Weißbuch Multilateralismus: Die Kunst des „Zusammen-etwas-Schaffens“ weiterentwickeln

09. September 2020   ·   Gunther Hellmann

Ein anspruchsvoller Multilateralismus basiert auf der Gestaltung langfristig angelegter Beziehungen. Um einen solchen Multilateralismus zu befördern, sollte das Weißbuch Multilateralismus Überlegungen voranbringen, wie dieser mit klubhafter „Allianz“-Bildung rückgekoppelt werden kann. Es sollte weiterhin Anstöße für neue Formen zur Einbeziehung wichtiger Stakeholder geben.

Multilateralismus ist ein genauso bedeutsamer wie schwieriger Begriff zeitgenössischer Diplomatie. Bedeutsam ist er für die deutsche Außenpolitik schon seit langem – recht eigentlich seit der Gründung der Bundesrepublik, wenn auch mit sich wandelnden Konnotationen. Bei ihrem Auftritt bei der Kommandeurstagung der Bundeswehr im Mai 2018 hat Bundeskanzlerin Merkel aber doch vergleichsweise defensiv darauf hingewiesen, dass Deutschland „ein Land“ sei, „das politisch dazu steht, dass Multilateralismus die beste Form ist, um Konflikte auf der Welt zu lösen“. Dass man sich heute fast schon dafür entschuldigen muss, ein Befürworter des Multilateralismus zu sein, weist rückblickend einerseits darauf hin, dass es ein „goldenes Zeitalter“ multilateraler Zusammenarbeit tatsächlich gab, die allseits konstatierte „Krise des Multilateralismus“ andererseits aber deutlich vor der Wahl von Donald Trump begonnen hat und in einer umfassenderen genealogischen Betrachtungsweise (Kratochwil) sogar weit in die Vergangenheit zurückreicht. In die Zukunft blickend bedeutet es zudem, dass Trumps „America-First“-Gegenmodell zum Multilateralismus nicht einfach mit der Wahl eines Präsidenten Biden verschwinden und die alte Welt des amerikanischen Multilateralismus wiederaufleben würde.

Deutschlands Initiative für eine Allianz für Multilateralismus ist überraschend erfolgreich

Größere Prominenz hat der Begriff des Multilateralismus in der deutschen Außenpolitik in der letzten Zeit vor allem deshalb gewonnen, weil die bei einer Japan-Reise des deutschen Außenministers im Juli 2018 beschworene „Allianz der Multilateralisten“ zwischenzeitlich zu einer ansehnlichen „Alliance for Multilateralism“ mit eigener Website ausgebaut werden konnte. Sie führt zwar mit eigener „.org“-Adresse das

Auswärtige Amt im Impressum als federführend auf, ist aber nur in englischer bzw. französischer Sprache erreichbar – ein geradezu klassisches, aber umso effektiveres „Tiefstapeln“ deutscher Diplomatie in der Tradition von Adenauer und Kohl. Dass Anfang kommenden Jahres nach norwegischem Vorbild nun auch ein deutsches Weißbuch Multilateralismus erscheinen wird, markiert den vorläufigen Höhepunkt einer diplomatischen Initiative, deren Erfolge, wie man hört, auch das Außenministerium etwas überrascht haben.

Damit wären wir bei der Schwierigkeit des Begriffs „Multilateralismus“. Einer Körber-Umfrage aus dem Jahr 2019 zufolge hatten zwei Drittel der Deutschen entweder noch nie etwas von „Multilateralismus“ gehört oder wussten nicht, was es bedeutet. Als sie gefragt wurden, was mit „Multilateralismus“ gemeint sein könnte, verwies nur jeder Fünfte auf Begriffe wie „Abkommen“, „Zusammenarbeit“ oder „Beziehungen“. Assoziativ verbanden die Deutschen mit „Multi-“ neben „Vielseitigkeit“ vor allem „Multikulti“. In dieser Schwierigkeit mit dem Begriff finden sie sich aber in prominenter Bekanntschaft. Auch Gerhard Schröder verwechselte noch nach fünf Jahren als Bundeskanzler „Multilateralität“ mit „Multipolarität“. Zwar hat beides im gängigen Sprachgebrauch mit „internationaler Politik“ und „viel“ zu tun, aber die mit der Semantik der beiden Begriffe normalerweise assoziierten Praktiken „multilateraler“ zwischenstaatlicher Zusammenarbeit und „multipolarer“ machtpolitischer Staatenkonkurrenz stehen für einen vergleichbar starken Gegensatz wie jener zwischen Multilateralismus und Unilateralismus.

Multilateralismus als eine Form des „Zusammen-etwas-Schaffens“

Angela Merkel betont demgegenüber seit langem (und zurecht), dass Multilateralismus mehr ist, als die punktuelle Kooperation in größeren zwischenstaatlichen Kontexten zur Maximierung des eigenen Nutzens. Wenn sie von Multilateralismus als einem „Prinzip“ oder auch einer Form des „Zusammen-etwas-Schaffens“ spricht und die Europäische Union als beispielgebendes „multilaterales Projekt“ charakterisiert, dann bringt sie in verständlichem und anschaulichem Deutsch etwas ähnliches auf den Punkt, was John Ruggie in einem konzeptionellen Beitrag vor knapp 30 Jahren als eine distinkte institutionelle Form diplomatischer Praxis auf der Grundlage verallgemeinerter Handlungsregeln nur etwas akademischer umschrieb.

Zwei Aspekte gilt es in diesem anspruchsvollen Verständnis von Multilateralismus hervorzuheben: Wenn Merkel von einem „Prinzip“ oder „Projekt“ spricht, dann verweist sie (wie Ruggie) erstens darauf, dass mit Multilateralismus nicht nur – und nicht in erster Linie – jenes funktionalistische oder instrumentelle Verständnis zwischenstaatlicher Kooperation gemeint ist, das Robert Keohane in etwa zeitgleich zu Ruggie in den Vordergrund rückte (er definierte Multilateralismus damals als eine „Praxis der Koordinierung nationaler Politiken in Gruppen von drei oder mehr Staaten mit Hilfe von ad hoc Arrangements oder mittels Institutionen“). Von Multilateralismus analog als einem „Instrument“ zu sprechen, wie dies der deutsche „Sonderbotschafter für die Allianz für den Multilateralismus“, Arndt Freytag von Loringhoven, tat, oder wie Außenminister Maas darauf zu verweisen, dass Multilateralismus „kein Selbstzweck“ sei, ist in diesem Sinne also zumindest verkürzend. Denn wenn Multilateralismus, wie Außenminister Maas bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2019 ebenfalls (und zurecht) betonte, eine um „Verbindlichkeit“ bemühte diplomatische Praxis ist und die „Erhaltung und Stärkung einer regelbasierten Weltordnung“ (v. Loringhoven) ein wesentliches Definitionskriterium ist, dann hat diese Praxis eben auch Selbstzweck-Charakter. Zumindest in dieser Hinsicht ist sie auch vergleichbar mit den sogenannten „vertrauensbildenden Maßnahmen“, die im Kontext von sich verschlechternden Ost-West-Beziehungen in den 1970er Jahren zunächst als ein Instrument zur Sicherung gefährdeter Rüstungskontrollabkommen „erfunden“ wurden, aber im Nachhinein schon deshalb auch zweckorientiert weiterentwickelt wurden, weil sich Vertrauensbildung eben nicht nur als Mittel der Friedenssicherung, sondern als de facto praktizierte Friedenssicherung entpuppte.

Anspruchsvoller Multilateralismus zielt auf Beziehungspflege und kollektive Problembearbeitung

In dem Maße, in dem zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Gegenwart angesichts einer grassierenden „Firstism“- (oder „Unsere-Nation-zuerst“-) Ideologie grundsätzlich anfälliger werden, ist auch die multilaterale Gegenbewegung eben nicht nur Mittel zum Zweck. Ruggie verweist auf diese zweite Dimension, wenn er Multilateralismus als eine Praxis bezeichnet, die durch den Handlungsgrundsatz „diffuser Reziprozität“ gekennzeichnet ist. Damit ist die Bereitschaft der Zusammenarbeitenden gemeint, stabile und auf längerfristige Kooperation angelegte Beziehungen einzugehen, die nicht von unmittelbaren Kosten-Nutzenkalkülen in singulär konzipierten Interaktionen im Hier und Jetzt und auf der Basis eines punktuellen „quid pro quo“ (wie bei Trumps „deals“) angetrieben werden. Vielmehr sind sie auf längerfristige Austauschbeziehungen angelegt, in denen komplexere Nutzenkalküle über eine Vielzahl von Kooperationskontexte hinweg angestellt und miteinander „verrechnet“ werden. Das Projekt der Europäischen Integration stellt die am weitesten fortgeschrittene Form gelebter multilateraler Zusammenarbeit dar, weil sie die langfristig angelegte, institutionell verankerte und regelbasierte Zusammenarbeit geradezu zu einer eigenen Lebensform (Groom) weiterentwickelt hat, wie wir sie in vergleichbarer Form ansonsten nur innerhalb von Nationalstaaten vorfinden.

Die Anzahl der in multilateralen Kontexten Zusammenarbeitenden ist dabei nicht das entscheidende Kriterium. Funktionierender Multilateralismus ist unabhängig davon, ob es sich um inklusive (also etwa alle VN-Mitgliedsstaaten einbeziehende) Institutionen oder um exklusive multilaterale Institutionen mit begrenzter Mitgliedschaft (wie die EU) handelt. Der Erfolg multilateraler Zusammenarbeit bemisst sich vielmehr ausschließlich daran, ob die für die effektive Bearbeitung eines spezifischen Problems entscheidende Anzahl von Partnern zu einer belastbaren Zusammenarbeit zusammenfindet. Das ist in der EU als einem Projekt der dauerhaften Friedens- und Wohlstandssicherung nicht anders als bei der Bearbeitung der immensen Herausforderungen des Anthropozäns im Gefolge der Klimaerwärmung oder der gravierenden ökologischen Eingriffe der Menschheit in den Planeten Erde.

Nebeneinander von punktueller Allianz-Bildung und anspruchsvollem Multilateralismus gestalten

Genau hier liegen die immensen Herausforderungen, wenn der Multilateralismus erfolgreich „weiterentwickelt“ werden soll. Das geplante Weißbuch der Bundesregierung kann dazu nur einen begrenzten, deshalb aber nicht unwichtigen Beitrag leisten. Zwei Herausforderungen seien abschließend genannt, deren Adressierung mit dem Weißbuch zumindest angestoßen werden könnte.

Wichtig wäre, erstens, auf regierungsamtlicher Ebene jene grundsätzlichen konzeptionellen Überlegungen voranzutreiben, die dazu beitragen, „dass unsere multilaterale Ordnung nicht bei der Europäischen Union endet, sondern dass es eine wird, die auch auf neue globale Herausforderungen wirklich gute Antworten gibt“. Dazu gehören u.a. Überlegungen wie das spannungsgeladene Nebeneinander zwischen klubhafter „Allianz“-Bildung in „variabler Geometrie“ und mit punktuell Kooperationswilligen (v. Loringhoven) einerseits mit der oben diskutierten anspruchsvolleren Form einer auf Dauer angelegten und auf diffuser Reziprozität basierenden Zusammenarbeit andererseits rückgekoppelt werden kann. Hilfreich wären hier also nicht nur konzeptionelle Überlegungen, wie Deutschland seine eigene multilaterale Zusammenarbeit in internationalen Institutionen und Partnern ausbauen will, sondern wie das gesamte System regelbasierter multilateraler Zusammenarbeit weiterentwickelt werden kann.

Neue Formen zur Einbeziehung vielfältiger neuer Stakeholder finden

Zweitens und unmittelbar damit zusammenhängend gehört wesentlich dazu, neue Formen der Einbeziehung von sog. „Stakeholders“ zu entwickeln, die neben der traditionellen zwischenstaatlichen Schiene multilateraler Zusammenarbeit eingebunden werden müssen, um zu belastbaren Problemlösungen zu gelangen. Allein die Tatsache, dass die Anzahl solcher „Anspruchsberechtigter“ in den letzten Jahrzehnten aus unterschiedlichsten Gründen beträchtlich angewachsen ist und ein „effektiver Multilateralismus“ natürlich in dem Maße erschwert wird wie Mitsprachemöglichkeiten ausgebaut werden, verdeutlicht, welche Hürden die ohnehin „langsame“ und „komplizierte“ multilaterale Zusammenarbeit überwinden muss.

So begrenzt die Durchschlagskraft der „Allianz für den Multilateralismus“ angesichts der immensen globalen Probleme und der fehlenden Unterstützung seitens gewichtiger Mächte wie den USA und China ist – die erfolgreiche Etablierung dieser mittlerweile 66 Staaten umfassenden „Allianz“ gemeinsam mit Frankreich ist ein erster Erfolg. Sie und den Multilateralismus gilt es auch über das „Weißbuch“ hinaus in unterschiedlichen Kontexten konzeptionell weiterzuentwickeln. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise  eine multinational besetzte Studiengruppe aus Praktikern und Wissenschaftlern. (Vergleiche meinen Vorschlag zu einer ähnlichen Studiengruppe zur Reform der Vereinten Nationen 2013). Diplomatisches Kapital und intellektuelle Energie in die Weiterentwicklung des Multilateralismus zu investieren, wäre nicht nur weltpolitisch wichtig, sondern würde Deutschland auch gut anstehen.

Friedensförderung Partner Kommunikation Multilateralismus

Gunther Hellmann

Prof. Dr. Gunther Hellmann ist Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Gesellschafts­wissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.