Multilateralismus – Der Status quo ist nicht genug

09. September 2020   ·   Silke Weinlich

Die Bundesregierung sollte sich in ihrem Weißbuch Multilateralismus vornehmen, die multilaterale Ordnung in ihren Grundzügen zu erhalten, aber auch – mit anderen gemeinsam – so umzugestalten, dass sie gerechter und gestärkt wird. Sie sollte dafür die Agenda 2030 zum Leitmotiv erklären, das Handeln verschiedener Ministerien kohärenter gestalten und den Weg für Reformen bereiten.

Die Zeiten für multilaterales Handeln sind schwierig. Viele blicken hoffnungsvoll auf Deutschland, das mit der Allianz für Multilateralismus einen wichtigen Kontrapunkt zur Devise „Mein Land zuerst“ setzt. Umso wichtiger ist es, dass sich die Bundesregierung mit ihrem neuen Weißbuch für Multilateralismus inhaltlich klar positioniert. Sie muss der eigenen Bevölkerung und anderen Staaten klar kommunizieren, warum die Zusammenarbeit mit anderen Staaten, auch wenn sie oft mühsam ist und stets Kompromisse einfordert, genauso im ureigenen deutschen Interesse liegt wie starke und unabhängige internationale Organisationen und globale Normen und Regeln, die für alle gelten. Und sie muss spezifizieren, für welche Veränderungen sie sich einsetzen will.

Die regelbasierte internationale Ordnung muss unverhandelbar bleiben

Vieles spricht gegenwärtig dafür, nicht nach den multilateralen Sternen zu greifen, sondern sich für den Erhalt und die Verbesserung des jetzigen Systems zu engagieren und der aktuellen Erosion entgegenzutreten. Mit dem Gewaltverbot, der Idee einer regelbasierten Zusammenarbeit und der Verankerung der Menschenrechte stellen die Vereinten Nationen (UN) eine zivilisatorische Errungenschaft dar, die es zu bewahren und stärken gilt. Das Gründungsdokument der UN, die Charta, verspricht den Schutz schwächerer Staaten vor den stärkeren. Das bleibt aktuell. Zwischenstaatliche Kriege, zu deren Vermeidung die UN-Charta Regeln anbietet, sind zwar nicht mehr die einzige, vielleicht auch nicht mehr die größte Bedrohung. Allerdings haben eskalierende (Nuklear-)Konflikte, etwa zwischen China und den USA oder im Nahen Osten, immer noch das Zeug dazu, die Welt aus den Angeln zu heben. Die Strukturen, Entscheidungsverfahren und Prozesse vieler multilateraler Organisationen sind nach 75 Jahren nicht mehr zeitgemäß, die Organisationen selbst gelten als schwerfällig und ineffizient – allerdings könnten sie immer noch für eine am globalen Gemeinwohl orientierte Politik genutzt werden, wie etwa die 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung in Ansätzen zeigt.

Die politische Machbarkeit scheint ebenfalls für einen bewahrenden Kurs zu sprechen: Bestehende Strukturen, Normen und Regeln zu erhalten, gar weiter zu stärken und zur Bearbeitung globaler Probleme zu nutzen, ist bereits schwierig genug. Nationalistische und populistische Regierungen sprechen internationalen Organisationen und zwischenstaatlicher Kooperation jedwede Problemlösungskompetenz ab; alte und neue Großmächte versuchen, das Recht der Stärkeren wieder zu etablieren. Wachsende Rivalitäten zwischen China und den USA überschatten multilaterale Verhandlungen. Die Anzahl durchsetzungsfähiger Interessen ist aufgrund der Ausdifferenzierung des globalen Südens in der Staatenwelt gewachsen. Besonders anschaulich ist dies im Bereich Klima, wo große CO2-Emittenten wie China, Indien und einige Erdölstaaten ganz andere Interessen vertreten als vom Klimawandel betroffenen kleinen Inselstaaten. Dies verengt den Korridor für Lösungen jenseits des kleinsten gemeinsamen Nenners. Der politische Gegenwind gegen Menschenrechte ist spürbar und nicht nur in den relevanten Gremien in Genf, bei Verhandlungen zu reproduktiver Gesundheit und Frauenrechten oder der Budgetierung von Friedensmissionen. Und nicht zuletzt ist zu befürchten, dass die COVID-19-Pandemie und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen dazu führen, dass sich Regierungen mit der Lösung dringlicher nationaler Probleme beschäftigen und wenig Elan für eine Reform des multilateralen Systems aufbringen.

Im Weißbuch sollte die Bundesregierung also klarmachen, dass sie die regelbasierte, inklusive Ordnung, die auf den Menschenrechten und anderen multilateral vereinbarten Normen und Regeln beruht, für nicht verhandelbar hält.

Kein „Weiter so“: Aktuelle Krisen und Ungleichheiten erfordern Ehrgeiz für Veränderung

Dennoch reicht es nicht aus, wenn das Weißbuch sich einzig auf das Bewahren und inkrementelle Stärken des jetzigen multilateralen Systems festlegt. Weder ist eine Rückkehr zu alten Verhältnissen wünschenswert oder möglich, noch kann ein „Weiter so“ in Bezug auf den Umgang mit globalen Herausforderungen das handlungsleitende Motto der Bundesregierung sein. Es sind zu viele Staaten und Menschen mit dem jetzigen System und den Vereinten Nationen unzufrieden und fühlen sich benachteiligt. Das multilaterale System braucht zudem eine Aktualisierung, die den veränderten Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft Rechnung trägt und besser auf die Herausforderungen von grenzüberschreitenden Problemen und der Sicherung und Bereitstellung globaler öffentlicher Güter eingeht.

Multilateralismus zeichnet sich dadurch aus, dass alle Staaten politikfeldübergreifend den gleichen Regeln folgen, und dadurch eine diffuse Reziprozität entsteht – mal setzt sich der eine durch, mal der andere, aber alles in allem profitieren über einen längeren Zeitraum alle ungefähr gleichermaßen von den Ergebnissen der Zusammenarbeit. Aus dem „globalen Süden“ vernehmen wir jedoch eine deutliche Unzufriedenheit mit einer als institutionalisiert wahrgenommenen globalen Ungleichheit, sei es im Bereich der Sicherheitspolitik, sei es im Bereich Klimawandel,Weltwirtschaft und globale Entwicklung, sei es in Bezug auf die Zusammensetzung des Personals in internationalen Organisationen oder der Finanzierung durch zweckgebundene Beiträge. Gleichzeitig folgt aus globalen Trends beim Bevölkerungswachstum und der Migration, ebenso wie der Handelsströme und des Wirtschaftswachstums, dass der „globale Süden“ bedeutsamer wird. Zwar sind Organisationen wie die UN nicht gleichzusetzen mit der vielfach in die Kritik geratenen liberalen Weltordnung. Aber sie bilden dennoch einen Teil der von den westlichen Industriestaaten dominierten und uns privilegierenden Ordnung, die die Gewinne der Globalisierung global überaus ungerecht verteilt. (Die Effekte dieser Ungleichheit finden sich im Übrigen auch „zu Hause“ in europäischen Ländern, in denen sich Menschen abgehängt fühlen).

Jegliches Bewahren und Stärken der multilateralen Ordnung ohne gleichzeitiges Eingestehen von Ungerechtigkeiten und ohne Veränderungswillen kann schnell als Abwehrkampf alter Mächte zur Verhinderung des Aufstiegs anderer wahrgenommen werden – und ist damit spätestens mittelfristig zum Scheitern verurteilt. (Ein Beharren auf einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat fiele darunter). Es geht also darum, die multilaterale Ordnung in ihren Grundzügen zu erhalten, aber auch – mit anderen gemeinsam – so umzugestalten, dass mehr Staaten und Gesellschaften davon profitieren, und dass eine Zukunftsorientierung möglich wird. Das ist kein Ausverkauf deutscher Interessen. Im Gegenteil sollte das Weißbuch vermitteln, dass eine derartige Ordnung mittel- und langfristig den Kern des deutschen (und europäischen!) Interesses ausmacht – ohne sie wird der effektive Umgang mit globalen Risiken noch schwieriger.

Wirkungsvoller Umgang mit globalen Risiken mit reformierten Vereinten Nationen als Herzstück

Gleichzeitig führt uns die COVID-19-Pandemie überdeutlich vor Augen, dass ein wirkungsvoller Umgang mit globalen Risiken gerade mehr und bessere multilaterale Kooperation und schlagkräftigere, finanzstarke Organisationen bräuchte. Dies ist nicht neu für jene, die für Themen wie die Bekämpfung des Klimawandels oder Biodiversitätsverlusts, die Lösung komplexer asymmetrischer Gewaltkonflikte und die Verringerung globaler Ungleichheit eintreten. Eine miteinander verwobene und voneinander abhängige Welt braucht Strukturen, die besser als bisher erlauben, allzu kurzfristige nationale Interessen auf den Prüfstand des globalen Gemeinwohls zu stellen. Koordinierte und themenübergreifende Ansätze zur Bearbeitung komplexer globaler Probleme werden angesichts des Ausmaßes und der Unmittelbarkeit möglicher katastrophaler Auswirkungen ein Muss. Staaten sind hier weiterhin die Hauptakteure. Es gilt aber auch, jene, die von den Entscheidungen betroffen sind und jene mit großer Handlungsmacht – also etwa Bürger*innen, Wissenschaft, Jugend und andere zivilgesellschaftliche Akteure, substaatliche Akteure wie Städte und privatwirtschaftliche Akteure – besser und verbindlicher für das globale Gemeinwohl einzubinden.

Es wäre schwierig genug, ein solches System am leeren Reißbrett zu entwerfen. Der Ausgangspunkt ist aber ein komplexes Nebeneinander von mini- und multilateralen Strukturen und Governance-Arrangements, in denen schon heute vielfältige nicht-staatliche und subnationale Akteure mitwirken. Einiges davon wurde geschaffen, gerade um die Schwerfälligkeit der Vereinten Nationen zu umgehen und schneller themenbezogen Fortschritte im kleinen Kreis zu erzielen. Zusammengenommen mit dem Widerstand gegen Souveränitätsabgabe vieler Staaten und der aktuellen Geopolitik lässt sich ein Plädoyer für grundlegende Reformen vor diesem Hintergrund leicht abtun. Aussitzen ist aber angesichts des drängenden Handlungsbedarfs keine Option. Die Bundesregierung sollte im Weißbuch aufzeigen, dass prinzipiell ein handlungsfähiges multilaterales Kooperationssystem mit den reformierten Vereinten Nationen als universellem Herzstück notwendig ist, um die globalen Transformationsaufgaben zu bewältigen. Sie sollte erste Überlegungen unterbreiten, wie wir ausgehend von bestehenden Regeln und Strukturen dorthin gelangen könnten. Wie können also in Club-Formaten wie den G7 und den G20 oder anderen Koalitionen thematische Durchbrüche in von gemeinsamem Vorgehen abhängigen Bereichen – etwa Klima – vorbereitet werden, die anderswo vielleicht nicht gelängen? Wie stellt sich die Bundesregierung zusammen mit Partnern der Verantwortung, jene, die nicht mit am Tisch sitzen, dabei nicht (weiter) zu benachteiligen, und wie stellt sie sicher, dass die Ergebnisse den multilateralen Rahmen stärken? Wie unterstützt sie laufende UN-Reformprozesse und bereitet den Weg für weitere?

Agenda 2030 zum Leitmotiv erklären, eigenes Handeln kohärenter gestalten, Weg bereiten für Reformen

Konkret sollte die Bundesregierung erstens die Agenda 2030 zum verbindlichen Leitmotiv ihres Weißbuchs erklären. Die Agenda 2030 erkennt an, dass nationales Gemeinwohl und die Bereitstellung beziehungsweise der Schutz globaler Gemeingüter untrennbar sind. Sie nimmt alle Staaten gleichermaßen für das Wohl ihrer eigenen Bevölkerung, aber auch für den Schutz des Planeten und zukünftiger Generationen in die Pflicht und ist eine gemeinsame Vision von Bürger*innen und Staaten für eine „Zukunft in der wir leben wollen“. Mit der Agenda 2030 als Leitmotiv würde die Bundesregierung die Bereitschaft signalisieren, Deutschlands Innen- und Außenpolitik zu verändern, um die Transformation hin zu einer national wie global nachhaltigen Entwicklung möglich zu machen.

Zweitens sollte die Bundesregierung klar formulieren, welche Instrumente sie innerhalb der gesamten Bundesregierung nutzen wird, um den Multilateralismus zu stärken, zu verändern und als Hebel für Wandel zu nutzen. Neben der klassischen Außenpolitik durch das AA und deutlichen Aussagen bei Menschenrechtsverletzungen auch durch Großmächte sollte das Weißbuch das Handeln der verschiedenen Ministerien kohärenter ausrichten. Nur so kann sich bilaterales und multilaterales Handeln wechselseitig befördern, sei es in fragilen Staaten und Konfliktsituationen, gegenüber UN-Organisationen, im Bereich Demokratieförderung und Menschenrechte oder bei der Klimapolitik. Sicher, das ist ein Kraftakt, aber wo, wenn nicht im Weißbuch der Bundesregierung muss damit begonnen werden? Multilateralismus muss auch nach innen nicht nur als Instrument zur Zielerreichung gelten, sondern als schützenswertes Gut. Dafür ist es auch nötig, den hohen Anteil deutscher zweckgebundener Beiträge an UN-Organisationen zugunsten flexiblerer Formen der Finanzierung zu reduzieren, damit UN-Organisationen ihre Kernaufgaben besser wahrnehmen können. Hier sind klare Ziele und Leitlinien gefragt, die periodisch überprüft werden sollten.

Drittens sollte die Bundesregierung darlegen, wie sie den Weg für mittelfristig konsensfähige Reformen bereitet, die das multilaterale System gerechter machen, für den Umgang mit transnationalen Herausforderungen stärken und nicht-staatliche Akteure besser einbinden. Möglich wäre, einen Arbeitsstrang innerhalb der Allianz für Multilateralismus zu nutzen, um konkrete Vorschläge zu diskutieren, die im Vorfeld des 75. UN-Jubiläums entwickelt wurden. Auch sollte der UN-Generalsekretär politisch und finanziell dabei unterstützt werden, den Staaten Empfehlungen zur Weiterentwicklung der UN zu unterbreiten. Dieser Auftrag stammt aus der politischen Deklaration anlässlich des 75. Jahrestages der Vereinten Nationen, die in wenigen Tagen verabschiedet werden soll. Damit wird das Jubiläumsmomentum in gewisser Weise ins nächste Jahr übertragen. Die Bundesregierung sollte Mut und politische Führung zeigen, um diesem Prozess weiter Schwung und Ambition zu verleihen.

Dieser Artikel ist auch auf Englisch auf dem Blog des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik erschienen.