Ein Weißbuch Multilateralismus ist längst überfällig

02. Oktober 2020   ·   Ulrich Lechte

In einem Weißbuch Multilateralismus sollte die Bundesregierung ein wertebasiertes Verständnis von Multilateralismus festhalten. Sie sollte Zahlungen an internationale Organisationen flexibilisieren, um diese zu stärken. Für eine wirksamere parlamentarische Kontrolle sollte der Unterausschuss Vereinte Nationen des Bundestags zu einem vollwertigen Ausschuss aufgewertet werden.

Die Verteidigung des Multilateralismus ist eines der Kernthemen von Außenminister Heiko Maas, spätestens seitdem er im August 2018 eine Allianz für den Multilateralismus in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt ankündigte. Seitdem herrscht aber Verwirrung darüber, welche Ziele diese Allianz genau verfolgt und welche Wege zu diesen Zielen führen sollen. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass Staatsminister Niels Annen nun den Prozess für ein Weißbuch Multilateralismus angestoßen hat.

Eine kohärente Strategie der Bundesregierung für den Multilateralismus ist längst überfällig. Es ist schade, dass der Weißbuch-Prozess so spät in der Legislaturperiode begonnen wurde. Die Umsetzung wird somit der nächsten Bundesregierung überlassen. Aber angesichts der  parteiübergreifenden Einigkeit über die Wichtigkeit dieses Themas – zumindest bei den demokratischen Parteien – wird der Prozess mit Sicherheit fortgeführt. Daher möchte ich im Folgenden einige Punkte ansprechen, die in einem  Weißbuch Multilateralismus berücksichtigt werden müssen. Abschließend möchte ich die Perspektive einer parlamentarischen Beteiligung bei diesem Prozess aufzeigen.

Das Weißbuch Multilateralismus muss definieren, was die Bundesregierung unter Multilateralismus versteht

Als ersten Schritt muss ein Weißbuch Multilateralismus erklären, was genau mit Multilateralismus gemeint ist. Das mag banal klingen, ist aber leider nicht selbstverständlich. Denn es kursieren unterschiedliche Bedeutungen dieses Begriffs, auch innerhalb der Bundesregierung. In einer eher beschränkten Definition steht Multilateralismus nur für die Kooperation von drei oder mehr Staaten. Es grenzt sich also nur von bilateraler und unilateraler Politik ab. Konkrete Politikinhalte sind für dieses Verständnis von Multilateralismus unerheblich.

Ein anspruchsvolleres Verständnis von Multilateralismus, wie es z.B. Hanns Maull erläutert, „verknüpft internationale Diplomatie von mehr als zwei Akteuren mit dem Handeln im Rahmen internationaler Organisationen, das ausgerichtet ist an denjenigen Prinzipien, Normen und Regelwerken, die diesen zugrunde liegen". Nach diesem Verständnis ist der Kern des Multilateralismus also die regelbasierte internationale Zusammenarbeit. Zwischen den Staaten soll die Stärke des Rechts gelten, nicht das Recht des Stärkeren. Dabei sind die zeitlosen und universellen Werte der Charta der Vereinten Nationen die Verfassung der Staatengemeinschaft und bilden den Rahmen für den Multilateralismus. Dazu gehört auch der Schutz der Menschenrechte, der schon in Artikel 1 der VN-Charta als ein zentrales Ziel aufgeführt wird. Ein solches anspruchsvolleres Verständnis von Multilateralismus sollte die Grundlage für die Multilateralismus-Strategie der Bundesregierung sein. Er würde die Bundesregierung davor bewahren, geradezu naiv in die Falle der “weaponised interdependence” zu tappen, die Amrita Narlikar in dieser Weißbuch-Debatte beschrieben hat. Denn während manche multilaterale Formate möglichst inklusiv sein sollten, machen andere multilaterale Formate mehr Sinn, wenn diese auf Staaten begrenzt sind, mit denen man auch die zugrundeliegenden Werte teil.

Den Charakter der Allianz für Multilateralismus klären

Eine solche Klarstellung könnte auch viele Verwirrungen um die Allianz für den Multilateralismus auflösen. Denn während einige Regierungsvertreter – darunter auch der Außenminister selbst – die Allianz für den Multilateralismus als eine Allianz von liberalen Demokratien beschrieben haben, wurde sie an anderer Stelle von der Bundesregierung als ein informelles Netzwerk dargestellt, dass keineswegs nur auf solche Staaten beschränkt ist, mit denen man Menschenrechte und Demokratie als Werte teilt. Dieser diffuse Netzwerkcharakter wird von der Bundesregierung als Flexibilität und Stärke verkauft, er ist aber auch ideal geeignet, um die Konzeptlosigkeit der Bundesregierung beim Thema Multilateralismus zu verschleiern. Garniert wird dies noch mit verschiedenen Initiativen, die im Rahmen der Allianz vorangetrieben werden sollen. Diese Initiativen sind zwar gut, doch es hätte sie auch unabhängig von der Allianz für den Multilateralismus gegeben. Ein Beispiel dafür ist der Paris Call for Trust and Security in Cyberspace vom Internet Governance Forum 2018, der sich 2019 plötzlich unter dem Dach der Allianz für den Multilateralismus wiederfand.

Beiträge an internationale Organisationen flexibilisieren

Kein Bestandteil der Allianz für den Multilateralismus sind hingegen Initiativen für die Handlungsfähigkeit von Internationalen Organisationen, wie der „UN Funding Compact“ von 2019 und der „Grand Bargain“ vom Humanitären Weltgipfel 2016. Sie sollten aber umso dringlicher ein Bestandteil des Weißbuchs Multilateralismus werden. Denn handlungsfähige internationale Organisationen sind essentiell wichtig für die Stärkung des Multilateralismus. Ihre Handlungsfähigkeit ist allerdings akut bedroht. Das liegt einerseits an der Reduzierung und dem Zurückhalten der finanziellen Unterstützung durch wichtige weltpolitische Akteure. Andererseits liegt es daran, dass Zahlungen an internationale Organisationen zunehmend mit Zweckbindungen versehen werden. Über die Gelder kann dann nicht mehr frei verfügt werden, sondern sie müssen für bestimmte Zwecke ausgegeben werden. Damit gehen die Gelder zwar formal an eine internationale Organisation, in der Praxis sind sie aber der multilateralen Entscheidungsfindung zur gemeinschaftlichen Lösung globaler Probleme entzogen. Die internationalen Organisationen werden so zunehmend zu reinen Durchführungsorganisationen einzelstaatlicher Politikziele degradiert.

Auch Deutschland nutzt solche Zweckbindungen bei Zahlungen an internationale Organisationen vermehrt. Der Anteil von zweckgebundenen Zahlungen nimmt seit 2014 rapide zu, also seit dem Wechsel von der christlich-liberalen hin zur großen Koalition. Dadurch sorgt Deutschland für unnötige Bürokratie bei VN-Organisationen – was Regierungsvertreter nicht davon abhält ebendiese Bürokratie zu kritisieren – und verstößt zudem gegen seine eigenen Zusagen beim UN Funding Compact und beim Grand Bargain. Dieses Problem wird auch von Silke Weinlich in ihrem Beitrag zu dieser Weißbuch-Debatte beschrieben. Ich selbst versuche jedes Jahr bei den Haushaltsverhandlungen im Bundestag gegenzusteuern und stelle Anträge zur Flexibilisierung der Beiträge an internationale Organisationen – bisher allerdings leider vergeblich.

Abstimmung der VN-Politik zwischen den Ministerien erheblich ausbauen

Das Problem beschränkt sich aber nicht auf das Auswärtige Amt. Auch bei der Entwicklungszusammenarbeit muss Deutschland eine verstärkte Förderung internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen und der Weltbank sowie deren Programme verfolgen. Im Zuge der Stärkung des multilateralen Engagements sollten die Sonderinitiativen des Entwicklungsministeriums schrittweise aufgelöst und die frei werdenden Mittel teilweise den multilateralen Organisationen zur Verfügung gestellt werden. Die Zahlungen der Bundesregierung an internationale Organisationen kommen aus den Budgets verschiedener Ministerien. Den größten Beitrag leisten das Auswärtiges Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Allerdings haben allein die UN-Organisationen Zahlungen von zehn weiteren Ministerien erhalten, darunter waren beispielsweise das Umweltministerium und das Gesundheitsministerium.

Doch die Abstimmung der VN-Politik zwischen den Ministerien ist noch stark ausbaufähig. Häufig fällt die Förderung bestimmter internationaler Organisationen oder die Erreichung bestimmter internationaler Politikziele in die Zuständigkeit mehrerer Ministerien. Dann sollten ressortübergreifende Strategien entwickelt werden, um kohärente Politik und abgestimmte Förderentscheidungen zu ermöglichen. Wo nötig und sinnvoll, sollten sich überschneidende Kompetenzen entflochten und die Zuständigkeit an ein Ministerium übertragen werden.

Unterausschuss für die Vereinten Nationen zu einem vollwertigen Ausschuss aufwerten

Ehrlicherweise muss ich aber zugeben, dass dieses Ressortdenken nicht nur ein Problem der Bundesregierung ist. Der Bundestag soll das Handeln der Bundesregierung kontrollieren und hat sich dazu arbeitsteilig organisiert: Die Zuständigkeiten der Ministerien spiegeln sich in den Ausschüssen des Parlaments wieder. Ressortübergreifende Zusammenarbeit ist dabei eher die Ausnahme als die Regel. Um die Multilateralismus-Politik der Bundesregierung wirksamer zu kontrollieren, sollte der Unterausschuss „Vereinte Nationen, internationale Organisationen und Globalisierung“ von einem Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses zu einem vollwertigen Ausschuss des Deutschen Bundestags aufgewertet werden. Multilateralismus ist nicht nur ein Teilbereich der auswärtigen Politik, sondern erstreckt sich durch alle Politikfelder. Die Vertretung Deutschlands in den Gremien vieler UN-Sonderorganisationen erfolgt nicht federführend durch das Auswärtige Amt, sondern durch die jeweiligen Fachressorts. Diese Praxis des Multilateralismus muss sich auch in der Arbeitsweise des Deutschen Bundestags wiederspiegeln.

Nichtsdestotrotz leistet der Unterausschuss „Vereinte Nationen, internationale Organisationen und Globalisierung“ auch in seiner jetzigen Form einen Beitrag zur Bereicherung der Multilateralismus-Debatte. Beispielsweise führen wir am 7. Oktober 2020 um 15 Uhr eine öffentliche Anhörung anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen durch und gehen unter anderem der Frage nach, wie die Vereinten Nationen für die nächsten 75 Jahre fit gemacht werden können. Die Debatte kann in der Mediathek des Bundestags live verfolgt oder im Nachhinein angesehen werden.

Vereinte Nationen Entwicklungszusammenarbeit Multilateralismus

Ulrich Lechte

Ulrich Lechte (FDP) ist Mitglied des Bundestags und Vorsitzender im Unterausschuss Vereinte Nationen, internationale Organisationen und Globalisierung.