Mit UN-Sicherheitsrat und WHO ein integriertes Regime für globale Gesundheitssicherheit schaffen

11. Mai 2020   ·   Gisela Hirschmann, Christian Kreuder-Sonnen

Für ein besseres globales Management von Gesundheitskrisen sollte sich Deutschland langfristig für eine Stärkung der WHO und ihre institutionelle Verzahnung mit dem UN-Sicherheitsrat engagieren. Kurzfristig sollte sich die Bundesregierung im Sicherheitsrat für eine Resolution zu COVID-19 sowie für die Einrichtung eines Unterorgans für globale Gesundheitssicherheit einsetzen.

Grenzüberschreitende Epidemien bergen immer auch Sicherheitsrisiken. Sie können fragile Staaten destabilisieren, Verteilungskonflikte schüren und internationale Sicherheitssysteme unterminieren. Auch deswegen gaben schon frühere globale Gesundheitskrisen wie SARS (2002-3) und Ebola (2014) Anlass, das multilaterale System zur Verhinderung und Bekämpfung von gesundheitlichen Notfällen internationaler Tragweite zu stärken.

Eine erste große Lehre aus der COVID-19-Pandemie ist, dass die derzeitigen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen bei weitem nicht ausreichen, um eine solche Krise zu verhindern oder sie kooperativ zu bewältigen. Im Gegenteil, die Grenzen von Global Governance werden durch COVID-19 deutlich: internationale Organisationen haben weder die Kompetenzen noch die Kapazitäten, die Antwort auf die Krise global zu steuern und ihren Mitgliedstaaten fehlt es zumeist an Kooperationswillen.

Als Mit-Initiator der „Allianz für den Multilateralismus“ steht Deutschland für eine regelbasierte internationale Ordnung. Einhellig fordern Außen- und Entwicklungsminister denn auch eine Stärkung internationaler Organisationen zur Pandemiebekämpfung. Abgesehen von einer generellen Unterstützung für internationale Organisationen ist indes unklar, wie ein effektiveres Regime für globale Gesundheitssicherheit für die Zukunft nach Corona aussehen könnte und welche Verantwortung Deutschland bei seiner Schaffung zukommt. Wir schlagen in diesem Beitrag die Konturen für eine langfristige Reform des globalen Krisenmanagements vor, bei der eine Stärkung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und ihre institutionelle Verzahnung mit dem UN-Sicherheitsrat im Vordergrund stehen. Auch kurzfristig leiten sich daraus schon Schritte für den Sicherheitsrat ab, die dieser zur Unterstützung der WHO und anderen UN-Organisationen noch während der aktuellen COVID-19-Pandemie ergreifen könnte. Das jüngste Scheitern einer Sicherheitsratsresolution am Konflikt zwischen China und den USA über die Rolle der WHO zeigt, wie schwer dieser Weg sein wird. Um notwendige Reformen zu ermöglichen, muss Deutschland eine starke Vermittlerrolle einnehmen.

Gesundheitskrisen effektiver vorbeugen: WHO stärken und mit UN-Sicherheitsrat institutionell verbinden

Unser Vorschlag ist langfristig und ambitioniert: ein Regime für globale Gesundheitssicherheit basierend auf überarbeiteten Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV), die die Verhaltensvorschriften für Staaten ausweiten, neue Kompetenzzuweisungen für die WHO vorsehen und Sanktionsmöglichkeiten durch eine Verknüpfung mit dem UN-Sicherheitsrat herstellen.

Das Regime muss sowohl die Prävention als auch das Management von Gesundheitskrisen regulieren. Hierfür müssen die geltenden IGV stark ausgeweitet werden. Im Bereich der Prävention sollten die Verhaltensvorschriften für Staaten verschärft werden, z.B. hinsichtlich Kapazitätsaufbau und Berichtspflichten (Art. 5(1) und 6 IGV), aber auch in bislang nicht berücksichtigten Bereichen wie dem Wildtierhandel und der Laborsicherheit. Gleichzeitig müssen Regelungen gefunden werden, um Staaten mit ressourcenärmeren Gesundheitssystemen beim Kapazitätsausbau zu unterstützen. Besonders wichtig ist jedoch, den Regelungen effektiver zur Einhaltung zu verhelfen.

Während die WHO aktuell auf die freiwillige Regelbefolgung der Mitgliedstaaten angewiesen ist, sollten zwei Neuerungen die Überwachung und Sanktionierung von Regelverstößen ermöglichen. Erstens sollte die Weltgesundheitsversammlung die WHO mit Mandat und Fähigkeiten versehen, um jederzeit Expertenteams in die Mitgliedstaaten entsenden und Einrichtungen wie Krankenhäuser, Labore und Lager überprüfen zu können. Anders als im aktuellen System der Joint External Evaluation, an dem sich Mitgliedsstaaten freiwillig beteiligen, wären sie so zur Öffnung und Auskunft der WHO gegenüber verpflichtet.

Darüber hinaus sollte zweitens die Präventionsarbeit der WHO durch eine Verbindung zum UN-Sicherheitsrat institutionell gestärkt werden: Wenn die WHO-Inspekteure zu dem Schluss gelangen, dass ein Staat seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt, muss die WHO den UN-Sicherheitsrat darüber in Kenntnis setzen. Eine Verletzung der Vertragspflichten oder eine mangelnde Kooperation mit WHO-Inspekteuren könnte dann vom Sicherheitsrat – in allerletzter Konsequenz – als Bedrohung für die internationale Sicherheit gewertet und entsprechend sanktioniert werden. Hierbei sind verschiedene Eskalationsstufen denkbar, beginnend mit öffentlicher Kritik an der Nicht-Einhaltung durch die WHO bis hin zu materiellen Sanktionen durch den Sicherheitsrat.

Die finale Stufe der Zwangsmaßnahmen durch den Sicherheitsrat steht natürlich unter dem Veto-Vorbehalt der ständigen Mitglieder. Sie selbst können daher weniger effektiv kontrolliert werden. Dies schmälert aber nicht den Fortschritt, der erreicht wäre, wenn alle anderen Staaten die Präventionsaspekte des Regimes bereits umsetzen und somit große Lücken in der Krisenvorbeugung schließen würden. Ein institutionalisierter Informationsfluss im Sicherheitsrat würde zudem den Mitgliedstaaten bessere kollektive wie individuelle Reaktionsmöglichkeiten bieten – unabhängig von der Haltung der ständigen Mitglieder.

Gesundheitskrisen mit WHO und Sicherheitsrat koordinierter bekämpfen

Eine bessere Prävention kann globale Gesundheitskrisen unwahrscheinlicher machen. Ganz verhindern wird es sie nicht. Zur erfolgreichen Eindämmung zukünftiger Pandemien sollten internationale Institutionen besser ausgestattet sein. Insbesondere die Reaktionsfähigkeit der WHO muss flexibler und verbindlicher gestaltet werden. Momentan kann die WHO lediglich den Public Health Emergency of International Concern (PHEIC) ausrufen und unverbindliche Empfehlungen aussprechen. Wünschenswert wäre, der WHO ein differenzierteres Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, das Abstufungen in den Alarmstufen zulässt. Auch der WHO-Notfallausschuss selbst forderte zuletzt eine Abkehr vom Prinzip des „PHEIC oder Nichts“. Eine Neuverhandlung der IGV (insb. Art. 12) sollte der WHO ermöglichen, einerseits kleinere Schritte zu gehen, im Extremfall aber auch eine limitierte Reihe an verbindlichen Notstandsmaßnahmen treffen zu können.

Auch beim Management von Gesundheitskrisen ist eine größere Kooperation der WHO mit dem UN-Sicherheitsrat nötig. Bereits in der Nachbetrachtung der Ebola-Krise forderten Experten, beim Sicherheitsrat einen ständigen Gesundheitsausschuss einzurichten, der im Austausch mit der WHO die Sicherheitsaspekte von Gesundheitskrisen behandelt. Auch bei der COVID-19-Pandemie sind sowohl Beeinträchtigungen der menschlichen Sicherheit als auch internationale Spannungen sicht- bzw. vorhersehbar. In Abstimmung mit der WHO könnte der Rat sein politisches Gewicht einbringen, um globale Koordination zu ermöglichen und bei Güterverteilung, Grenzschließungen oder dem Teilen von Forschungsobjekten (z.B. Virengenome) und -ergebnissen (z.B. Medikamente, Impfstoffe) zu vermitteln.

Als letztes Mittel stünde es dem Sicherheitsrat offen, eine internationale Sicherheitsbedrohung festzustellen, wie in der Ebola-Krise geschehen, und darüber hinaus auf Basis von Kapitel VII der UN-Charta und der erhaltenen WHO-Empfehlungen Maßnahmen zur Eindämmung oder zum Schutz gefährdeter Gruppen zu erlassen. Einerseits könnten solche Maßnahmen regulativ sein und einzelnen Staaten konkrete Verpflichtungen wie Grenzschließungen oder -öffnungen und Kontrollbestimmungen auferlegen. Andererseits könnte der Sicherheitsrat auch operativ tätig werden und zur Eindämmung von Epidemien etwa den Einsatz von „Weißhelm“-Kontingenten in Krisengebiete mandatieren, wie sie die Bundesregierung 2015 selbst vorgeschlagen hat. Auch humanitäre Blauhelm-Missionen, wie die in der Ebola-Krise entsandte UNMEER, sind eine Option.

Für die Umsetzung eines neuen Gesundheitssicherheitsregimes sind natürlich umfassende Verhandlungsprozesse vonnöten. Ein Staatenvertrag zur Reform der IGV, der eine Kooperation zwischen dem UN-Sicherheitsrat und der WHO institutionalisiert, sollte als langfristiges Ziel im Engagement Deutschlands für globale Gesundheitspolitik verankert werden. Doch bereits jetzt können hierfür die Weichen im Sicherheitsrat gestellt werden. Schon eine gemeinsame Erklärung, dass Epidemien – in Anlehnung an die Resolutionen 1308 (2000) und 2177 (2014) – eine Gefahr für die internationale Sicherheit darstellen können und dass der Sicherheitsrat daher eine stärkere Zusammenarbeit mit der WHO anstrebt, würde dem hier avisierten Reformprozess Momentum verleihen.

Vorsitz im UN-Sicherheitsrat auch für niederschwelligere Maßnahmen nutzen

Natürlich stehen einer Realisierung unseres Vorschlags große politische Hürden im Weg. Im UN-Sicherheitsrat sind insbesondere China und Russland skeptisch gegenüber einer Ausweitung des Sicherheitsbegriffs auf Themen jenseits traditioneller (militärischer) Sicherheitspolitik. Die USA zeigten sich zuletzt allgemein unkooperativ im Sicherheitsrat. Hinzu kommt der Konflikt über die Rolle der WHO zu Beginn des Ausbruchs von COVID-19. Um den Sicherheitsrat trotz dieser anhalten Konfliktlinien handlungsfähig zu machen, muss Deutschland ein für beide Seiten akzeptables Verhandlungspaket im Sicherheitsrat vorantreiben. Dazu sollte gegenüber den USA die Unterstützung einer kritischen Aufarbeitung der Rolle und Struktur der WHO gehören und gegenüber China und Russland ein Signal, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht als Vorwand zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten dienen sollen.

Wenn dies gelingt, bieten sich Möglichkeiten für die Bundesregierung und andere gleichgesinnte Staaten, die sich zur Allianz für den Multilateralismus bekennen, unterhalb der Schwelle zu Art. 39 und Kapitel VII der Charta – und damit in weniger politisierten Fahrwassern – bereits jetzt dringend notwendige Impulse im Rat zu setzen.

Ein Minimalziel sollte darin bestehen, eine Resolution (oder zumindest eine Stellungnahme) zu COVID-19 zu verabschieden, die die bereits laufenden Bemühungen anderer internationaler Organisationen im UN-System stärkt. Auf diese Weise könnten wichtige institutionelle Ressourcen freigesetzt und die Kooperation der Mitgliedstaaten angetrieben werden. Mit einer kreativen Interpretation von Kapitel VI der Charta könnte der Rat zudem internationalen Spannungen vorbeugen, indem er eine harmonisierte Verteilung von Gütern und Informationen unterstützt. Darüber hinaus könnte der Sicherheitsrat darauf dringen, Grenzschließungen und Exportverbote für operative UN-Teams aufzuheben. Durch eine Autorisierung durch den Sicherheitsrat könnte eine effektive supply chain task force schnell umgesetzt werden. So könnte der Sicherheitsrat nicht nur eine gerechte grenzüberschreitende Verteilung von medizinischen Geräten und ärztlicher Versorgung durch UN-MitarbeiterInnen ermöglichen, sondern auch die Grundlage für eine stärkere internationale Kooperation im Umgang mit zukünftigen Impfstoffen gegen COVID-19 legen.

Insgesamt sollte die Bundesregierung die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat und den Vorsitz im Juli 2020 dafür nutzen, um die globale Antwort auf die Corona-Pandemie besser zu koordinieren. Neben den skizzierten niederschwelligen und kurzfristigen Handlungsmöglichkeiten sollte jetzt auch frühzeitig die Chance genutzt werden, die Grundlagen für ein neues langfristiges Regime für Gesundheitssicherheit zu schaffen. Auf der Ebene des Sicherheitsrates sollte dazu nicht zuletzt der Vorschlag der Einrichtung eines Unterorgans für globale Gesundheitssicherheit umgesetzt werden, das sich im Austausch mit WHO-Experten regelmäßig mit den Gefahren von Epidemien auseinandersetzt. Zumindest sollte Deutschland diesen Punkt auf die Agenda setzen.

Die Arbeit der Ministerien für Außen-, Entwicklungs- und Gesundheitspolitik besser verzahnen

Will die Bundesregierung einen Beitrag zur besseren Verzahnung von WHO und Sicherheitsrat leisten, so wird es schließlich notwendig sein, auch die entsprechenden Arbeitsbereiche der zuständigen Bundesministerien besser zu verzahnen. Globale Gesundheitspolitik und Gesundheitssicherheit sind im Gesundheitsministerium verankert, das Auswärtige Amt ist zuständig für die Vereinten Nationen, aber nicht für die WHO, und das Entwicklungsministerium ist im Bereich der Gesundheitssystemstärkung aktiv. Zwar können alle Bereiche unabhängig voneinander wichtige Impulse setzen, doch am effektivsten wäre ein paralleles Vorgehen des Auswärtigen Amtes mit Unterstützung des Gesundheitsministeriums im Sicherheitsrat einerseits und des Gesundheitsministeriums in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt sowie dem Entwicklungsministerium in der Weltgesundheitsversammlung andererseits. Nur durch eine derartige Koordinierung und ein konzertiertes Vorgehen aller Ministerien kann Deutschland ein neues Regime für globale Gesundheitssicherheit entscheidend mitgestalten.

Vereinte Nationen UN-Sicherheitsrat COVID-19

Gisela Hirschmann

Gisela Hirschmann ist Assistant Professor of International Relations an der Universität Leiden in den Niederlanden und derzeit Gastwissenschaftlerin am Weatherhead Center for International Affairs an der Harvard University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind internationale Organisationen, Multilateralismus sowie Fragen des institutionellen Wandels, Legitimität und Accountability in Global Governance (Oxford University Press 2020).

Christian Kreuder-Sonnen

Christian Kreuder-Sonnen ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt internationale Organisationen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sein kürzlich bei Oxford University Press erschienenes Buch „Emergency Powers of International Organizations“ wurde mit dem Chadwick Alger Prize der International Studies Association ausgezeichnet. @CKreuderSonnen