Kooperation statt Konfrontation: zivilgesellschaftlicher Dialog als Modell für inklusive Friedensprozesse

25. Juni 2020   ·   Inga Luther, Dana Jirouš

Ein inklusiver Friedensprozess muss auf Kooperation setzen und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen – nicht einfach aus humanitären Gründen, sondern weil dies für den Erfolg von Verhandlungen ausschlaggebend ist. Die Bundesregierung sollte deswegen zivilgesellschaftliche Dialogprozesse und offizielle Friedensverhandlungen stärker verknüpfen. Ein Beispiel aus der Ukraine.

Die Sicherheitslage in Europa verschlechtert sich. Spätestens seit Beginn der Krise um die Ukraine hat die konventionelle Abschreckung zwischen NATO und Russland drastisch zugenommen. Militärische Strategien und Instrumente, wie zum Beispiel die sogenannte „Europäische Friedensfaszilität“ der EU, werden ausgebaut, während der wichtigste europäische Zusammenschluss zur Kooperation zwischen europäischen Staaten, die OSZE, seit Jahren durch gegenseitige Blockaden geschwächt wird. Das Friedensgutachten 2019 der deutschen Friedensforschungsinstitute stellt fest, dass das Bedrohungsszenario insbesondere im postsowjetischen Raum erheblich wächst. Durch diese steigendenden Spannungen schwindet der Glaube daran, dass Konflikte durch Kooperation und Verhandlung transformiert werden können. Im Vordergrund stehen zudem zunehmend Interessen von Staaten, während die Belange der Bevölkerungen aus dem Blick geraten. Dabei ist letztere Perspektive, welche die Bedürfnisse der Menschen vor Ort berücksichtigt, die Voraussetzung für Gerechtigkeit und Verminderung von Gewaltbereitschaft. Speziell für Geschlechtergerechtigkeit, die Veränderung von patriarchalen Machtverhältnissen und die Verminderung von direkter und struktureller Gewalt braucht es eine direkte Kooperation zwischen staatlichen wie nicht-staatlichen Konflikt- bzw. Friedensakteur*innen zur Berücksichtigung der konkreten Belange von diversen Bevölkerungsgruppen. Die UN-Resolution 1325 setzt hier an und verpflichtet die Staaten zu einer Politik der  Inklusion, Partizipation und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Zivilgesellschaftliche Aktivitäten und diplomatische Ansätze konsequenter verschränken

Doch wie kann die Resolution heute umgesetzt werden, noch dazu in bereits eskalierten Konflikten? In Europa herrscht nach wie vor Krieg in der Ukraine. Was kann und muss die Bundesregierung tun, um die dort offensichtlich gescheiterte militärische Sicherheitslogik durch eine Strategie der Kooperation und der menschlichen Sicherheit zu ersetzen? Was können wir aus fünf Jahren Verhandlungen und Konfliktbearbeitung in der Ukraine in Bezug auf die Umsetzung der Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit lernen?

Die hier dargelegten Erfahrungen und Erkenntnisse basieren auf dem langjährigen zivilgesellschaftlichen Dialog- und Kooperations-Prozess der „Women‘s Initiatives for Peace in Donbas/s“ (WIPD). Dieser Prozess zeigt, wie eine konsequente Verschränkung von zivilgesellschaftlichen, friedensfördernden Aktivitäten und diplomatischen Ansätzen auf der politischen Ebene zu einem geschlechtergerechten, inklusiven Frieden beitragen kann.

Die Bundesregierung spielt in den Verhandlungen zum Krieg im Donbas im Rahmen des Normandieformats (Deutschland, Frankreich, Russland, Ukraine) sowie im Rahmen der OSZE-moderierten Verhandlungen der Trilateralen Kontaktgruppe eine wichtige Rolle bei den Friedensbemühungen auf diplomatischer und politischer Ebene. Die direkten Verhandlungen zum Konfliktgeschehen finden jedoch weit weg von den betroffenen Bevölkerungsgruppen hinter verschlossenen Türen statt. Aus diesem Grund laufen alle Verhandlungsergebnisse Gefahr, am Widerstand der Bevölkerungen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten zu scheitern.

In den offiziellen Friedensverhandlungen gesellschaftlich relevante Themen einbeziehen

Auf der Ebene der Zivilgesellschaft gibt es parallel zu den offiziellen Verhandlungsformaten verschiedene Bemühungen, Kooperation und Dialog über Konfliktlinien hinweg zu initiieren und diverse Bevölkerungsgruppen einzubeziehen. Einige dieser Initiativen werden seit Jahren vom Auswärtigen Amt finanziell unterstützt. Dort sind – im Gegensatz zum offiziellen Verhandlungsprozess – Frauen überproportional vertreten, und es werden Themen bearbeitet, die gesamtgesellschaftlich für die Konfliktdynamik relevant, jedoch kein Thema in den offiziellen Friedensverhandlungen sind. Ein Beispiel hierfür ist eine derzeit laufende „Special Working Group“ zum Umgang mit der Sprachenfrage in der Ukraine. Im Rahmen dieser Gruppe suchen Frauen aus verschiedenen Teilen der Ukraine (einschließlich der nicht-regierungskontrollierten Gebiete von Doneck und Luhansk) gemeinsam nach konstruktiven Lösungen, wie den Anliegen und Bedürfnissen verschiedener Bevölkerungsgruppen Rechnung getragen werden kann.

In den existierenden zivilgesellschaftlichen Dialoginitiativen werden damit langfristig Formate geschaffen, in denen ein intensiver inhaltlicher Austausch zwischen Akteur*innen entsteht, die unterschiedliche Positionen im Konflikt vertreten und die Zugang zu breiteren Bevölkerungsgruppen haben.

In den offiziellen Friedensverhandlungen werden hingegen nicht alle Themen abgedeckt, die für die Bevölkerung relevant sind. Die Punkte im Minsker Abkommen, welche die Grundlage für die offiziellen Verhandlungen bilden, priorisieren nationale, geopolitische Macht- und Sicherheitsinteressen. Konkrete Bedürfnisse der Bevölkerung werden vorrangig als „humanitäre“ Fragen behandelt, eine Perspektive, die breite Bevölkerungsgruppen eher als Opfer denn als Akteur*innen definiert.

Vorhandene Dialogansätze ausfindig machen, stärken und nutzen

Was bisher fehlt, ist eine Verbindung zwischen den Ebenen der politischen Verhandlungen und dem lokalen zivilgesellschaftlichen Engagement zur Beilegung des Konflikts. Diese bietet die Chance, Ansätze für eine gesellschaftliche Transformation auf die politische Agenda zu bringen und breite Bevölkerungsgruppen in den Verhandlungsprozess einzubeziehen. Ein möglicher Wandel weg von nationalen und militärischen Interessen hin zu einer Auseinandersetzung über gesellschaftliche Fragen, erhöht nicht nur die Chance auf Frieden, sondern auch auf die Veränderung patriarchaler Machtverhältnisse und die Stärkung von Akteur*innen, die diesen Wandel vorantreiben können. In diesem Sinne muss der Ansatz von Beteiligung, der so auch in der UN-Resolution 1325 festgelegt wurde, weit über eine reine Frauenförderung hinausgehen und eine solidarische, gleichberechtigte Gesellschaft als Gegenmodell zum Patriarchat anstreben. Es geht also nicht darum, Frauen als Repräsentantinnen einer identitären Gruppe einzubeziehen, sondern darum, vorhandene Dialogansätze in der Gesellschaft ausfindig zu machen, zu stärken und als Ressource zu nutzen, um Macht- und Geschlechterverhältnisse zu verändern.

Die „Women's Initiatives for Peace in Donbas/s“ bringen seit vier Jahren Frauen aus verschiedenen Teilen der Ukraine (inklusive nicht-regierungskontrollierter Gebiete um Luhansk und Donetsk), der Russischen Föderation und anderen europäischen Ländern zusammen, um über gemeinsame Wege zum Frieden in der Ostukraine nachzudenken. Da unterschiedliche Positionen zum Konflikt hier vertreten sind, wird ein Dialog über verschiedene Interessen, Ängste und Bedürfnisse möglich.

Kooperation ist auch in eskalierten Konflikten möglich

Teil dieser kontinuierlichen Dialogarbeit sind neben Vertrauensbildung und direktem Dialog auch Forschung, Analysen, Informationsaustausch und Kooperationsprojekte zur gemeinsamen Bearbeitung konkreter Probleme im Konflikt. Die beteiligten Frauen haben dabei Zugang zu weiteren teilweise wenig im politischen Prozess repräsentierten Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel Bewohner*innen aus den nicht-regierungskontrollierten Gebieten oder in Russland lebenden Geflüchteten.

Die von WIPD angestrebte konkrete, konfliktlinienübergreifende Kooperation stärkt konstruktive Beziehungen jenseits von Positionierungskämpfen langfristig. Gleichzeitig erhebt die Plattform aber keinen Anspruch auf eine gemeinsame Wir-Identität und lebt von einer Balance zwischen der Akzeptanz unterschiedlicher Positionen und der Annäherung durch Kooperation. Beispielsweise entsteht so Zusammenarbeit zu Themen wie Existenzsicherung, Passbeschaffung, Friedensbildung mit Jugendlichen, aber auch Risiko-Analysen zu möglichen Konsequenzen von Truppenentflechtungen oder möglichen Reintegrationsmaßnahmen.

Das Beispiel der Women’s Initiatives for Peace in Donbas/s zeigt, dass und wie Kooperation im eskalierten Konflikt möglich wird. Es macht deutlich, wie Akteur*innen über Konfliktlinien hinweg konkrete Lösungen finden können, gemeinsame Themen entwickeln und so Zusammenarbeit möglich wird.

Zivilgesellschaftliche Strukturen bieten ein enormes Potential

Die Erfahrungen auf Ebene der Zivilgesellschaft können zu einem Modell für eine andere Vision von Frieden werden, welches auch Relevanz für die staatliche Ebene bekommen könnte. Diese müsste Friedensprozesse von Grund auf „neu“ denken: nicht als Interessenausgleich zwischen sich widersprechenden geostrategischen Absichten, sondern als Chance für Kooperation von Anfang an, bevor die Waffen sprechen, aber auch währenddessen und danach. Vorhandene Strukturen der Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Akteurinnen bieten ein enormes Potential für Wege zu einem ganzheitlichen Frieden. Sie können auch zu einem Modell für Akteur*innen auf anderen politischen Entscheidungsebenen werden. So wird die Umsetzung der UN-Resolution 1325 durch eine Strategie der Zusammenarbeit und Beteiligung verwirklicht.

Denn aufgrund ihrer sozialen Rollen haben Frauen einen besonderen Einfluss auf das gesellschaftliche Zusammenleben und tragen eine besondere Verantwortung. Sie sind einerseits in der Lage, spezifische Informationen und Recherchen an politische Entscheidungsebenen weiterzugeben, und andererseits konstruktive Diskussions- und Dialogprozesse innerhalb der Gesellschaft anzuregen. Damit haben sie ein enormes Potential als Akteurinnen für den Frieden, das durch lokale Ansätze zutage tritt. Gleichzeitig bietet zivilgesellschaftliche Dialogarbeit ihrerseits eine große Chance, Inklusivität im Friedensprozess jenseits von starren Formaten, essentialistischen Kategorien oder Konkurrenzkämpfen um Repräsentanz am Verhandlungstisch umzusetzen. Die Bundesregierung sollte daher das Potenzial lokaler Ansätze für einen diverseren und inklusiveren Friedensprozess auch im neuen Nationalen Aktionsplan betonen. Nur so lassen sich langfristig ungleiche Macht- und Geschlechterverhältnisse aufbrechen und verändern.

Kommunikationskanäle öffnen und stärker auf Vielfalt achten

Die Bundesregierung sollte vorhandene, „von unten“ in Selbstorganisation geschaffene Strukturen stärker mit Prozessen auf offizieller Ebene verknüpfen.  Dies würde dezentrale gesellschaftliche Prozesse stärken und deren Erfahrungen für die offiziellen Friedensverhandlungen nutzbar machen. Außerdem können durch eine bessere Vernetzung zwischen den Ebenen wichtige Informationen transparent gemacht und an die jeweiligen Zivilgesellschaften kommuniziert werden. Dazu müssen jedoch auch deutsche Diplomat*innen eine größere Transparenz wagen, verschiedene Kommunikationskanäle öffnen und diplomatische Bemühungen auf eine größere Vielfalt von Akteur*innen ausweiten. Dies ist kein einfaches Unterfangen, das Behutsamkeit, langen Atem und Do-No-Harm Strategien braucht.

Eine Diversifizierung und Verknüpfung von Dialog- und Friedensaktivitäten auf verschiedenen Ebenen ist trotz der Risiken dringend notwendig: nicht nur, um in die festgefahrenen Verhandlungsprozesse Bewegung zu bringen, sondern vor allem auch, damit Diversität im Friedensprozess, und speziell Geschlechterdiversität, zu einem ganzheitlichen Frieden beitragen kann. 

Zivilgesellschaft Frauen Ukraine

Inga Luther

Dr. Inga Luther ist Geschäftsführerin der Frauen-Friedensorganisation OWEN e.V. und arbeitet im koordinierenden Team der „Women‘s Initiatives for Peace in Donbas/s“ (WIPD) mit.

Dana Jirouš

Dr. Dana Jirouš ist Projektkoordinatorin der „Women‘s Initiatives for Peace in Donbas/s“.