Stabilität weiterdenken: Für einen dynamischen Stabilisierungsansatz 01. September 2020 · Max Mutschler, Katja Mielke, Esther Meininghaus Die Bundesregierung sollte ein dynamisches Verständnis von Stabilisierung verfolgen. Für Berlins Politik in Mali würde das bedeuten, die Interessen der malischen Bevölkerung stärker zu berücksichtigen, das UN-Mandat auf die Überwachung des Friedens zu fokussieren und die EU-Trainingsmission stärker von einer Beachtung der Menschenrechte abhängig zu machen. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Stabilität und Stabilisierung lassen sich entweder als statisches oder dynamisches Konzept verstehen. Internationale Stabilisierungspolitik in (Post-)Konfliktgesellschaften tendiert zu einem statischen Verständnis von Stabilität, das auf den Status quo nationalstaatlich zentrierter politischer Strukturen und Stabilitätspartner fixiert und wenig transformativ ist. Wie wir basierend auf der zweijährigen Arbeit einer Arbeitsgruppe am Bonn International Center for Conversion (BICC) und in unserem Artikel „For a Dynamic Approach to Stabilization“ erläutern, beinhaltet ein dynamisches Verständnis von Stabilität hingegen Stabilisierung als ergebnisoffenen Aushandlungsprozess über die soziale und politische Ordnung in Gesellschaften, in denen internationale Stabilisierungsakteure im Sinne der Friedenssicherung intervenieren. Die internationale Stabilisierungspolitik ist von einem statischen Verständnis von Stabilisierung geprägt Statisch verstanden bezeichnet Stabilität [...] einen Zustand, an dem sich nichts oder nur sehr wenig ändert; quasi den Erhalt des Status quo. Um Stabilisierungspolitik zu verstehen, sollte man sich im Klaren darüber sein, auf welchem Verständnis von Stabilität diese Politik basiert. In unserem Artikel unterscheiden wir grundlegend zwei Konzeptionen von Stabilität – und damit auch von Stabilisierung: eine statische und eine dynamische Variante. Statisch verstanden bezeichnet Stabilität, ganz im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, einen Zustand, an dem sich nichts oder nur sehr wenig ändert; quasi den Erhalt des Status quo. Stabilisierung bezeichnet dann eine Reihe von Maßnahmen, um ein zu stabilisierendes Objekt in seinem Status quo zu erhalten. Dieses statische Verständnis dominiert aus unserer Sicht die Praxis der internationalen Stabilisierungspolitik. Das zu stabilisierende Objekt ist dabei in der Regel der Staat. Externe Akteure – seien es selbst Staaten oder internationale Organisationen – versuchen mit verschiedenen Maßnahmen, Staaten in (vormaligen) Kriegsgebieten und Konfliktregionen in die Lage zu versetzen grundlegende staatliche Funktionen zu erfüllen. Zu diesen Funktionen zählen die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen und insbesondere die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. So soll Instabilität in Form gewaltsamer Konflikteskalation und dem Zusammenbruch staatlicher Strukturen verhindert oder zumindest eingedämmt werden. Befürworter*innen dieses Ansatzes werden argumentieren, dass diese Form der Stabilisierung keinesfalls als statisch bezeichnet werden könne, da es ja darum geht – wie auch in den Leitlinien der Bundesregierung postuliert – staatliche Fragilität zu reduzieren und somit den Status quo zu verändern. Aus einem engen Blickwinkel betrachtet ist das völlig richtig. Ein Großteil der Stabilisierungsmaßnahmen zielt darauf ab, staatliche Akteure effektiver und effizienter zu machen und natürlich ist dies, wenn es gelingt, eine Veränderung. Aus einer weitgefassteren Perspektive betrachtet ändern solche statischen Stabilisierungsmaßnahmen alleine jedoch kaum etwas an den staatlichen Strukturen und der damit verknüpften sozialen und politischen Ordnung. Was aber, wenn diese Strukturen ein zentraler Teil des Problems in einem Land oder einer Region sind und zu Instabilität beitragen? Beispiel Mali: Nur die Effektivität der Sicherheitskräfte zu steigern bringt nicht mehr Stabilität Machen wir es konkret anhand der internationalen Stabilisierungsbemühungen in Mali. Dort sind seit dem Aufstand im Norden des Landes und dem Militärputsch 2012 verschiedene Staaten und internationale Organisationen damit beschäftigt, den malischen Staat und die Regierung zu stabilisieren. Unter anderem werden zu diesem Zweck die malischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen Aufständische – von der Regierung zumeist als „Terroristen“ bezeichnet – unterstützt. Zwar hat die seit 2013 in Mali aktive UN-Peacekeeping Mission MINUSMA (Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali), an der auch die Bundeswehr mit bis zu 1.100 (Mandatsobergrenze) Soldatinnen und Soldaten beteiligt ist, kein Mandat zur selbständigen Bekämpfung von Aufständischen. MINUSMA unterstützt aber andere Missionen wie die von Frankreich angeführte Operation Barkhane oder die G5-Sahel-Eingreiftruppe durch enge technische und logistische Hilfe bei der Aufstandsbekämpfung. Ein zentrales Element der Stabilisierungsbemühungen in Mali ist darüber hinaus die Ausbildung und Ausstattung der malischen Sicherheitskräfte selbst. So bildet beispielsweise die EU mit ihrer EU Training Mission in Mali (EUTM Mali) seit Februar 2013 malische Soldaten aus. Auch an EUTM ist die Bundeswehr beteiligt, vor allem mit der Pionier-, Logistik- und Infanterieausbildung. Darüber hinaus setzt die EU durch den European Trust Fund for Africa (EUTF) auch auf eine verstärkte Migrationskontrolle in Mali und der weiteren Sahel-Region. Statt für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen, steigern die malischen Sicherheitskräfte das Unsicherheitsempfinden der Malier. Die Stabilisierungsbemühungen externer Akteure in Mali zielen im Kern auf eine Effektivitätssteigerung der malischen Sicherheitskräfte. Dabei werden diesen, insbesondere der Armee, zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, darunter Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Dies unterminiert die Legitimität von Armee und Regierung und ist mitverantwortlich für den Zulauf zu nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen, von denen einige dem dschihadistischen Spektrum zuzurechnen sind. Statt für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen, steigern die malischen Sicherheitskräfte also das Unsicherheitsempfinden der Malier. Eine bloße Verbesserung der Effektivität staatlicher „Unsicherheitskräfte“ ohne tiefgreifende Veränderungen der Strukturen innerhalb derer diese agieren – also etwa einem Ende der Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen und der Einführung einer effektiven, demokratischen Kontrolle der Streitkräfte – wird deshalb keine längerfristige Stabilität bringen. Daran ändert auch der jüngste Putsch des Militärs im August 2020 nichts, der die problematische Rolle des Militärs in Mali noch einmal unterstreicht. Stabilisierungspolitik dynamisch verstehen Eine tiefgreifende Transformation staatlicher Strukturen in (Post-)Konfliktgesellschaften wurde insbesondere in den 1990er und 2000er Jahren unter dem Stichwort des „liberal Peacebuilding“ als wichtiges Mittel der Friedensförderung und Konfliktprävention betrachtet. Es hat aber den Anschein, dass von der ursprünglichen Vision der Schaffung eines liberalen Friedens, im Sinne einer Transformation hin zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft, nach dem Scheitern dieser Bemühungen in Afghanistan, im Irak und anderswo wenig übriggeblieben ist. Was aber ist dann die Alternative zu einer statischen Stabilisierungspolitik, die durch ihre Fixierung auf den Status quo Gefahr läuft, mittel- bis langfristig eher mehr Instabilität als Stabilität zu erzeugen? Im Grundsatz meint dynamische Stabilisierung einen transformativen Prozess der offen ist für Ordnungsdynamiken jenseits der zentralstaatlichen Verfasstheit. Wir plädieren für eine Stabilisierungspolitik, die sich auf ein dynamisches Verständnis von Stabilität stützt. Nach diesem Verständnis bezeichnet Stabilität nicht das unverrückbar Feste; vielmehr entsteht sie durch ein dynamisches Wechselspiel der Kräfte und deren Balance. Das zu stabilisierende Objekt ist dann nicht zwangsläufig der Staat, sondern eine soziale Ordnung, die immer wieder zwischen den gesellschaftlichen Akteuren politisch ausgehandelt werden muss. Stabilisierung heißt also nicht, ein bestimmtes soziales Ordnungssystem – den Staat – zu stützen, sondern auch alternative Ordnungsvorstellungen einzubeziehen. Die externen „Stabilisatoren“ sollten nicht primär ihre eigenen Vorstellungen von einer stabilen sozialen Ordnung als Zielmarke setzen, sondern diejenigen gesellschaftlichen Kräfte unterstützen, die an einem solchen Aushandlungsprozess interessiert sind und ihnen dabei helfen, ihre Ordnungsvorstellungen in Einklang zu bringen. Es geht also um einen „gemeinsamen Suchprozess und keinen von außen vorgegebenen Maßnahmenkatalog.“ Selbstverständlich muss es dabei Grenzen geben. So muss etwa der Schutz der Menschenrechte einen hohen Stellenwert einnehmen und darf nicht zur Disposition gestellt werden. Wir plädieren nicht für eine Aushandlung um jeden Preis. Aber im Grundsatz meint dynamische Stabilisierung einen transformativen Prozess der offen ist für Ordnungsdynamiken jenseits der zentralstaatlichen Verfasstheit. Insbesondere auf lokaler Ebene können von Gemeinden oder Sozialverbänden bestellte und ihnen rechenschaftspflichtige Sicherheitskräfte einen Mechanismus darstellen, Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden und Schutz zu bieten. Ist dieser nicht garantiert oder von der lokalen Bevölkerung zu leisten, zum Beispiel dort, wo sich diese unterdrückender Gewalt islamistischer Milizen ausgesetzt sehen, muss er von außen kommen. Evaluieren und einbeziehen, was die malische Bevölkerung unter Stabilisierung versteht Dynamische Stabilisierung bedeutet deshalb, basispolitische Ordnungs- und Organisationsformen in den politischen Prozess einzubinden, auch wenn deren Vertreter die Regierung und/oder die gegenwärtige Form staatlicher Verfasstheit in Frage stellen. Dazu zählen im Falle Malis die nach Autonomie strebenden Tuareg und andere bewaffnete Gruppierungen, die aufgrund ihrer Opposition zum Regime als „Terroristen“ bezeichnet werden – oder auch als „Barbaren“ und „Tiere“, wie zum Beispiel vom durch das Militär abgesetzten Präsidenten Keïta. Wir sehen es zum Beispiel als vielversprechend an, die malische Bevölkerung über von ihr als legitim wahrgenommene Repräsentanten in Stabilisierungsprozesse einzubinden – und zwar auf Grundlage dessen, was die Malierinnen und Malier unter Stabilität verstehen und welche ordnungspolitischen Mechanismen für die Erreichung derselben als legitim angesehen werden. Uns ist nicht bekannt, dass dies bereits umfassend eruiert worden ist. Dafür wären umfassende Kontextanalysen mit einem Gender-sensitiven Vorgehen notwendig, die sich in der Tiefe mit der Historie sowie den Akteuren auf regionaler und lokaler Ebene unter zusätzlicher Einbeziehung trans-lokaler und transnationaler Netzwerke auseinandersetzen. Vorbild könnte der weitgehend von der ‚Zivil‘gesellschaft betriebene Friedensprozess in der ersten Hälfte der 1990er Jahren sein, der sich weitgehend auf traditionelle Konfliktlösungsmechanismen und -autoritäten stützte. Damit appelliert ein dynamischer Stabilisierungsansatz auch an die Aufrichtigkeit der europäischen Stabilisierungsakteure, eigene Interessen zurückzunehmen. Das eindringlichste Beispiel dafür ist die Außenvorhaltung von Migrant*innen und Flüchtlingen vor den Toren Europas, die zu einem der Hauptmotive für Stabilisierungseinsätze geworden ist. MINUSMA-Mandat auf die Überwachung des Friedens konzentrieren und EUTM-Mandat an Beachtung der Menschenrechte knüpfen Eine dynamische Stabilisierung schließt eine militärische Komponente der Intervention nicht aus. Gerade eine Friedensmission der Vereinten Nationen kann – wenn nötig auch unter Einsatz militärischer Gewalt – den Schutz von Zivilisten garantieren, der eine notwendige Voraussetzung für einen solchen Aushandlungsprozess darstellt. Eine entsprechende militärische Intervention kann also helfen, Zeit für die Aushandlung einer alternativen Ordnung zu gewinnen. Entscheidend ist aber, dass sich die UN-Truppen dann auch tatsächlich diesem Mandat in neutraler Weise verpflichtet fühlen und sich nicht zum Handlanger der Regierung bei der Bekämpfung ihrer Gegner machen. Denn in (Post-)Konfliktgesellschaften, das sehen wir auch in Mali, ist die Regierung keineswegs neutrale Instanz, sondern oft selbst Konfliktpartei. Eine einseitige Parteinahme zu Gunsten der Regierung vermag vielleicht – ganz im Sinne des statischen Ansatzes – die bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnisse zu stabilisieren; ernsthafte Veränderungen, die für längerfristigen Frieden erforderlich sind, lassen sich so aber nur schwer erzielen. Warum auch sollte eine Regierung auf friedliche Aushandlung setzen, wenn sie darin bestärkt wird, ihre Konflikte militärisch zu lösen? Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, das Mandat von MINUSMA auf die Überwachung des Friedens gemäß des Neutralitätsprinzips zu konzentrieren. Ebenso sollte sie sich im EU-Rahmen dafür einsetzen, dass die Ausbildung und Ausstattung der Malischen Sicherheitskräfte an die konsequente Beachtung von Menschenrechten geknüpft werden. Ein Stufenplan mit Sanktionierungsmechanismen wäre sinnvoll. Gerade in der höchst volatilen politischen Situation in Mali sollte die Bundesregierung insbesondere diejenigen Kräfte unterstützen, die sich mit friedlichen Mitteln für einen Wandel in Mali einsetzen. Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel „For a Dynamic Approach to Stabilization“, der im März 2020 in der Zeitschrift International Peacekeeping veröffentlicht wurde. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Stabilisierung Zivilgesellschaft Sub-Sahara Afrika Frieden & Sicherheit Mali Max Mutschler Max Mutschler ist Senior Researcher am Bonn International Center for Conversion (BICC). Katja Mielke Katja Mielke ist Senior Researcher am Bonn International Center for Conversion (BICC). Esther Meininghaus Esther Meininghaus ist Senior Researcher am Bonn International Center for Conversion (BICC). @EMeininghaus
Artikel Burkina Faso und Sahel erfordern neue Dimensionen des Engagements von der Bundesregierung Die bisherige europäische Politik in der Sahel-Region ist gescheitert. Ein neues Papier aus der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland fordert von der Bundesregierung, sich insbesondere in Burkina Faso finanziell, personell und politisch so umfassend zu engagieren, dass das Schlüsselland in der Sahel-Region den erdrückenden Herausforderungen standhalten kann. Helmut Asche • 16. Juni 2020
Artikel Task Force Takuba in Mali: Verpasste Chance für die europäische Außenpolitik Eine deutsche Beteiligung an der von Frankreich initiierten Task Force Takuba zur Terrorismusbekämpfung spielte im Rahmen der Bundestagsdebatten um die Mali-Mandate der Bundeswehr kaum eine Rolle. Das ist problematisch, denn die Task Force politisch zu unterstützen, aber die Risiken anderen zu überlassen, ist inkonsequent und schadet der gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Gesine Weber • 28. Mai 2020
Podcast PeaceLab Podcast: Transitions from Peacekeeping to Peacebuilding PeaceLab editorial team • 17 August 2020