Wiederaufbau anders denken: Gesellschaftliche Transformationsprozesse in den Mittelpunkt stellen

22. September 2020   ·   Ulrike Hopp-Nishanka, Susanne Jaworski

Der kürzlich veröffentlichte „Building for Peace“-Bericht der Weltbank empfiehlt neue Ansätze für den Wiederaufbau nach Krisen und Konflikten. Internationale Geber wie Deutschland sollten danach ein inklusives Vorgehen in den Mittelpunkt rücken, bei lokalen Kapazitäten und Akteur*innen ansetzen und die Kohärenz des eigenen Handelns stärken.

Mit Unterstützung des BMZ haben Weltbank und Expert*innen aus der MENA-Region Vorschläge entwickelt, wie Wiederaufbau im Nahen Osten und in Nordafrika zukünftig angegangen werden sollte. Mitte Juli hat die Weltbank ihren Bericht „Building for Peace: Reconstruction for Security, Sustainable Peace, and Equity in the Middle East and North Africa” (B4P) vorgestellt. Dieser stellt ein inklusives Vorgehen in den Mittelpunkt, welches Ansätze der Friedensförderung und Stärkung sozialer Kohäsion mit der Wiederherstellung von Infrastruktur zusammendenkt und so Konfliktursachen nachhaltig adressieren soll. Die Empfehlungen sollten von internationalen Gebern und regionalen Entscheidungsträger*innen ernst genommen werden, damit alte Fehler nicht wiederholt werden. Sie sind auch relevant für die internationalen Hilfsprogramme zur Bewältigung der Corona-Krise.  

Zielgerichtet Verantwortung übernehmen mit „Building for Peace“  

Deutschland ist im Kontext der Syrienkrise und im Jemen bei der Unterstützung der von Krieg und Vertreibung betroffenen Bevölkerung, aber auch beim Wiederaufbau im Irak einer der größten bilateralen Geber. Auch außerhalb der MENA-Region spielt die Bundesregierung eine vergleichbar wichtige Rolle – zuvorderst in Afghanistan.  

Mit dieser Rolle geht eine Verantwortung bei der politischen und programmatischen Gestaltung von internationalen Bemühungen zur Unterstützung von Stabilisierung und Wiederaufbau einher. Diese übernimmt die Bundesregierung auf vielfache Weise, unter anderem im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, bei der Begleitung von Friedensprozessen, bei der Mitgestaltung von internationalen Konferenzen zur Sammlung von Unterstützungsgeldern oder der Mitgestaltung multilateraler Hilfsprogramme. Dabei fließen Erfahrungen aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ein – meist implizit durch Erfahrungswissen oder durch punktuelle, konzeptionelle Impulse.  

Einen gezielten, längerfristigen Austausch zum Thema Wiederaufbau hat das BMZ bereits 2018 mit der Weltbank begonnen und diese Zusammenarbeit trägt nun erste Früchte. Mit finanzieller Unterstützung des BMZ und in konzeptioneller Zusammenarbeit mit GIZ, DIE sowie KfW hat die Weltbank Erfahrungen aus vergangenen Wiederaufbauprozessen ausgewertet und Empfehlungen für ein friedensförderndes Engagement entwickelt. Grundlage sind Hintergrundstudien von einem Dutzend regionaler und internationaler Denkfabriken wie z.B. dem Institute for State Effectiveness, dem Middle East Institute sowie der Brookings Institution. Zudem sind in zahlreichen Konsultationen und Präsentationen multilaterale Partner und andere Entwicklungsbanken, bilaterale Geber, zivilgesellschaftliche Organisationen sowie Stimmen aus der Region einbezogen worden.  

Nachhaltig wirksamer Wiederaufbau benötigt „bottom-up“-Prozesse und ein tiefgehendes Verständnis der politischen Ökonomie  

Durch diesen breiten Prozess sind unter anderem theoretische Grundlagen aus der politischen Ökonomie, konzeptionelle Überlegungen zur Transformation von Gesellschaftsverträgen sowie entwicklungspolitische Prinzipien der Friedensförderung eingeflossen. Der Bericht ergänzt somit auf konzeptioneller Ebene die Anfang 2020 veröffentlichte, auf institutionelle Prozesse ausgerichtete „Fragility, Conflict and Violence“-Strategie der Weltbankgruppe. Er macht Vorschläge, wie Engagement während der Krise sowie die Vorbereitung und Durchführung von Wiederaufbau in einer inklusiven, systemischen Weise angegangen werden sollten. Das ist wichtig für dauerhafte Krisenkontexte wie im Irak und im Jemen, kann aber auch Anregungen für akute Herausforderungen wie den Wiederaufbau Beiruts nach der Explosion geben.  

Während manche der Empfehlungen des Berichts für erfahrene Peacebuilding-Expert*innen nicht neu sein werden, haben sie für die Planung und Finanzierung von Wiederaufbauprojekten eine zentrale Botschaft: Um zu nachhaltigem Frieden beizutragen, müssen Wiederaufbauaktivitäten über das klassische Verständnis von der Rehabilitierung physischer Infrastruktur und der Wiederherstellung von zentralstaatlichen Funktionen hinausgehen. Stattdessen soll ein inklusiveres Vorgehen im Mittelpunkt stehen, das bei der lokalen Bevölkerung und den noch vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten vor Ort „bottom-up“ ansetzt. Ziel ist eine Transformation der vor und während des Gewaltkonflikts bestehenden Macht- und Gesellschaftsverhältnisse. Dazu müssen Empowerment lokaler Akteur*innen, ökonomische Chancen für die junge Bevölkerung sowie die Stärkung sozialer Kohäsion mit der Unterstützung inklusiver, legitimer und transparenter staatlicher Institutionen verbunden werden.  

Damit eine solche langfristig transformative Perspektive möglich wird, fordert der B4P-Bericht, bisher vorhandene Scheuklappen bei Analyse und Design von Interventionen abzulegen. Zudem müssten Risiken, Kompromisse und Dilemmata deutlicher gemacht und mit allen relevanten, auch nicht-staatlichen Akteuren zusammengearbeitet werden. Internationale Akteure sollten auch während laufender Konflikte ihr Engagement vor Ort aufrechterhalten und einen langfristigen Friedensprozess durch die Erarbeitung einer inklusiven Zukunftsvision befördern. Allein solche Aussagen sind für kritische Beobachter*innen der Bretton-Woods-Institutionen zu begrüßen und die Bundesregierung sollte die Umsetzung der Anregungen und Empfehlungen weiterverfolgen.        

Mehr Engagement für ressortübergreifende Verzahnung, soziale Kohäsion und die gendersensible Einbindung lokaler Akteure  

Die Bundesregierung setzt diese Empfehlungen in der Region bereits auf vielfache Weise um, beispielsweise durch Maßnahmen zur Förderung von Dialog- und Friedensbildung, oder durch die Nutzung etablierter Standards und Verfahren zur Konflikt- und Kontextanalyse. Auch das neu konzipierte Instrument der strukturbildenden Übergangshilfe bezieht sich bereits auf B4P. Ausgehend von den Erkenntnissen des Berichts folgen fünf Anregungen, die sowohl der weiteren internationalen Diskussion dienlich sind als auch das eigene, deutsche Engagement befördern können:

1. Im Sinne des „Triple Nexus“ von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung müssen die sektoralen und instrumentellen Silos der internationalen Zusammenarbeit weiterhin überwunden werden. Die strukturbildende Übergangshilfe oder auch das gemeinsame Vorgehen der Bundesressorts bei gemeinsamer Analyse und abgestimmter Planung können dazu einen Beitrag leisten, aber bisher überwiegt die Abgrenzung der Instrumente. Hier besteht weiterer Handlungsbedarf im Sinne einer wirklichen Verzahnung und Zusammenarbeit der Handlungsfelder – sowohl im deutschen als auch im internationalen Kontext. Die deutschen Erfahrungen und offene Fragen sollten daher proaktiver als bisher mit internationalen Partnern geteilt und diskutiert werden.

2. Die Bundesregierung sollte die Gestaltung gesellschaftlicher Transformationsprozesse durch die Unterstützung von Dialog- und Partizipationsformaten weiter in den Blick nehmen. Dazu gehört beispielsweise die Schaffung von Räumen und Plattformen, um Schlüsselakteure und ein breites Spektrum gesellschaftlicher Gruppen miteinander in Kontakt zu bringen und Aushandlungsprozesse von lokaler bis nationaler Ebene zu befördern. Darunter fallen auch die Integration angemessener Beteiligungsmechanismen in Aktivitäten zur Instandsetzung von Infrastruktur oder Basisdienstleistungen sowie die Stärkung der Kapazitäten zivilgesellschaftlicher Akteure und der Diaspora. Die Weiterentwicklung und Nutzung digitaler Ansätze zur Förderung von Austausch und Bürger*innenbeteiligung bieten dafür zukunftsfähige Chancen.

3. Der B4P-Bericht betont die Relevanz der politischen Ökonomie – nicht nur der Krisenkontexte, sondern auch der internationalen Interventionen und der Geber selbst. In der Forschung werden diese Fragen bereits diskutiert, jedoch ist es bisher nicht gelungen, sie in die Analyse und Planung zu integrieren und praxisnahe Empfehlungen abzuleiten. Das war auch Thema einer internationalen Konferenz zu “Anti-corruption in Fragile States”, die das BMZ gemeinsam mit der GIZ, dem U4 Anti-Corruption Resource Centre und Transparency International Deutschland e.V. im November 2019 ausgerichtet hat. Dort wurde gefordert, der Verteilung von Ressourcen, Macht und Legitimität im Kontext von Krieg und Konflikt mehr Beachtung zu schenken. Diese Baustelle sollte die Bundesregierung stärker in Angriff nehmen – andere Geber wie Großbritannien oder Schweden können hier Anregungen geben.

4. Das BMZ hat in den letzten Jahren sein Engagement für in der Friedensförderung grundlegende Aufgaben ausgebaut. Dazu gehören die Förderung von sozialer Kohäsion, die Bewältigung von traumatischen Kriegserlebnissen, Gewalt und Vertreibung sowie die Stärkung mentaler Gesundheit und psychosozialer Unterstützung (MHPSS), insbesondere von Kindern und Jugendlichen. Nun gilt es, diese Ansätze systematischer in die Konzeption von materiellem Wiederaufbau zu integrieren. Wiederaufbau darf seelische Wunden nicht wieder aufreißen und muss Raum lassen für die – oftmals erst später mögliche – Erinnerungsarbeit. Bei der Gestaltung von Erinnerungsorten kann Deutschland auch auf ganz konkrete Erfahrungen im Umgang mit der eigenen Vergangenheit aufbauen.

5. Wenn die Bundesregierung Ende 2020 den dritten Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der VN-Resolution 1325 vorlegt, sollte die aktive Einbeziehung von Frauen in die Planung und Gestaltung von Wiederaufbauprozessen darin enthalten sein. Bisher fokussiert die Einbindung von Frauen in Friedensprozesse auf deren Rolle in Friedensverhandlungen, bei der Konfliktbearbeitung und Krisenprävention. Sie müssen jedoch auch bei der Entwicklung, Planung und Ausgestaltung der Zukunftsperspektiven für kriegszerstörte Gebiete mitreden. Gerade wenn es um handfeste finanzielle Interessen geht, die mit Wiederaufbauprojekten verbunden werden, wird eine gendersensible Perspektive noch zu oft ausgeblendet. Hier kann die Bundesregierung mit bewährten Partnerinnen wie UN Women ansetzen, muss das Anliegen jedoch auch in die eigene alltägliche Praxis integrieren.

Wiederaufbau weiterdenken: „Building for Peace“ mit Klimawandel und Corona  

Nicht zuletzt muss Wiederaufbau stärker als bisher die ökologischen Herausforderungen aufgreifen: Wie kann die Rehabilitierung von Infrastruktur – gerade in einer klimatisch komplexen Region wie dem Nahen Osten und Nordafrika – klimaneutral gelingen? Wie können nachhaltige Konzepte wie das der zirkulären Ökonomie Ansätze zur Beschäftigungsförderung im Wiederaufbau befruchten? Die aktuellen Diskussionen zur Bewältigung der Corona-Krise sind auch für den Wiederaufbau nach Krieg und Krise relevant.

„Building back better“ ist im Kontext der internationalen Bewältigung der Corona-Krise in aller Munde. Während die dort bereits deutlichen Forderungen nach klimafreundlichen Reformen in Verbindung mit den Hilfspaketen Anregung für den kriegsbedingten Wiederaufbau sein können, gilt auch andersherum: Der Ansatz des „Building for Peace“ kann Anregungen geben, wenn es um die Einbeziehung gesellschaftlicher und polit-ökonomischer Fragen beim Corona-bedingten Wiederaufbau geht. Beide haben gemeinsam, dass ein „business as usual“ nicht mehr möglich ist und neue Zukunftsvisionen die anstehenden Transformationsprozesse anleiten müssen.

Der Bericht der Weltbank, Hintergrunddokumente und vertiefende Forschungsbeiträge können hier abgerufen werden. Zudem können die Webinare im Rahmen des virtuellen Fragility Forums 2020 online angesehen werden.  

Die Strategie des BMZ für Übergangshilfe mit ihrem Beitrag zu friedensförderndem Wiederaufbau findet sich hier

Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autorinnen wieder und stimmt nicht notwendigerweise mit den Positionen des BMZ oder der GIZ überein.

Politikkohärenz Friedensförderung Stabilisierung

Ulrike Hopp-Nishanka

Dr. Ulrike Hopp-Nishanka ist zurzeit vom BMZ beurlaubt und begleitet als freie Gutachterin u.a. die Zusammenarbeit von BMZ und Weltbank im Building for Peace-Prozess. Sie arbeitet seit 2002 an verschiedenen Themen der Krisenprävention und Friedensförderung – im Zentrum steht dabei immer die inklusive Gestaltung von Transformationsprozessen. @hoppnishanka

Susanne Jaworski

Susanne Jaworski ist Beraterin bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und unterstützt dort seit 2018 das BMZ bei der strategischen Ausrichtung zu den Themen Wiederaufbau, Friedensentwicklung und guter Regierungsführung in der MENA-Region. @jaw_susan