#RealityCheck 6: Mit Riesenmarionetten für den sozialen Frieden in Guinea-Bissau 08. Juli 2020 · Jasmina Barckhausen Aus Guinea-Bissau berichtet Jasmina Barckhausen, Friedensfachkraft für Capacity Building, von COVID-19, einer Verfassungskrise und einem bedrohten sozialen Frieden. Deutschland könnte Guinea-Bissaus Bildungs- und Gesundheitswesen fördern und aktuell mit seinem Sitz im UN-Sicherheitsrat und der EU-Ratspräsidentschaft Einfluss auf internationale Interventionen ausüben. Debatten Corona-Pandemie Wie müssen sich Krisenprävention und Friedensförderung anpassen? Wie sieht Ihre Arbeit zu Krisenprävention und Friedensförderung in der Regel aus? GTO-Bissau, die „Gruppe des Theaters der Unterdrückten“, kooperiert seit 2004 mit dem Weltfriedensdienst e.V. im Rahmen des ZFD-Programms. Am Anfang stand ein Forumtheater-Workshop für körperlich und seelisch kriegsversehrte Teilnehmer*innen. Das Forumtheater ist eine zentrale Methode im Theater des Unterdrückten. Durch das Forumtheater brachten die Teilnehmer*innen ihre realen Probleme innerhalb von Macht-Gemengelagen der Nachkriegsgesellschaft auf improvisierte Bühnen im öffentlichen Raum. Auf diese Weise suchten sie mithilfe des Publikums nach Wegen aus der Diskriminierung und in die soziale Transformation. Die Gesellschaft, über Jahrhunderte daran gewöhnt, sich der Macht des Stärkeren zu beugen, kann so an einen Paradigmenwechsel herangeführt werden. Konfliktlösungen und Kompromisse werden erst dann als befriedend verstanden, wenn es keine Unterdrückten mehr gibt. Neben der Methode des Forumtheaters nutzt GTO auch Friedenspädagogik. Seit 2010 hat GTO zivil-militärische Dialoge in Kasernen unterstützt. Dadurch konnten eine korporative Rollenreflexion angeregt und Versöhnungsprozesse und friedliche Konflikttransformationen im Verhältnis zu Bevölkerung, Politik und innerhalb militärischer Hierarchien angestoßen werden. Seit 2014 wurden rund 300 Aktivist*innen auf der Graswurzelebene mobilisiert. GTO bildet sie in friedlicher Konflikttransformation, gemeinsamer Ressourcenverwaltung und demokratischer Organisationskultur weiter. Derzeit arbeitet GTO gemeinsam mit 11 regionalen Friedensvereinen und deren 11 Mini-GTO-Theatergruppen zusammen, um das Friedensaktivist*innennetz als neue zivilgesellschaftliche Kraft auf der nationalen Ebene zu etablieren. Gemeinsam treten GTO und Friedensforum durch Aktionskunst mit Riesenmarionetten als Unterstützer*innen des demokratischen Rechtsstaates auf. Mit Betonung auf gemeinsamer Herkunft und Geschichte vereinen sie die ethnisch-religiöse Vielfalt. Zusätzlich zur Bedrohung durch das Coronavirus eskalierte auch eine Verfassungskrise zwischen Regierung, Parlament und Jurisdiktion. Noch vor der diesjährigen Regenzeit wollten GTO und Friedensforum in Zusammenarbeit mit der Juristischen Fakultät von Bissau und dem Parlament an nachhaltigen Lösungen für landesweit verbreitete Konflikte arbeiten. Diese Lösungen sollten zu Gesetzesvorlagen oder -revisionen führen. Doch zusätzlich zur Bedrohung durch das Coronavirus eskalierte auch eine Verfassungskrise zwischen Regierung, Parlament und Jurisdiktion. Am Obersten Gerichtshof ist ein Verfahren wegen Verdachts auf Wahlbetrug anhängig. Die Regierung wurde mit Streiks im Bildungs- und Gesundheitswesen konfrontiert und das Parlament stritt um den Bestand von Koalitionen. Präsidium der Investitur für die X. LegislativperiodeFoto: Vladmir Mário Vieira Wie hat Corona Ihre Arbeit beeinflusst? Vor welchen Herausforderungen und neuen Chancen stehen Sie im Moment? Während sich COVID-19 über die Kontinente verbreitete, war das Friedensforum darauf konzentriert, sich zum Ablauf der Präsidentschaftswahlen zu positionieren, die den Parlamentswahlen in kurzem Abstand gefolgt waren. Der 35-köpfige Monitoringrat des Friedensforums äußerte nach einjähriger Begleitung der Wahlen Zweifel an der Einschätzung internationaler Beobachter*innen. Diese hatten die Wahlen für „frei, transparent und gerecht“ erklärt, sich aber hauptsächlich auf den Wahlgang bezogen. Ethnisch-religiöse Machtansprüche waren auf der Graswurzelebene spürbar und äußerten sich durch Bevormundung, Korruption und Einschüchterung. Das Superwahljahr 2019 und die sozialen Medien mit ihrem gefährlichen Cocktail aus hate speech und fake news hatten dem sozialen Frieden der multiethnischen Nation schweren Schaden zugefügt. Für die gemeinsame Analyse der Rechtslage und zur Aufdeckung verborgener Agenden mithilfe der Diaspora erwiesen sich die sozialen Medien jedoch ebenfalls geeignet. Auch die Friedensaktivist*innen standen mittels digital gestützter Kommunikation in permanentem Austausch über entstehende Konflikte. Das ermöglichte deren zeitnahe, lokale und konstruktive Bearbeitung. In den sozialen Medien waren gemeinsame Fotobeiträge veröffentlicht worden. Die Theatergruppen thematisierten Stimmenkauf und Fremdbestimmung durch ethnische und religiöse Autoritäten während des Wahlkampfes. Die Riesenmarionetten – als Verkörperung der Vorfahren und des Nationalstaates – waren auf den Straßen im Einsatz, um für Wahlbeteiligung und demokratische Teilhabe zu werben. Die wirtschaftlichen Folgen für die Bevölkerung, selbst entlang der politischen Lager gespalten, führen zur Verschärfung lokaler Konflikte um Zugang zu Wasser, Weide- oder Ackerland und Cashew-Plantagen. Unter verfassungswidrigen Umständen bemächtigte sich dann einer der Kandidaten Ende Februar des Amtes und zog in den Präsidentenpalast ein. Mit Unterstützung des Militärs jagte er die unlängst gewählte Regierung mitsamt COVID-19-Präventionsteam aus Amt, Büros und Dienstwagen. Kurz darauf wurde die Pandemiewarnung der WHO zum Anlass genommen, die Grenzen zu schließen, den Ausnahmezustand zu verhängen und interne Kritik durch ein Narrativ von Einheit im Krieg gegen einen unsichtbaren Feind zum Verstummen zu bringen. Blogger*innen und Journalist*innen werden seitdem eingeschüchtert, Richter*innen diffamiert, ein Abgeordneter wurde entführt und schwer misshandelt. Die wirtschaftlichen Folgen für die Bevölkerung, selbst entlang der politischen Lager gespalten, führen zur Verschärfung lokaler Konflikte um Zugang zu Wasser, Weide- oder Ackerland und Cashew-Plantagen. Das Friedensforum setzt seine konfliktsensible Beobachtung jetzt auch zu COVID-19 fort. Wöchentlich werden auf Facebook Fotoalben veröffentlicht, die bezeugen, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Bevölkerung hat. Jede regionale Gruppe führt eigenständig Aufklärungskampagnen durch und begleitet staatliche, private und religiöse Akteur*innen bei notwendigen Mediationen und bei der Verteilung von Spenden, die aus der Diaspora eingehen. Riesenmarionetten am Eingang zum Hotel AzalaiFoto: José Luis Aguilar Aguilar Welche Unterstützung wird aus Ihrer Sicht gebraucht? Was können externe Akteure wie Deutschland tun? Guinea-Bissau wird zu den zehn Schlusslichtern des Human Development Index der Vereinten Nationen gezählt. Aufgrund des Mangels an Bildungschancen und Erwerbsmöglichkeiten ist die Emigration in afrikanische Nachbarländer und nach Europa eine Möglichkeit für Familien und Dorfgemeinschaften, Unterstützung durch finanzielle Zuwendungen aus der Diaspora zu erlangen. Weitere Fluchtgründe sind der desolate Zustand des Gesundheitswesens, die politischen Konflikte, die Verwicklung des Militärs in die Subversion der verfassungsmäßigen Ordnung und die Verfolgung von Kritiker*innen der Machtverhältnisse. Auch das internationale organisierte Verbrechen interessiert sich für den kleinen, instabilen westafrikanischen Küstenstaat. Guinea-Bissau spielt eine wichtige Rolle im Drogentransit von den Produktionsländern Südamerikas in die Konsumländer des Nordens. Deutschland kann dazu beitragen, reformwillige Kräfte vor Ort zu binden, indem es das Bildungs- und Gesundheitswesen und die umweltfreundliche Energiegewinnung gezielt fördert und Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit für die moralische Unterstützung der demokratischen Kräfte nutzt. Die aussichtsreichste Erwerbstätigkeit in Guinea-Bissau ist neben der Cashew-Monokultur die kulturelle, insbesondere die musikalische Produktion und die Kooperation mit internationalen Institutionen und sozial engagierten Organisationen. Die schwierigsten Aufgaben der nationalen Unabhängigkeit scheinen darin zu liegen, die ethnisch-religiöse Gleichstellung anzuerkennen, lokale Lösungen für Konflikte zu finden und den demokratischen Rechtsstaat als gemeinsames Projekt aller Bürger*innen zu entwerfen. Der erst 46-jährige Staat blickt auf eine Reihe militärischer Eingriffe in das private, wirtschaftliche und staatliche Leben zurück. Das Militär versteht sich wegen seiner Rolle im Unabhängigkeitskampf (1964-74) als Königsmacher und lässt sich von ethnischen und politischen Akteur*innen für intransparente Zwecke missbrauchen. Die mutige Zivilgesellschaft und der politische Nachwuchs Guinea-Bissaus sollten bei der Verteidigung und Weiterentwicklung des demokratischen Rechtsstaats, der Gewaltenteilung und sozialen Gerechtigkeit nicht allein gelassen werden. Im Auftrag des UN-Sicherheitsrates wurde die Mediation des politischen Konfliktes seit 2016 über die Afrikanische Union an die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO/ECOWAS) delegiert. Diese scheint den destabilisierenden Kräften jedoch nichts entgegensetzen zu können. Sie geriet im Mediationsprozess zunehmend in den Verdacht, von Eigeninteressen der Mitgliedsstaaten an den Ressourcen des Landes geleitet zu sein. Deutschland, gegenwärtig als nicht-ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten und Inhaber der EU-Ratspräsidentschaft, kann hier konstruktiv Einfluss auf die internationalen Interventionen ausüben. Es kann das nationale Rechtssystem stärken. Die mutige Zivilgesellschaft und der politische Nachwuchs Guinea-Bissaus sollten bei der Verteidigung und Weiterentwicklung des demokratischen Rechtsstaats, der Gewaltenteilung und sozialen Gerechtigkeit nicht allein gelassen werden. Debatten Corona-Pandemie Wie müssen sich Krisenprävention und Friedensförderung anpassen? Friedensförderung Sub-Sahara Afrika COVID-19 Jasmina Barckhausen Jasmina Barckhausen ist Friedensfachkraft beim Weltfriedensdienst e.V. für Capacity Building im ZFD-Projekt Friedensforum Hand in Hand.
Interview #RealityCheck 4: Providing Support to Human Rights Defenders in Mexico Stefania Grasso, Advocacy Officer at “Aluna,” explains how COVID-19 impacts the provision of psychosocial support to human rights defenders in Mexico. As the pandemic particularly threatens marginalized communities and people fighting for their rights, external actors should ensure financial stability for civil society organizations and continue monitoring human rights. Stefania Grasso • 17 June 2020
Artikel #RealityCheck 5: Alte und neue Herausforderungen des Zivilen Friedensdienstes in Uganda Die Corona-Pandemie hat die Arbeit des Zivilen Friedensdienstes in Uganda verändert. Arbeitsabläufe mussten digitalisiert, die sich verschärfende häusliche Gewalt angegangen werden. Gleichzeitig erklärt Anna Hellge von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), dass nicht nur Soforthilfe geleistet werden muss: auch die Kulturförderung sollte nicht vergessen werden. Anna Hellge • 01. Juli 2020