Leitlinien für eine polyzentrische Welt: Worauf es bei der Förderung von Multi-Stakeholder-Governance ankommt

16. September 2020   ·   Klaus Dingwerth

In Zeiten multilateralen Stillstands bieten Multi-Stakeholder-Initiativen eine Chance. Das Weißbuch Multilateralismus bietet der Bundesregierung die Gelegenheit, die Rolle von Multi-Stakeholder-Initiativen im neuen Multilateralismus zu klären und Leitlinien für ihre Einbindung in die Arbeit der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen zu entwerfen.

Der Multilateralismus ist in den vergangenen Jahren weitgehend zum Erliegen gekommen. Ob Klima- oder Handelspolitik: Wie die Autoren eines einflussreichen Buches über den sogenannten Gridlock (Stillstand) festhalten, versagt die multilaterale Kooperation zurzeit gerade „dort, wo wir sie am meisten brauchen“. Das hat auch Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen. Wie also können sie ihre Fähigkeit wiedererlangen, die wichtigsten globalen Herausforderungen wirksam anzugehen?

Das Weißbuch Multilateralismus sollte Vorschläge zur Rolle der VN bei Multi-Stakeholder-Initiativen erarbeiten

An der Diagnose stimmt, dass der Stillstand des multilateralen Projekts in vielerlei Hinsicht zu bedauern ist. Allerdings liegt in ihm auch eine Chance – die Chance nämlich, die Umsetzung bereits anerkannter Ziele in den Vordergrund zu rücken. Diese ist zwar weniger sichtbar, aber darum kaum minder wichtig als die Ausarbeitung neuer Regelwerke. In der Vergangenheit hat die Bundesregierung, etwa durch das BMZ und die GIZ, zahlreiche sektorspezifische Multi-Stakeholder-Initiativen unterstützt (wie zum Beispiel den „Forest Stewardship Council“ oder die „Common Code for the Coffee Community Association“), die in dieser Hinsicht Erfolge versprachen. Weil diese Initiativen einen Weg bieten, um die Umsetzung multilateraler Ziele in Zeiten des Stillstands zu forcieren, ist es sinnvoll, an dieser Position festzuhalten und sie auch auf multilateraler Ebene zu verankern. Denn dort verfügen internationale Organisationen wie die VN über Fachwissen, organisatorische Erfahrung, Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, Kontakte in die Mitgliedsländer und nicht zuletzt über convening power.

Gerade jetzt sollte ein Weißbuch Multilateralismus daher Vorschläge erarbeiten, wie ein erweiterter Multilateralismus aussehen könnte, in dem sich die Vereinten Nationen (VN) die Potenziale unabhängiger Multi-Stakeholder-Initiativen zunutze machen und deren Risiken mindern. Die Zusammenarbeit sollte dabei, wie John Ruggie es einmal formuliert hat, einem „prinzipiengeleiteten Pragmatismus“ (principled pragmatism) folgen. Dessen wichtigste Richtschnur ist die Orientierung an einem wirksamen Menschenrechtsschutz. Daneben können die weltweite Festigung von Teilhabechancen, der erwartete Beitrag zu klar kommunizierten Zielen und Prioritäten der jeweiligen (Unter-)Organisationen, die Möglichkeiten wechselseitigen Lernens und die systematische Einbindung nichtwestlicher Akteure Leitlinien für die Auswahl der „richtigen“ Partner liefern.

In Zeiten des multilateralen Stillstands bergen Multi-Stakeholder-Initiativen Chancen

Ganz grundsätzlich gilt: In Zeiten multilateralen Stillstands birgt der Aufbau von Koalitionen jenseits der staatszentrierten Welt Chancen. Denn die zentrale Annahme der „liberalen internationalen Ordnung“ ist, dass Kooperation einen Mehrwert generiert. Im Regelfall ist mehr internationale Zusammenarbeit also besser als weniger, insbesondere wenn die Zahl der grenzüberschreitenden Herausforderungen hoch ist. Zudem sind die problemzentrierten Initiativen nichtstaatlicher Akteure, an denen zahlreiche Stakeholdergruppen an der Problemdefinition, an der Standardsetzung oder an der Umsetzung international vereinbarter Ziele mitwirken, häufig agiler als die zwischenstaatliche Diplomatie. Drittens kann auch das Versprechen der Inklusivität, das mit der Idee der Multi-Stakeholder-Governance oft verbunden wird, in Zeiten demokratischer Rückschritte attraktiv sein.

Allerdings sind auch Multi-Stakeholder-Initiativen keineswegs vor Kritik gefeit. Für einige Beobachter sind sie ohnehin nur der verlängerte Arm einer neoliberalen Gouvernementalität, die vor allem dem „Greenwashing“ oder „Bluewashing“ dient und Unternehmen vor harten Regeln bewahren soll. Und zuletzt erklärte die US-amerikanische MSI Integrity-Initiative in ihrem detaillierten Bericht „Not fit for Purpose“ das „große Experiment“ der Multi-Stakeholder-Governance für gescheitert. Unternehmen dominierten immer mehr die Agenda; wichtige zivilgesellschaftliche Organisationen hätten sich aus zahlreichen Initiativen zurückgezogen; sowohl die Standards als auch ihre Überwachung seien zu schwach, um zur wirksamen Umsetzung unternehmerischer Menschenrechtspflichten beizutragen; die Stimmen der Rechteinhaber würden in den untersuchten Initiativen zu wenig gehört.

Investitionen in Entwicklung sind auch Investitionen in Teilhabemöglichkeiten

Nimmt man alles zusammen – den Stillstand des Multilateralismus, die Chancen und die Risiken von Multi-Stakeholder-Initiativen – dann ergibt sich ein relativ klares Bild: Einerseits können Multi-Stakeholder-Initiativen die Umsetzung wichtiger multilateraler Ziele in Zeiten des Stillstands befördern. Wer am Erreichen dieser Ziele interessiert ist, sollte sie folglich unterstützen. Andererseits bedarf es klarer Grundsätze für eine Zusammenarbeit der VN mit solchen Initiativen. Das Weißbuch Multilateralismus bietet der Bundesregierung eine Chance, die Rolle von Multi-Stakeholder-Initiativen im neuen Multilateralismus zu klären und Leitlinien für ihre Einbindung in die Arbeit der VN und anderer internationaler Organisationen zu entwerfen. Fünf Punkte scheinen mir dabei besonders relevant.

Erstens bereitet vieles von dem, was VN-Organisationen, aber auch die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, in ihrer operativen Arbeit leisten, erst den Boden dafür, dass Multi-Stakeholder-Governance inklusiv und transparent sein kann. Denn Investitionen in Entwicklung sind auch Investitionen in Teilhabemöglichkeiten. Das gilt insbesondere dort, wo sie dazu beitragen, Armut zu überwinden, nationale Gesundheits- und Bildungssysteme auszubauen, lokale und nationale zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken oder Frieden ermöglichen. Denn internationale Entscheidungen prägen zwar die künftigen Lebenschancen vieler Menschen; die Inklusion oder Exklusion von der Entscheidungsfindung ist aber nicht nur auf die Ausgestaltung der Entscheidungsverfahren zurückzuführen. Vielmehr resultiert Exklusion häufig aus dem Mangel an Ressourcen, die notwendig sind, um bestehende Gelegenheiten zur wirksamen Teilhabe zu nutzen. Damit sich die Versprechen von Multi-Stakeholder-Initiativen realisieren und ihre Potenziale entfalten können, sollte die Bundesregierung die vielfältigen Grundlagen für eine breite Partizipation an internationalen Entscheidungsprozessen in ihrer eigenen Entwicklungszusammenarbeit weiter stärken. Innerhalb der VN sollte sie zudem dafür werben, dass auch andere Staaten und die VN zur Festigung der Grundlagen für einen fairen und inklusiven Multilateralismus beitragen.

Die Menschenrechte sollten die wichtigste Leitlinie bei der Unterstützung von Multi-Stakeholder Initiativen sein

Zweitens ist die Schaffung neuer Multi-Stakeholder-Initiativen eine Stärke der Zivilgesellschaft. Die VN können sich diese Stärke zunutze machen; ihre eigenen Stärken liegen jedoch woanders. Durch ihr Wissen und ihre Kontakte können sie Initiativen unterstützen, die andernorts entstehen und zu den Werten und Zielen der VN beitragen. Die Global Reporting Initiative, eine Multi-Stakeholder-Organisation, die grenzüberschreitende Richtlinien für die Nachhaltigkeitsberichterstattung entwickelt, profitierte etwa von ihrer frühen Zusammenarbeit mit dem Umweltprogramm der VN sowie von Geldern der UN Foundation. In ähnlicher Weise entstanden die Principles for Responsible Investment aus einer Zusammenarbeit mit der UNEP Finance Initiative; heute sind sie „supported by, but not part of, the United Nations“. Um die künftige Zusammenarbeit zu strukturieren hilft es dabei, die eigenen Ziele klar zu formulieren und ihre Priorisierung transparent zu machen. Auch darum sind die Sustainable Development Goals ein wirkungsvolles Instrument für eine Organisation, die „orchestrieren“ und nicht regulieren will.

Drittens sollten die Menschenrechte bei der Unterstützung von Multi-Stakeholder-Initiativen die wichtigste Richtschnur darstellen. Förderungswürdige Initiativen sollten klar angeben können, wie ihre Aktivitäten die Umsetzung international vereinbarter Menschenrechtsstandards unterstützen. Darüber hinaus haben zivilgesellschaftliche Organisationen Vorlagen entwickelt, die helfen können, die Grundsätze der VN für eine Zusammenarbeit mit Multi-Stakeholder-Initiativen einfach, aber glaubwürdig zu halten. So verlangt die ISEAL Alliance, eine Dachorganisation transnationaler sozialer und ökologischer Kennzeichnungsinitiativen, zu denen Fairtrade Labelling International, der Forest Stewardship Council und viele andere Organisationen gehören, von ihren Mitgliedsorganisationen die Einhaltung von drei Verhaltenskodizes. Der Kodex für die Entwicklung von Sozial- und Umweltstandards fordert die Mitglieder auf, dafür zu sorgen, dass ihre Entscheidungsprozesse inklusiv, transparent und rechenschaftspflichtig sind. Der Assurance Code antwortet auf die Herausforderung, die die Selbstberichterstattung an die Glaubwürdigkeit von Kennzeichnungs- und Zertifizierungssystemen stellt. Und der Impacts Code verlangt von den Mitgliedsorganisationen, dass sie regelmäßig die Auswirkungen ihrer Regeln auf eine Vielzahl von Interessengruppen bewerten und diese Interessengruppen an solchen Bewertungen beteiligen. An diese Kodizes können die Leitlinien für einen erweiterten Multilateralismus anknüpfen, und das Weißbuch bietet auch hier die Chance, konkrete Empfehlungen zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen.

Die Vereinten Nationen können Multi-Stakeholder Organisationen vernetzen

Viertens gilt: Die von den VN unterstützten Initiativen umfassend und rigoros zu evaluieren, könnte leicht in einem bürokratischen Alptraum enden; zudem erbringen auch hier zivilgesellschaftliche Organisation bereits wichtige Leistungen. Allerdings können die VN ihre zentrale Position in der multilateralen Kooperation noch stärker nutzen, um Multi-Stakeholder-Organisationen zusammenzubringen und es ihnen zu ermöglichen, voneinander zu lernen. Ein solcher Austausch sollte selbst inklusiv sein – also Vertreter aller Anspruchsgruppen umfassen – und darauf abstellen, den experimentellen Charakter vieler Umsetzungsinitiativen zu unterstützen. Dies stünde nicht zuletzt im Einklang mit der wichtigen Rolle der VN als Inkubator von Ideen.

Fünftens ist die Welt nicht nur polyzentrischer, sondern auch multipolarer geworden. Zumindest dort, wo Herausforderungen wirklich global sind, müssen Governance-Prozesse daher die Bedeutung aufstrebender Mächte anerkennen. Dies dürfte Multi-Stakeholder-Initiativen leichter fallen als ihren multilateralen Partnern. Denn letztlich suchen wir auch deshalb nach Alternativen Formen der Global Governance, weil es den formalen internationalen Institutionen der Nachkriegszeit schwerfällt, sich an globale Machtverschiebungen anzupassen.

Vereinte Nationen Zivilgesellschaft Multilateralismus

Klaus Dingwerth

Prof. Dr. Klaus Dingwerth ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen und Non-Resident Fellow des Global Public Policy Institutes in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „International Organizations under Pressure“ (Oxford University Press, 2019).