Traumanachsorge ist Krisenvorsorge: Sexualisierte Kriegsgewalt als gesamtgesellschaftliches Problem anerkennen

27. Juli 2020   ·   Jeannette Böhme

Sexualisierte Kriegsgewalt kann lebenslange Auswirkungen haben, persönlich wie gesellschaftlich. Die Bundesregierung sollte deshalb in ihrem neuen Nationalen Aktionsplan zu Frauen, Frieden und Sicherheit die traumasensible Unterstützung von Überlebenden in den Mittelpunkt ihrer Friedensarbeit stellen und die Praxis von Asylverfahren in Deutschland verändern.

Sabina war eine von bis zu 50.000 Frauen, die während des Krieges in Bosnien und Herzegowina vergewaltigt wurden. Durch die Vergewaltigung wurde sie schwanger und fürchtete, von ihrer Familie verstoßen zu werden. Eine nicht unbegründete Angst: Damals wie heute wird die Schuld an der sexualisierten Gewalt häufig den betroffenen Frauen zugeschrieben. Sie tragen die Konsequenzen und sind mit ihren Traumata oft auf sich allein gestellt. Unterstützung erhielt Sabina in dieser schwierigen Situation von Frauenrechtsaktivistinnen. In einem Therapiezentrum für im Krieg vergewaltigte Frauen in Zenica bekam sie ganzheitliche Hilfe in Form von Zuflucht, Nahrung, medizinischer Versorgung, psychosozialer sowie rechtlicher Beratung. Sabina traf schließlich die Entscheidung ihr Kind auszutragen und zu behalten.

Kriegsvergewaltigungen betreffen die ganze Gesellschaft

Überlebende sexualisierter Gewalt machen weltweit seit Jahrzehnten ähnliche Erfahrungen – auch Jungen, Männer und insbesondere LGBTQI. Hilfe kommt meist nur von Aktivistinnen, Fachfrauen in autonomen Strukturen und Nichtregierungsorganisationen. Gesellschaftlich werden sie hingegen ausgegrenzt. Und auch in Nachkriegskontexten setzt sich die Diskriminierung weiter fort. Betroffene leiden existentielle Not und erfahren erneute Gewalt.

Laut einer Studie zu den Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen in Bosnien und Herzegowina gaben mehr als 70 Prozent der Teilnehmerinnen an, dass die Vergewaltigungen ihr Leben noch immer in hohem Maße beeinflussen. Die anhaltende gesellschaftliche Stigmatisierung verhindert dabei eine Verarbeitung der Traumata. Aber auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind die Folgen gravierend. Nicht bearbeitete Traumata können sich auf die nächste Generation übertragen, so dass sich die Gewaltspirale fortsetzt und Ressourcen für Frieden und Wiederaufbau blockiert sind.

Gegenwärtig arbeitet die Bundesregierung an ihrem Dritten Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“. Die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten ist eine zentrale Säule dieser Agenda. Doch wie können Überlebende angemessen unterstützt werden? Wie kann transgenerationaler Traumatisierung entgegengewirkt werden? Und was kann die Bundesregierung tun?

Gesellschaften müssen Kriegsvergewaltigungen politisch aufarbeiten

In Friedenszeiten entwickeln 50-65% der Betroffenen von Vergewaltigungen Symptome posttraumatischer Belastung. In Kriegszeiten kommt eine andauernde Gefahr für Leib und Leben hinzu, wie Vertreibung, Hunger und dem Verlust von Angehörigen. Eine solche Verkettung traumatischer Erfahrungen führt häufig zu besonders starken traumatischen Stressreaktionen. Dazu gehören langanhaltende Depressionen, Angstzustände, Suizidgedanken und Schlafstörungen.

Es ist wichtig, diese Reaktionen nicht zu pathologisieren. Vielmehr sollten die traumatischen Stressreaktionen als normale Reaktion auf unerträgliche Gewalterfahrungen in patriarchalen Gesellschaften gewertet werden. Menschenrechtsverletzungen, und nicht etwa die individuelle Verfasstheit der Überlebenden, sind die Ursache von Kriegstraumata.

Auf Grundlage dieses soziopolitischen Traumaverständnisses müssen wirksame Unterstützungsansätze für Überlebende entwickelt werden. Im Gegensatz zu rein klinischen Kurzzeittherapien sollte das Ziel einer traumasensiblen Unterstützung nicht allein darin bestehen, Traumasymptome der Überlebenden zu reduzieren. Vielmehr braucht es eine Aufarbeitung des Unrechts durch Politik und Gesellschaft, einschließlich der Strafverfolgung der Täter. Nur so kann Stigmatisierung und transgenerationaler Traumatisierung entgegengewirkt werden.

Ein Beispiel aus Bosnien und Herzegowina verdeutlicht, wie gesellschaftspolitische Anerkennung von Kriegsvergewaltigungen aussehen kann. So haben sich – nach jahrelangen zähen Verhandlungen – Aktivistinnen erfolgreich dafür eingesetzt, dass Frauen und Männer, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben, per Gesetz als zivile Opfer des Krieges anerkannt werden. Dieser „Status des zivilen Kriegsopfers“ berechtigt sie zum Bezug einer monatlichen Rente von umgerechnet rund 275 Euro. Die Rente ist ein wichtiges Zeichen der gesellschaftlichen Anerkennung und trägt direkt zu einer Verbesserung der Lebenssituation bei.

Beamte und andere Mitglieder der Unterstützungssysteme brauchen Schulungen für einen traumasensiblen Umgang mit Überlebenden

Traumasensibilität ist eine Haltung, die sich auszeichnet durch Empathie und die Bereitschaft, Betroffene zu stärken. Ihr Ziel ist es, dass Überlebende in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden und sich sicher und mit anderen verbunden fühlen.

Im oben genannten Beispiel aus Bosnien und Herzegowina berichten Überlebende von Schwierigkeiten bei der Antragstellung. So müssen Überlebende bei Beantragung der Kriegsrente vor einer Kommission wiederholt ihre „Geschichten“ vortragen. Ihnen wird oftmals nicht geglaubt, teilweise werden sie sogar verhöhnt. Dies kann alte Wunden wieder aufreißen und sie im Verarbeitungsprozess zurückwerfen. Diese Erfahrungen zeugen davon, dass das „Tabu Kriegsvergewaltigung“ noch immer stark in der bosnischen Gesellschaft verankert ist – selbst innerhalb von staatlichen Unterstützungsstrukturen.

Es ist deswegen wichtig, den Prozess der Antragstellung traumasensibel auszugestalten. Überlebende haben so die Möglichkeit, den Status als Zeichen der Wertschätzung wahrzunehmen und gleichzeitig den reinen „Opferstatus“ hinter sich zu lassen. Die Grundprinzipien der Traumasensibilität  geben eine handlungsleitende Orientierung für die Mitglieder aller Unterstützungssysteme. Die entsprechenden Institutionen, einschließlich Verwaltung, Justiz, Polizei und Gesundheitswesen, sollten im traumasensiblen Umgang mit Überlebenden sexualisierter Gewalt geschult werden.

Sexualisierte Gewalt vor, in und nach bewaffneten Konflikten ist Ausdruck diskriminierender Geschlechterverhältnisse. Die Rechte, Interessen und Bedürfnisse von Frauen und Mädchen werden denen von Männern und Jungen in patriarchalen Gesellschaften untergeordnet, auch in Friedenszeiten. Die Bewältigung der Folgen von Kriegsvergewaltigungen kann nicht losgelöst von diesem systemischen Zusammenhang stattfinden und bedarf einer langfristigen Perspektive, um diskriminierende Strukturen, Normen und Verhalten zu verändern. Es geht um nichts Geringeres als darum, Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Folgende Schritte sollte die Bundesregierung unternehmen: 

1. Überlebende und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Unterstützung stellen

Als politische Akteurin sowie Geldgeberin kann die Bundesregierung im Rahmen ihrer Außen- und Entwicklungspolitik einen wichtigen Beitrag leisten, um die Situation von Betroffenen zu verbessern. In ihrem Aktionsplan sollte sie daher einen Schwerpunkt auf die Unterstützung von Überlebenden legen. Konkret bedeutet das, ganzheitliche und traumasensible Unterstützungsangebote langfristig zu fördern und somit dazu beizutragen, nachhaltige Schutzstrukturen aufzubauen. Dies schließt den legalen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, Notfallverhütung und anderen Leistungen für die sexuelle und reproduktive Gesundheit aller Überlebenden ein.

2. Gesellschaftspolitische Ansätze zur Anerkennung von Traumata fördern

Um gesellschaftlicher Stigmatisierung und transgenerationaler Traumatisierung entgegenzuwirken, müssen das soziale Umfeld insbesondere die Familien, staatliche Unterstützungssysteme, Politik und Gesellschaft in die Bewältigung der Traumata einbezogen werden. Durch die finanzielle Förderung sowie politische Unterstützung von gesellschaftspolitischen Maßnahmen – wie etwa der Kriegsrente in Bosnien und Herzegowina sowie anderen Formen politischer und gesellschaftlicher Anerkennung – kann die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des erlebten Unrechts leisten. Wichtige Maßnahmen sind auch Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit zur Veränderung von diskriminierenden Geschlechterstereotypen und gegen Sexismus sowie die Stärkung von Zivilgesellschaft in ihrer Rolle als Watchdog.

3. Strafrechtliche Verfolgung der Täter stärken 

Die Bundesregierung sollte außerdem die strafrechtliche Verfolgung sexualisierter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden in Deutschland in den Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip stärken. Dies erfordert dringend die Bereitstellung von Ressourcen sowie den Aufbau von Genderkompetenz und Trauma-Expertise in deutschen Justiz- und Sicherheitsbehörden. Zudem müssen Gewaltbetroffene, die Zeugenaussagen vor Gericht leisten, über ihr Recht auf Nebenklage aufgeklärt werden und dieses in der Praxis auch wahrnehmen können.

4. Überlebende an Friedensprozessen beteiligen

Um selbstbestimmte Lebensperspektiven zu entwickeln, müssen Überlebende die Möglichkeit erhalten, Friedens- und Wiederaufbauprozesse aktiv mitzugestalten. Die Bundesregierung sollte daher die Beteiligung von Frauen, Aktivistinnen und Überlebenden an diesen Prozessen politisch und finanziell unterstützen.

5. Asylverfahren traumapolitisch ausgestalten

Auch innenpolitisch besteht Handlungsbedarf. So gilt es, Asylverfahren in Deutschland traumasensibel auszugestalten, damit Überlebende in einem geschützten Rahmen die Möglichkeit erhalten, sexualisierte Gewalt als Asylgrund zu benennen. Dazu müssen unter anderem Anhörende und Sprachvermittelnde entsprechend geschult werden.

Gemäß der Istanbul-Konvention müssen geflüchtete Frauen und Mädchen zudem in Unterkünften vor erneuter Gewalt geschützt werden. Hierfür müssen wirksame Gewaltschutzkonzepte entwickelt und flächendeckend umgesetzt werden.

Die Bundesregierung sollte eine ganzheitliche Unterstützung Überlebender priorisieren

Wie stark und dauerhaft die Folgen von sexualisierter Kriegsgewalt sind, hängt nicht nur von der Schwere der traumatischen Erlebnisse ab, sondern ganz wesentlich von den Erfahrungen, die Gewaltbetroffene danach machen.

Ganzheitliche traumasensible Unterstützungsangebote, soziale Anerkennung des Unrechts sowie der Schutz vor erneuter Gewalt bilden das Fundament für die Verarbeitung der traumatischen Ereignisse. Gelingt eine Stabilisierung auf diesen Ebenen, benötigen viele Überlebende keine intensive psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung. Sie können ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und selbstbestimmte Lebensperspektiven entwickeln.

Dies zeigt auch das Beispiel von Sabina. Ihre Tochter Ajna ist mittlerweile 27 Jahre alt – und hat ihre eigene Organisation gegründet. Die „Forgotten Children of War” möchten ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Existenz von Müttern und ihren Kindern schaffen, die nach Kriegsvergewaltigungen geboren wurden. Gemeinsam setzen sie sich für ihre Rechte ein. Und Ajna sagt: „Mütter sind meine Vorbilder, denn sie haben es geschafft, Kinder großzuziehen, ungeachtet ihres Leidens und ihrer Diskriminierung.”

Zivilgesellschaft Frauen Gender

Jeannette Böhme

Jeannette Böhme ist Referentin für Politik und Menschenrechte bei medica mondiale e. V. Die Frauenrechtsorganisation unterstützt Frauen und Mädchen, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben.