Vorwärts in die Vergangenheit? Frieden braucht Partner 13. August 2019 · Herausgeber des Friedensgutachtens Die Bilanz des Friedensgutachtens 2019 ist ernüchternd: Globale Institutionen, internationale Verträge und Menschenrechte geraten verstärkt unter Druck. Davon ist Europa besonders betroffen, denn es verliert massiv an Gestaltungskraft. Deutschland sollte innovative Formate der Rüstungskontrolle entwerfen und neue Wege bei der Stabilisierung von Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften gehen. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Das Friedensgutachten 2019 zieht – wie auch in den vergangenen Jahren – eine ernüchternde Bilanz des weltweiten Konfliktgeschehens und der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik. Dabei identifizieren die Autorinnen und Autoren des Gutachtens sechs Trends: 1. Die globale Nuklearordnung steckt in einer existenziellen Krise. Bedeutende Abkommen der Vergangenheit wie der INF-Vertrag oder das Nuklearabkommen mit dem Iran werden gekündigt. Die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags 2020 droht schon im Vorfeld zu scheitern. Die Konsequenz aus alldem: Ein neues Wettrüsten wird befeuert, Spannungen zwischen Abrüstungsgegnern und -befürwortern nehmen deutlich zu. Sicherheitsorgane repressiver Staaten zu stärken ist kontraproduktiv 2. Die Zahl der Gewaltkonflikte ist unverändert hoch. Neben staatlichen Akteuren ist auch eine Vielzahl nicht-staatlicher Akteure beteiligt. Die aktuelle Politik der Stabilisierung, unter der westliche Staaten und internationale Organisationen ihre militärischen, polizeilichen, diplomatischen und entwicklungspolitischen Interventionen in Gewaltkonflikte bündeln, richtet sich aber in erster Linie auf die Stärkung staatlicher Sicherheits- und Verwaltungsorgane. Diese Politik ist kontraproduktiv. Denn: die Belange der Bevölkerung in Konfliktgebieten werden zu wenig berücksichtigt. Bewährte Mechanismen der Zusammenarbeit, die Europas Sicherheit bislang geschützt haben, zerfallen. 3. Die Sicherheitslage in Europa erodiert. Seit Beginn des Ukrainekonflikts setzen NATO und die Russische Föderation auf konventionelle Abschreckung, insbesondere im Baltikum und in der Schwarzmeer-Region. Bewährte Mechanismen der Zusammenarbeit, die Europas Sicherheit bislang geschützt haben, zerfallen. Etwa Abkommen, die regeln, dass die europäischen NATO-Staaten und Russland regelmäßig Informationen austauschen und Militärinspektionen zulassen. Seit der Suspendierung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) im Jahr 2007 fehlen verlässliche Vertragswerke als Basis. Europa hat die tödlichste Außengrenze der Welt 4. Die Zahl der Geflüchteten, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen verdoppelte sich zwischen 2007 und 2017. Geflohene bleiben oftmals auch in Aufnahmeregionen Gewalt und Ausgrenzung ausgesetzt. Die Europäische Union (EU) hat die tödlichste Außengrenze der Welt. Ein umfassendes „Non-Entrée-Regime“ prägt diese Grenze. Hierzu gehören sogenannte Migrations- und Mobilitätspartnerschaften mit autoritär regierten Transit- und Herkunftsstaaten wie Libyen, dem Sudan oder der Türkei. 5. Die Vereinten Nationen sind geschwächt. Zum einen durch die Konfrontation der politischen Großmächte, die durch ihr Veto Entscheidungen im Sicherheitsrat verhindern. Zum anderen, weil die USA den Vereinten Nationen ihre politische und finanzielle Unterstützung verwehren. Außerdem gibt es immer wieder Widersprüche und Zielkonflikte bei Einsätzen, die Krisenregionen stabilisieren oder Konflikte beenden sollen. 6. Soziale Medien werden genutzt, um Menschen politisch zu radikalisieren und um demokratische Wahlen zu manipulieren. Das gefährdet langfristig den inneren Frieden demokratischer Gesellschaften. Deutschland muss neue Bündnisse und innovative Kooperationen schmieden Vorwärts in die Vergangenheit: das ist der Eindruck, der angesichts der geschilderten Trends entsteht. Globale Institutionen und Regeln werden missachtet, das Vertrauen in internationale Verträge geht verloren, Völker- und Menschenrechte geraten verstärkt unter Druck. Statt auf multilaterale Zusammenarbeit setzen vor allem die Großmächte auf ihre eigene, nicht zuletzt militärische Stärke. Das Friedensprojekt Europa ist vom Zerfall der internationalen Ordnung und ihrer Regeln besonders betroffen. Es hat nach innen und nach außen massiv an Glaubwürdigkeit und Gestaltungskraft verloren. Deutschland muss neue strategische Bündnisse schmieden, um zu verhindern, dass die Staatengemeinschaft auseinanderfällt und internationale Regeln weiter geschwächt werden. Das Friedensgutachten 2019 stellt die Notwendigkeit in den Vordergrund, Partner für eine innovative und tatkräftige Friedenspolitik zu gewinnen. Deutschland muss neue strategische Bündnisse schmieden, um zu verhindern, dass die Staatengemeinschaft auseinanderfällt und internationale Regeln weiter geschwächt werden. Deutsche Außenpolitik muss vorwärtsgerichtet handeln. Sie muss neue Partner identifizieren und mit ihnen Koalitionen und auch unkonventionelle Formate der Kooperation entwerfen. Diese Partner können Staaten sein, mit denen Deutschland strategische Allianzen bildet, um konkrete Initiativen voranzubringen. Zugleich gehören bestehende Partnerschaften auf den Prüfstand – beispielsweise sogenannte Migrations- und Mobilitätspartnerschaften mit autoritären Regimen, wenn diese selbst zu Repression und Menschenrechtsverletzungen beitragen. Rolle von Nuklearwaffen in der NATO-Strategie reduzieren Für die behandelten Politikfelder bedeutet das im Einzelnen: Die Bundesregierung sollte sich aktiv für den Erhalt der nuklearen Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsverträge einzusetzen. Mit ihrem Festhalten am Iran-Abkommen hat sie gezeigt, dass sie sinnvolle Maßnahmen zur nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung auch gegen den Willen der USA und in ungewohnter internationaler Konstellation durchsetzen will. Diesen Weg sollte sie konsequent fortsetzen. Mit nichtnuklearen europäischen NATO-Staaten sollte die Bundesrepublik dafür eintreten, die Rolle von Nuklearwaffen in der NATO-Strategie zu reduzieren. Sie sollte zudem für eine Verständigung zwischen Gegnern und Befürwortern des Atomwaffenverbotsvertrags werben. In Europa sollte Deutschland zwischen Befürwortern und Kritikern nuklearer Abschreckung vermitteln. Die EU muss wieder zu einer glaubwürdigen Stimme im nuklearen Abrüstungsdiskus werden. Um eine weitere Erosion der Beziehungen zwischen der NATO und Russland zu verhindern, sollte die deutsche Außenpolitik den informellen Strukturierten Dialog über konventionelle Rüstungskontrolle im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fortführen und zusätzlich auf militärische Risikominimierung und subregionale Konfliktbearbeitung setzen. Zur weiteren Bearbeitung der Konflikte im postsowjetischen Raum brauchen wir Verfahren, bei denen politische und territoriale Statusfragen ausgeklammert werden. Für eine wirksame Strategie der Risikobegrenzung auf allen Ebenen ist ein politischer Dialog mit Russland auf höchster Ebene notwendig. Für ein Waffenembargo gegen alle Kriegsparteien im Jemen eintreten Die multilaterale Rüstungskontrolle muss gestärkt werden. Das Friedensgutachten begrüßt ausdrücklich den derzeitigen Rüstungsexportstopp nach Saudi-Arabien. Er muss eine dauerhafte Abkehr von deutschen Waffenexporten in autoritäre Staaten und in Spannungsgebiete einleiten. Die Bundesregierung sollte sich zusammen mit ähnlich gesinnten Staaten für eine Stärkung der multilateralen Rüstungsexportkontrolle einsetzen. Hierzu sollte sie in der EU und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) für ein Waffenembargo gegen alle Kriegsparteien im Jemen eintreten. Die Stabilisierungspolitik muss neu überdacht werden. Ein Ansatz, der die Regierung als Partner stärkt, obwohl diese hauptverantwortlich für bestehende Instabilität ist, kann nicht erfolgreich sein. Deshalb muss die Zusammenarbeit mit Staaten wie Mali neu ausgehandelt und durch eine Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und mit lokalen Gemeinschaften ergänzt werden. Die Sicherheit der Bevölkerung muss stets Priorität haben. In der Flüchtlingspolitik muss umgesteuert werden. Auf globaler Ebene müssen finanzkräftige Staaten gemeinsam der dramatischen Unterfinanzierung des VN-Flüchtlingskommissariats entgegenwirken. Vor allem aber sollte die Bundesregierung in der EU für legale Zugangsmöglichkeiten werben. Hassrede und Manipulation in den sozialen Median eindämmen Während ihrer Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat sollte die Bundesregierung ihre Energien in strategische Partnerschaften investieren, um die gegenwärtige politische Blockade in friedenspolitisch zentralen Fragen in den VN zu überwinden. Die sogenannte Like-Minded-Initiative von Außenminister Heiko Maas, die pro-europäisch ausgerichtete Länder in der EU zusammenbringt, setzt hier programmatisch an. Strategische Partnerschaften können auch dabei helfen, dringende Reformen in den Arbeitsweisen der VN auf den Weg zu bringen. Das Ziel muss sein, das multilaterale Regelwerk der VN zu sichern und zu stärken. Internationale Regeln brauchen wir auch, um Hassrede und Manipulation im Internet einzudämmen. Die Bundesregierung muss sich für die Regulierung des Digitalen, etwa für Initiativen gegen Hassrede auf EU- und VN-Ebene einsetzen – dies aber in den engen Grenzen von Freiheits- und Datenschutzrechten und nur mit ausgewählten Partnern. Der Bundesregierung bieten sich viele Möglichkeiten, entschlossen für Frieden und Sicherheit einzutreten. Zusammen mit neuen und alten Partnern kann Deutschland Allianzen und Kooperationen eingehen – in der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung, bei der Stabilisierung von Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften, im Konflikt zwischen NATO und Russland, beim Kampf gegen Fluchtursachen, für eine Reform der VN und gegen Hassrede und Wahlkampfmanipulation im Internet. Es bedarf Mut und tatkräftiges Handeln, um das Vertrauen in multilaterale Vereinbarungen und Institutionen wiederherzustellen. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Friedensförderung Frieden & Sicherheit Friedensforschung Herausgeber des Friedensgutachtens Das Friedensgutachten wird herausgegeben von den Instituten: Bonn International Center for Conversion (BICC), Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) sowie Institut für Entwicklung und Frieden (INEF). Twitter: @PeaceReport #friedensgutachten2019
Artikel Leitlinien in der Praxis: Brauchen wir mehr „gemeinsame Analysen?“ Der erste Schritt zur ressortgemeinsamen Analyse sind gemeinsame Fragestellungen mit verbindlichen Ergebnissen. Hierfür können gemeinsame Analysestrukturen sinnvoll sein. Doch viel wichtiger ist eine Kultur des Informationsaustausches, die auf gegenseitigem Verständnis beruht. Die Ressorts sollten das Thema „Analyse“ nicht in die klandestine Ecke schieben, sondern als Querschnittsaufgabe würdigen. Birgit Velte • 10. Januar 2019
Artikel Making Power-Sharing Work: The Role of Mediation While the promise of power-sharing is often necessary to reach peace agreements, power-sharing institutions are unlikely to function effectively in post-conflict settings. Mediation can help making power-sharing work – if it improves inter-elite relationships, addresses issues unresolved in peace agreements, and provides a framework for local conflict resolution. Alexandre Raffoul • 15 May 2019
Artikel Deutschland im UN-Sicherheitsrat: Von der Enthaltung zur Haltung In 19 Beiträgen haben Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis über Deutschlands Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat debattiert. Die Erwartungen sind hoch – auch über die deutschen Grenzen hinaus. Zu den vielen konkreten Forderungen und Empfehlungen gehören, dass Deutschland eine nationale Strategie zur UN-Friedenssicherung erarbeiten und dem Ständigen Vertreter in New York maximale Freiheiten gewähren soll. Lisa Heemann, Patrick Rosenow • 12. Februar 2019