz großer Unterschiede in den einzelnen nationalen Rechtstraditionen. Bürgerliche und Freiheitsrechte werden als Verteidigungsrechte gegen staatliche Gewalt aufgefasst, während wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als Anspruch auf staatliche Dienstleistungen verstanden werden.

Diese Staatszentrierung ist historisch begründet. In Lateinamerika hat sich das Recht nicht autonom zum Staat entwickelt, sondern in seinem „Schatten“. Korporative Rechte (etwa der Richterschaft) sind hier sehr viel stärker verankert als in kontinentaleuropäischen Rechtssystemen. Diese Kontexte haben bis heute das Rechtsverständnis und die Entwicklung der Rechtsagenturen maßgeblich bestimmt - nicht zuletzt weil der Staat selbst seine Praxis ändern muss, wenn Rechtsstaatlichkeit gewonnen werden soll. 

Dieses andere Rechtsverständnis spiegelt sich auch in der institutionellen Aufstellung des Rechtsstaates in der Region wider. Manche Staaten wie Guatemala, Mexiko, Nicaragua und Uruguay haben kein Justizministerium. Und wenn doch, dann ist es in erster Linie für den Strafvollzug (v.a. Gefängnisverwaltung) zuständig. Kein lateinamerikanisches Justizministerium hat jene zentralen Aufgaben der Sicherung und Fortentwicklung des Rechtsstaats, wie sie im europäischen Kontext bei Justizministerien angesiedelt sind. Vielmehr liegt die Justizpolitik und -verwaltung in der Justizgewalt selbst. Es gibt kaum staatliche Organisationen der Exekutive, die in konzentrierter Weise vorbreitende gesetzgeberische Tätigkeiten durchführen, wie etwa die Überprüfung der Verfassungs- und Konventionsmäßigkeit von Gesetzgebungsentwürfen.

Das Scheitern rein technisch angelegter Reformen

In den 1980er und 1990er Jahren gab es die erste Generation der Reformphase. In dieser Phase wurde der Rechtsstaat definiert über „institutionelle Attribute“ und klassische Kriterien der „Leistungsfähigkeit“. Der dominierende „mechanistische Ansatz“ neigte zu institutionellen Blaupausen. Diese Ansätze haben eine geringe Wirkung gezeitigt und liefen Gefahr, die Kernprobleme zu verpassen. Dazu gehörten etwa die Rolle von Strafverfolgungsbehörden als „Staat im Staate“ oder das verkürzte Verständnis von der Unabhängigkeit der Justiz als Autonomie der Richterschaft, das notwendige Reformen nicht erlaubte.

Eine „Transplantation“ von Rechtsauslegung und Rechtsprechung brachte in diesem Kontext daher ebenso wenig Erfolg wie die Übertragung von Formaten der Polizeiausbildung und Ermittlungsverfahren. Dominante, spezifisch nationale Traditionen stießen sich am Vorverständnis des europäischen Rechtssystems und legten die Grenzen rein organisationaler Reformprozesse offen.

Für die Strategie der Bundesregierung leitet sich aus diesen Erfahrungen Folgendes ab: Reformen haben nur dann Erfolg, wenn sie mit einem Fokus „across institutions“ angelegt sind. So können sie die jeweiligen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten erfassen und berücksichtigen. Entsprechend scheitern rein „technisch“ angelegte Projekte, die die politische Dimension des Rechts vernachlässigen. Rein institutionelle Kapazitätsentwicklung und Effektivitätssteigerung sind kaum tragfähig.                

Das Umdenken im Reformansatz

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen fragen entsprechende Untersuchungen als Ausgangspunkt von Fördermaßnahmen danach, warum Institutionen so schwach oder inoperativ sind, und welchen Interessen dies dient? „The primary obstacles to rule of law-reform are not technical or financial, but political and human. Rule-of-law-reform will succeed only if it gets at the fundamental problem of leaders who refuse to be ruled by law.” Jenseits von institutionenzentrierten Ansätzen gelangen nunmehr Probleme in den Vordergrund, die eine breitere Perspektive auf die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft einnehmen statt sich auf rechtliche Körperschaften zu beschränken.

Diese Tatsache verweist auf die Grundproblematik des fehlenden Vertrauens in Staatsinstitutionen als Problemlösungsagentur – zumal in Ländern mit schwacher Staatlichkeit oder mit starken nicht-staatlichen Akteuren. Der institutionenzentrierte Ansatz begrenzt eher die mögliche Breite anderer Zugänge, die sich auf Anreizsysteme für politische Akteure beziehen (etwa durch Einbindung in internationale Institutionen oder Sozialisation in berufsständischen Organisationen), sowie der Anforderungssysteme für Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (etwa der OECD).

Machtstrukturen explizit in den Blick nehmen

Im Vordergrund deutscher Rechtsstaatsförderung sollten daher Ziele wie das Willkürverbot, Stärkung von checks and balances, oder gleicher Zugang zur Gerechtigkeit stehen. Deutsche Akteure sollten Machtstrukturen und sozio-kulturelle Normen explizit in den Blick ihrer Rechtsstaatsprogramme nehmen. Im Zentrum stehen sollten dabei bottom-up-Prozesse zivilgesellschaftlicher Art, die dem Empowerment der Bürger bei dem Zugang zur Gerechtigkeit, der Korruptionsbekämpfung und der Begründung von Lobbyorganisationen für Rechtsstaatlichkeit dienen. Die Bundesregierung sollte diese Programme mit diplomatischem Druck und internationaler Einbindung flankieren.

Zentraler Ansatzpunkt ist die Frage: Mit welchen lokalen Akteuren ist am besten eine rechtsstaatliche Ordnung zu schaffen, die (a) Willkürherrschaft ausschließt, (b) Rechtssicherheit gewährleistet und (c) über längere Sicht an ein global geteiltes Verständnis von Recht und Unrecht anschlussfähig bleibt? Bei der Antwort auf diese Frage sollte sich die Bundesregierung der Gefahr eines „donor-driven“-Impetus bewusst sein und dabei auf intensiven Dialog mit den (in)formellen stake-holder vor Ort setzen.

Reformoptionen jenseits des „ownership“-Dilemmas

Eine weitere Herausforderung vieler Projekte der Rechtsstaatsförderung ist das ownership-Dilemma: Internationale Akteure übertragen die ownership an den Reformprozessen den nationalen oder regionalen Eliten; diese versuchen aber mit einer umfassenden eigenen Agenda hiervon zu profitieren. Sie setzen das Justizwesen und die Gesetzesnorm im Kampf gegen politische Gegner ein und untergraben damit die Unparteilichkeitserwartung an den Rechtsstaat von Beginn an.

Um daraus folgende Reform-Pathologien zu vermeiden, sollten internationale Akteure wie Deutschland zweierlei beachten: Zum einen sollten sie Rechtsstaatsreformen durch rigide Kontextanalysen und Interessenbewertung politisch einbetten; zum anderen sollten sie sich nicht zu eng an eine einzige Partner-Institution anbinden, sondern mit einem breiten Ansatz politischer Absicherung arbeiten (Mehrebenen- und Multiakteurs-Ansatz). Dadurch können sie besser vermeiden, dass Projekte in das Fadenkreuz des politischen Interessenkampfes geraten oder einseitig für spezifische Interessen missbraucht werden. Solche Projekte brauchen einen langen Atem und politische Einbettung.

Insbesondere sollten sich internationale Akteure nicht von der Illusion der Gesetzgebung und der „Verfassungsleidenschaft“ lateinamerikanischer Parlamente blenden lassen. Denn trotz des überbordenden Regulierungsinteresses und des (verfassungs)rechtlichen Aktionismus bleibt die politische Realität unberührt und folgt informellen Gesetzen. Die geringe praktische Reichweite der Verfassungs- und Rechtsreformen lässt erkennen, dass die Neigung zu Reformen an der „Fassade“ weiterhin sehr groß ist.

Zivilgesellschaftliches Engagement als Gegengewicht

Seit Jahren fördert Deutschland die schwierigen Rechtsreformen in vielen Ländern Lateinamerikas, etwa des Straf- und Strafprozessrechts. Das Ziel ist ein erweiterter Opferschutz, die Einschränkung der Untersuchungshaft oder eine höhere Transparenz der Gerichtsverfahren. Allerdings mangelt es an der staatliche Rechtsmittelunterstützung. Es fehlen oftmals qualifizierte Pflichtverteidiger (Defensores Públicos), die gerade für arme Bevölkerungsschichten den Zugang zur Justiz sicherstellen sollen. Das beeinträchtigt die Möglichkeit der Rechtsinanspruchnahme.

Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für das Personal in der Justiz und den Vollzugsorganen versprechen aber nur dann nachhaltigen Erfolg, wenn die ownership nicht nur bei den Justizbehörden liegt, sondern auch in den Händen der Bürgerinnen und Bürger. Wenn der Staat seine Rechtsschutzgarantie nur partiell aufrechterhält oder Menschenrechtsverletzungen nur in Ansätzen ahndet, dann können nur das Engagement der Zivilgesellschaft und internationale Einbindung ein Gegengewicht bilden.

Die Bundesregierung sollte daher bei ihrer Strategie berücksichtigen, dass Projekte der technischen Rechtstaatsreformen ohne politische Einbettung und Flankierung durch Diplomatie, politischen Dialog und Beteiligung der Zivilgesellschaft geringe Erfolgschancen besitzen.

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in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin