Verhandeln mit Jihadisten: Worauf kommt es an?

11. Dezember 2019   ·   Karin Göldner-Ebenthal

Salafistische Jihadisten handeln nicht irrational, sondern gleichen anderen Gewaltakteuren und sind offen für Verhandlungen. Auf diese sollte die internationale Gemeinschaft als Instrument der Konfliktlösung setzen. Wichtig ist hierbei, dass Vertreter von Frauen und Minderheiten mit am Tisch sitzen und dass sich Dialoge und militärische Einsätze zu einer „Good Cop, Bad Cop“-Strategie ergänzen.

Gewaltsame Konflikte, an denen salafistische Jihadisten beteiligt sind, bestimmen unsere Schlagzeiten: Syrien, Irak, Somalia und Nigeria, um nur ein paar von ihnen zu nennen. Diese zu beenden ist eine wichtige und oft bekundete Zielsetzung. Doch wenn es an die Umsetzung geht, wird es kompliziert. Die Kriege und militärischen Aktionen, die seit dem 11. September 2001 gegen diese spezielle Gruppe der nichtstaatlichen Gewaltakteure geführt werden, zeugen davon, dass trotz signifikanter Bemühungen und hoher Investitionen bis heute keine Lösung erzielt werden konnte. Bestenfalls kommt es zu einer Eindämmung der Konflikte.

Der Grund ist aus meiner Sicht recht einfach. Wie in allen anderen Konflikten gilt auch hier: Politische Probleme erfordern politische Lösungen. Doch salafistisch-jihadistischen Gewaltakteuren (SJAG = salafi jihadi armed groups) werden oft die politischen Ziele abgesprochen, sie gelten als irrational, exogen und unempfänglich für die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerungen und nur getrieben von ihrer absolutistischen Ideologie. Verhandlungen mit solchen Akteuren scheinen unmöglich, solange sie an ihrer radikalen Ideologie festhalten. 2016, unter den fürchterlichen Eindrücken aus Syrien, stellten wir uns bei der Berghof Foundation folglich die Fragen: (Warum) Sind SJAG anders als andere nichtstaatliche Gewaltakteure? Und was bedeutet das für die Beilegung dieser Konflikte?

Deradikalisierung first? Nicht unbedingt

Unsere zweijährige Forschung mit Studien zu drei aktuellen Fällen in Somalia, Syrien und Mali zeigte, dass die Dynamiken und Faktoren im Deeskalationsverhalten von salafistisch-jihadistischen Gruppen dem von anderen nichtstaatlichen Gewaltakteuren (NSAG = non-state armed groups) ähneln und anhand bestehendem Wissensstand gut erklärbar sind. Das bedeutet, dass SJAG typisch auf externe Faktoren wie zum Beispiel militärische Unterlegenheit, aber auch auf Druck aus der Lokalbevölkerung reagieren. In Syrien ist zum Beispiel der überraschend schnelle Rückzug von Ahrar al-Sham aus Aleppo mit zwei Ursachen zu erklären: (1) der militärischen Unterlegenheit in Verbindung mit (2) dem Unwillen, dem Druck der leidenden Zivilbevölkerung standzuhalten. Auch interne Faktoren wie zum Beispiel eine veränderte Machtdynamik in der Führungsebene können ebenso zu Deeskalation führen. In keinem der untersuchten Fälle konnten wir dagegen eine Veränderung der Ideologie oder der Ziele im Sinne einer Deradikalisierung feststellen.

Kurz gesagt, für die Deeskalation (verstanden als Reduktion von Gewalttaten oder einer Öffnung für politische Gespräche) war die angeblich so definierende Ideologie weitestgehend irrelevant. Stattdessen wird die Bedeutung der Bevölkerung grundsätzlich unterschätzt, Druck auf SJAG auszuüben: Insbesondere dort, wo diese Gruppe von Akteuren Territorium kontrolliert, führen soziale Beziehungen zu einer pragmatischeren Einstellung.

„We Don’t Talk to Terrorists“-Maxime bröckelt langsam

Die Verhandlungen mit den Taliban in Afghanistan zeigen, dass Verhandlungen mit islamistisch orientierten, bewaffneten Gruppen grundsätzlich möglich sind. Während die USA und ihre Verbündeten in den 2000er Jahren die Maxime „We Don’t Talk to Terrorists“ verfolgten, scheint dieses Tabu langsam zu bröckeln. Allerdings befinden sich Verhandlungen und der Dialog mit SJAG in einem rechtlichen Graubereich. Dass Anti-Terror-Gesetze und internationale Terror-Listen ein problematisches Hindernis für Konfliktresolutionen sind, ist hinreichend untersucht. Diese gesetzliche Unsicherheit vermindert die Bereitschaft, Dialogversuche zu starten bzw. darüber zu sprechen.

Allerdings zeigte sich in unserer Forschung, dass es bereits diverse Dialogformen und -akteure gibt. Primär verhandelten humanitäre Organisationen mit SJAG den Zugang zur Zivilbevölkerung. Es gab aber auch Verhandlungen mit dem Ziel eines Gefangenenaustauschs, Waffenruhen oder auch zur Wissensgenerierung mit Sicherheitsdiensten oder Forschern. In Somalia z.B. waren Al-Shabaab-Mitglieder aus der mittleren Führungsebene bereit, mit Forschern über ihre Einstellung und Vorbedingungen für Friedensverhandlungen zu sprechen. Erfolgreiche Dialogstrategien verfolgen oft einen Bottom-Up-Ansatz und arbeiten indirekt mit Ansprechpartnern aus lokalen Partnerorganisationen, mit gesellschaftlichen „Brückenbauern“ wie religiösen Führern oder community leaders, oder mit Akteuren aus der Geschäftswelt zusammen.

Die Mehrheit der Dialoge und Verhandlungen mit salafistisch-jihadistischen Akteuren waren allerdings nicht politischer Natur. Dennoch konnten wir wichtige Einsichten gewinnen. So waren in den drei untersuchten Fällen die SJAG eng mit der Lokalbevölkerung verbunden und alltägliche Interaktionen bildeten die Basis für den Aufbau von Dialogen. Dabei waren SJAG überwiegend zuverlässig bei Absprachen und handelten durchaus rational, ohne unmöglich zu erfüllende Ansprüche zu stellen.

Klare Ziele, starke Führung und überzeugende interne Kommunikation

Denkt man weiter in die Zukunft, müssen SJAG ihre Ziele klarer politisch ausformulieren, um Friedensverhandlungen mit Inhalten zu füllen. Bislang bleiben die Maximalforderungen oft nicht verhandelbar oder zu unspezifisch. Wir wissen aber von anderen nichtstaatlichen Gewaltakteuren, dass der für eine Konkretisierung notwendige interne Verhandlungsprozess oft erst parallel zu den Friedensverhandlungen stattfindet. Dialoge mit Drittparteien können auch schon im Vorfeld von Friedensverhandlungen diesen Prozess unterstützen. Damit solches Engagement mehr Rechtssicherheit bekommt, sollte die Bundesregierung die deutschen Anti-Terror-Gesetze ändern, wie es Großbritannien zum Beispiel mit spezifischen Ausnahmeregelung bereits getan hat, und sich für eine Änderung der europäischen Anti-Terror-Gesetzte einsetzten.

Für erfolgreiche Friedensverhandlungen brauchen nichtstaatliche Gewaltakteure darüber hinaus eine starke Führung, die die Gruppe durch den strategischen Wandel navigieren kann, ohne in radikalere Splittergruppen zu zerfallen. Hier hat unsere Forschung eine Besonderheit von SJAG ausgemacht: Diese befinden sich in einem fortwährenden, globalen Wettbewerb sowie einer sozialen Kontrolle innerhalb der Szene, weil sie untereinander vernetzt sind und sich auf die gleiche Ideologie berufen. Ein Strategiewechsel hin zu politischem Engagement kann bei unzureichender interner Kommunikation der Führung zu einem erheblichen Wettbewerbsnachteil um Kämpfer, Förderer und Anhänger führen. Akteure, die sich für Dialog- und Verhandlungslösungen einsetzen, müssen das tiefe Misstrauen von SJAG und ihren Unterstützern gegenüber politischem Engagement einkalkulieren und folglich erheblich in Vertrauensbildung investieren. Dafür ist insbesondere die Auswahl eines legitimierten, glaubwürdigen Ansprechpartners wichtig, sowie eine langfristige Strategie und die nötige strategische Geduld.

Zum Verhandeln braucht es mindestens zwei

Die Hindernisse für ein erfolgreiches politisches Dialogengagement liegen aber nicht nur aufseiten der SJAG, sondern auch bei den lokalen Regierungen und der internationalen Gemeinschaft. So müssen die Regierungen ihrerseits genug Legitimität aufweisen und geeint genug sein, um Verhandlungen durchzustehen. Was selbstverständlich klingt, ist in Staaten wie Mali und Somalia eine substanzielle Herausforderung.

Das starke Narrativ von SJAG als „irrationalen Terroristen“ polarisiert die lokalen Gesellschaften und stellt auch die Regierungen vor die Herausforderung, einen Strategiewechsel gegenüber der Bevölkerung zu vertreten. Auch westliche Staaten sind bisher nicht bereit, sich für den Dialog mit SJAG einzusetzen - aus Angst vor den öffentlichen Reaktionen.

Frauen und Minderheiten müssen mit am Tisch sitzen

Es besteht das Risiko, dass Dialoge als Legitimierung der Gewaltakteure gedeutet werden. Das Risiko variiert je nach Sichtbarkeit der Interaktion, Akteuren und Strategie. Ein offizieller Repräsentant eines Staates muss natürlich anders agieren als eine NGO. Für alle Akteure ist eine klare Kommunikation essenziell, dass jegliches Engagement das alleinige Ziel verfolgt, die Gewalt zu reduzieren und Menschenleben zu retten.

Damit in Friedensverhandlungen Gewaltakteure nicht für ihr Verhalten belohnt werden, sollte die Bundesregierung darauf achten, in Verhandlungen der gesamten Bandbreite von politischen und sozialen Akteuren Gehör zu verschaffen. Besonders da SJAG die individuellen Rechte vor allem von Frauen und Minderheiten einschränken wollen, müssen in potenziellen zukünftigen Friedensverhandlungen deren Vertreter mit am Tisch sitzen.

„Good Cop, Bad Cop“-Strategie

Trotz aller Schwierigkeiten ist es aus mindestens vier Gründen wichtig und richtig, eine Dialog- und Verhandlungslösung dieser Konflikte anzustreben. Erstens, weil sie unmenschliches Leid verursachen und wir keine Option von vornherein ausschlagen sollten, sie zu beenden. Das heißt nicht, dass Verhandlungen und Dialoge immer zielführend sind. In der Regel sind sie nicht geradlinig und bedürfen wiederholter Anläufe.

Oft finden Dialoge parallel zu militärischen Einsätzen statt, die idealerweise wie eine „Good Cop, Bad Cop“-Strategie zusammenwirken. Dafür müssen die Rollen definiert werden. Die internationale Gemeinschaft bringt militärische Macht an den Tisch, allerdings bedarf es einer besseren Zusammenarbeit, um klare Signale an die Gewaltakteure zu senden. Für die zivile Strategie zeigt nicht nur unsere Forschung, dass der Fokus deutlich stärker auf den lokalen Akteuren liegen sollte. Die Bundesregierung sollte folglich solche lokalen Akteure stärker unterstützen und ihre Kapazitäten auf- und ausbauen.

Salafistisch-jihadistische Gruppen sind nicht so irrational wie dargestellt

Zweitens sind Dialog- und Verhandlungslösungen wichtig, weil salafistisch-jihadistische Gruppen eben nicht so anders und irrational sind, wie sie oft dargestellt werden. Die frühen Jahre der kommunistisch geprägten NSAG waren ebenfalls bestimmt durch ihre radikalen Ideen und internationale Vernetzung und Unterstützung. Manche dieser Gruppen haben Jahrzehnte gebraucht, um sich auf Friedensverhandlungen einzulassen, andere kämpfen noch immer (z.B. die Nationale Befreiungsarmee (ELN) in Kolumbien). Gefühlte Besonderheiten von SJAG sind bei genauerer Betrachtung im Vergleich oft nicht außergewöhnlich.

Darüber hinaus zeigt sich drittens, dass SJAG viel mehr voneinander unterscheidet als sie eint. Die Konflikte und ihre wesentlichen Merkmale sind viel stärker durch die lokalen Missstände geprägt als allgemein anerkannt wird. Eine Pauschalisierung von SJAG ist daher nur bedingt nützlich. Außerdem ist die westliche Fokussierung auf die Ideologie dieser Gruppen überproportional zu der Rolle, die diese Ideologien für die Lösung der Konflikte spielen. An Verhandlungslösungen interessierte Akteure sollten vielmehr klare individuelle Analysen in den Vordergrund stellen. Denn die Hayat Tahrir al-Sham in Syrien gleicht nicht der Boko Haram in Nigeria, die beide wiederum nicht der Al-Shabaab in Somalia gleichen. Wenn westliche Gesellschaften und Entscheidungsträger dies anerkennen, können sie viel differenzierter agieren und Möglichkeiten ausloten, um ergänzend zu den militärischen Strategien die Konfliktresolution anzugehen. Dafür muss auch in unserer Gesellschaft das Bewusstsein hierfür geschärft werden, insbesondere durch eine sorgfältigere Berichterstattung in den Medien.

Dialoge verändern interne Balancen zugunsten von Pragmatikern

Viertens, Verhandlungen und Dialoge können bei SJAG interne Prozesse anstoßen, die Balance zwischen den Hardlinern und den moderaten Pragmatikern zugunsten der Pragmatiker verändern. Dieses Potential zeigt unsere Forschung. Sie können eine kollektive Politisierung unterstützen, in dem die Gruppe politische Kapazitäten aufbaut und erste politische Erfahrungen sammelt. So können erste Dialogbemühungen Türen zu substanzielleren Gesprächen öffnen.

Die internationale Gemeinschaft sollte nicht darauf warten oder die Vorbedingung stellen, dass salafistisch-jihadistische Gruppen ihre militärischen Aktionen beenden oder den politischen Dialog als primäre Strategie anerkennen. Das Instrument des Dialogs sollte stattdessen das Ziel verfolgen, eine Sozialisierung in die Logik von Verhandlungen zu erreichen und ebendiesen Strategiewechsel zu ermöglichen. Die internationale Gemeinschaft kann es sich nicht länger leisten, so zu tun, als wären Friedensverhandlungen mit diesen Gruppen grundsätzlich unmöglich und eine Debatte dazu daher unnötig. Sie sollte stattdessen konkret überlegen wie, wann und unter welchen Bedingungen Verhandlungslösungen möglich sind und was es dafür auch von Seiten der internationalen Gemeinschaft benötigt.