Keine leichte Beute: Drei Ansätze zur Stärkung multilateraler Rüstungskontrollregime

29. September 2020   ·   Pia Fuhrhop, Oliver Meier

In ihrem Weißbuch Multilateralismus sollte die Bundesregierung die Rüstungskontrolle als klare Priorität festhalten. Konkret sollte sich die Bundesregierung vornehmen, Europas Handlungsfähigkeit in der Rüstungskontrolle zu stärken, plurilaterale Initiativen stärker mit globalen Regimen der Rüstungskontrolle zu verbinden und internationale Institutionen in diesem Politikfeld widerstandsfähiger zu machen.

In einer Zeit, in der globale internationale Zusammenarbeit nicht mehr en vogue zu sein scheint, will die Bundesregierung mit ihrem Weißbuch Multilateralismus einen deutlichen Kontrapunkt setzen. Das ist richtig und wichtig. Doch Papier ist geduldig. Wenn das Weißbuch mehr als ein Bekenntnis sein soll, muss es konkrete Themen benennen, bei denen Deutschland multilaterale Kooperation voranbringen will und Schritte identifizieren, wie sie dies erreichen will.

Die Bewahrung, Stärkung und Weiterentwicklung multilateraler Rüstungskontrolle sollte ein Herzstück des Weißbuchs Multilateralismus werden. Die Priorisierung der Rüstungskontrolle im Weißbuch würde zeigen, dass Deutschlands Engagement im Rahmen der Allianz für den Multilateralismus nicht nur auf leichte Beute aus ist, sondern sich gerade da engagiert, wo die Großmächte mit harten Bandagen kämpfen.

Die Versuchung ist groß, Multilateralismus vor allem in jenen Themenfeldern zu predigen und zu praktizieren, wo kooperative Lösungen vergleichsweise einfacher zu erreichen sind. Rüstung aber ist Kernelement der Konkurrenz zwischen Großmächten. Gerade in Zeiten des Populismus scheint es fast aussichtlos, Abrüstungspolitik, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung voranzutreiben.

Es wäre kurzsichtig und kontraproduktiv das Thema Rüstungskontrolle im Weißbuch zu umschiffen

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Großmachtkonkurrenz und dem Ausbleiben rüstungskontrollpolitischer Erfolge ist eine Ermüdung, aber auch Enttäuschung gegenüber der multilateralen Rüstungskontrolle spürbar. Es wäre aus pragmatischer Sicht also nachvollziehbar, wenn dieses Themenfeld im Weißbuch umschifft würde. Gefährlich, kurzsichtig und kontraproduktiv wäre es trotzdem.

Gerade die nukleare Rüstungskonkurrenz ist mittlerweile so gefährlich geworden, dass jede Reduzierung des Risikos eines militärischen Konflikts zwischen den Atommächten ein Erfolg wäre. Der Instrumentenkasten der Rüstungskontrolle bleibt hier unentbehrlich.

In den vergangenen 50 Jahren hat Rüstungskontrolle immer wieder schwere Krisen durchlebt. Renitente Großmächte sind in diesem Politikfeld kein Novum. Antizyklisches Handeln, das darauf setzt, in Krisenzeiten multilaterale Lösungen konzeptionell vorzubereiten und bestehende Institutionen zu schützen, hat sich oft als klug und wichtig herausgestellt. Gespräche über das Verbot chemischer Waffen oder das Ende von Atomtests etwa mussten einige der kältesten Phasen des Kalten Krieges überstehen, bevor die entsprechenden Normen und Regeln im Chemiewaffenübereinkommen und dem Atomtest-Stoppvertrag völkerrechtlich verbindlich vereinbart werden konnten.

Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik verkörpert dabei im besonderen Maße ein anspruchsvolles Verständnis von Multilateralismus. Multilaterale Rüstungskontrolle leistet auf der Basis verbindlicher Regeln, starker Institutionen und verlässlicher Überprüfungs­mechanismen nicht nur einen Beitrag zur Einhegung von Rüstungswettläufen, sondern langfristig auch zur Konflikttransformation. Sie ist damit zentrales Mittel zur Kriegsverhütung. In der im April 2019 auf deutsches Betreiben einberufenen Sondersitzung des UN–Sicherheitsrats zur Atomwaffenkontrolle hat Außenminister Maas selbst diese langfristige Wirkung betont und den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) als “gentle civilizer of nations” bezeichnet.

Eine ambitionierte Rüstungskontrollagenda, die bewusst dort ansetzt, wo Großmächte die multilaterale Ordnung unterminieren, sollte drei Aspekte besonders in den Blick nehmen.

Europas Handlungsfähigkeit in der multilateralen Rüstungskontrolle stärken

Die internationale Stimme deutscher Rüstungskontrollpolitik ist da wirksamer und deutlicher zu hören, wo sie im europäischen Chor auftritt. Das Weißbuch sollte den Anspruch formulieren, die erkennbar positiven europäischen Antworten auf die Krise der Rüstungskontrolle zu systematisieren und zu stärken.

Ein erster Schritt bestünde darin, die europäischen Interessen an der Rüstungskontrolle generell und die Erwartungen an spezifische Vertragswerke im Besonderen klar zu formulieren.

Wie schwierig dies ist, zeigt beispielhaft ein kürzlich erschienener Beitrag  von  Josep Borell. Unter der Überschrift „Building Global Europe“ beschreibt der Außenbeauftragte der EU Europas Rolle, Möglichkeiten und Interessen am Erhalt der zunehmend unter Druck geratenen internationalen Ordnung. Über die Herausforderungen und die Bedeutung der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik aber verliert Europas Chefdiplomat kein Wort. Diese Lücke reflektiert sicher auch die großen Schwierigkeiten, innerhalb der EU einen Konsens über zentrale Fragen der Abrüstung und nuklearen Abschreckung herzustellen.

Deutschland als Abrüstungsbefürworter und NATO-Mitglied ist besonders gut positioniert, die Suche nach belastbaren Mittelpositionen etwa zwischen dem Atomwaffenstaat Frankreich und den Abrüstungsadvokaten Irland und Schweden zu befördern. Eine solche innereuropäische Kompromissfindung war immer schon ebenso schwierig wie wichtig. Denn die EU ist im Umgang mit Atomwaffen in mancherlei Hinsicht ein Mikrokosmos, in dem sich globale Interessengegensätze widerspiegeln. Ohne gemeinsame Positionen aber ist die EU beispielsweise auf der bevorstehenden Überprüfungskonferenz des NVV zum Thema nukleare Abrüstung nicht sprech-, geschweige denn handlungsfähig.

Das Weißbuch sollte es in diesem Zusammenhang als Ziel deutscher Außenpolitik benennen, der derzeitig gültigen EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen aus dem Jahr 2003 das längst überfällige Update zu verpassen. Angesichts der internationalen Machtverschiebungen und der neuen technischen Entwicklungen braucht Europa eine neue umfassende Strategie, die das Ambitionsniveau  europäischer Abrüstungs-,  Rüstungskontroll-  und  Nichtverbreitungspolitik neu bestimmt.

Spannungsfeld zwischen plurilateralen und multilateralen Regimen ausleuchten

Es sollte eine zweite Aufgabe des Weißbuch Multilateralismus sein, das Spannungsfeld zwischen plurilateralen Ansätzen unter gleichgesinnten Staaten und echten multilateralen Regimen auszuleuchten. Die Proliferation solcher Gruppen von „like-minded“ states, in denen meist zwischen 15 und 40 überwiegend westliche Staaten versuchen, neue Impulse für Rüstungskontrolle zu setzen, ist bemerkenswert. Sie spielen als Vehikel für die Durchsetzung deutscher Rüstungskontrollpolitik eine immer größere Rolle.

Zweifellos sind solche Initiativen wichtig, um die gegenwärtige Krise der Rüstungskontrolle zu überstehen. Und die Versuchung ist groß, plurilaterale Gruppen als bessere Alternative zu multilateralen Regimen zu betrachten, weil die Diskussionen unter gleichgesinnten Mitgliedern eben angenehmer und ein Konsens einfacher herzustellen ist.  Ein Fehler wäre dies trotzdem. Denn ein zielloser Wildwuchs solcher Initiativen kann die bestehenden Effektivitäts- und Legitimitätsprobleme multilateraler Rüstungskontrollregime unter Umständen sogar noch verstärken. Wer immer nur mit Gleichgesinnten spricht, verliert das wichtigste Ziel schnell aus dem Blick: verbindliche Regelungen mit den Gegenspielern. Das Weißbuch muss deutlich machen, wie Deutschland durch die Mitwirkung an Gruppen von „like minded“-Staaten zur Etablierung verbindlicher globaler Lösungen beitragen will.

Die Krise des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) bietet ein anschauliches Beispiel. Spätestens mit der Verabschiedung des Atomwaffenverbotsvertrages im Juli 2017 durch 122 Staaten ist deutlich geworden, dass eine Mehrheit der internationalen Gemeinschaft die Ursache für die Krise des NVV bei den Nuklearmächten sieht: sie setzen zunehmend auf ihre nuklearen Arsenale und modernisieren sie entsprechend.

Plurilaterale Initiativen sollen die bestehende Kluft zwischen den Atommächten und den Nichtatomwaffenstaaten überbrücken. In diversen Clubs werden zentrale Fragestellungen diskutiert: Die Nonproliferation and Disarmament Initiative (NPDI) beschäftigt sich mit nuklearer Transparenz, die International Partnership for Disarmament Verification (IPNDV) mit neuen Verifikationsmethoden, die von den USA geführte Creating the Environment for Nuclear Disarmament (CEND) Initiative mit den politischen Bedingungen für Abrüstung und schließlich die Stockholm Initiative for Nuclear Disarmament mit konkreten Schritten einer Stärkung des NVV. Deutschland ist einer von nur vier Staaten, der an allen vier Gruppen beteiligt ist.

Allerdings besteht durchaus die Gefahr, dass das lobenswerte Engagement nur abrüstungspolitisches Placebo bleibt. Um dem Vorwurf des abrüstungspolitischen Aktionismus zu begegnen, sollte die Mitarbeit in minilateralen Formaten darauf ausgerichtet werden, praktische Abrüstungsschritte vorzubereiten. Dazu braucht es eine klare Arbeitsteilung zwischen den Foren, transparente Berichterstattung und konkrete Arbeitspläne und allen voran eine Rückkopplung an die bestehenden multilateralen Vertragswerke. Denn: Effektive Abkommen zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen sind ein globales Gut. So schwerfällig sie auch sein mögen, an globalen Regimen führt immer dann kein Weg vorbei, wenn es um Probleme geht, die nur global bearbeitet werden können.

Institutionen der Rüstungskontrolle resilienter machen

Drittens sollte das Weißbuch deutlich machen, wie Deutschland internationale Institutionen in Zukunft widerstandsfähiger gegen Angriffe und Blockadehaltung der Großmächte machen will. Bei dieser komplexen Herausforderung ist Geld nicht alles. Aber ohne die Bereitschaft, auch finanziell für multilaterale Rüstungskontrolle einzustehen, ist Vieles schnell Nichts. Ein globaler Nichtverbreitungsfonds wäre ein Instrument, der dazu beitragen kann, die Zukunft globaler Instrumente zur Kontrolle von Massenvernichtungswaffen zu sichern, indem er bei Zahlungsverzug einzelner Vertragsstaaten in die Bresche springt. Immer wieder behindern solche Rückstände die Arbeit multilateraler Abrüstungsorganisationen. Besonders bedenklich wird es, wenn Großmächte aus politischen Gründen die Finanzierung solcher Institutionen in Frage stellen, so wie Russland erfolglos versucht hatte, die Suche der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen nach den Schuldigen für Chemiewaffenangriffe durch Haushaltskürzungen zu verhindern. In einen solchen Fonds könnten jene Staaten einzahlen, die globale Ordnungsstrukturen schützen und stützen wollen. Ein finanzieller Beitrag wäre ein symbolträchtiges Statement gegen die unilateralen Politiken der USA und Russlands sowie das fehlende Engagement wichtiger Schwellenländer – und für den Multilateralismus.

Das Weißbuch Multilateralismus ist eine gute Gelegenheit, der Skepsis gegenüber kooperativer Sicherheit entgegenzutreten. Eine aktive Rüstungskontrollpolitik, die auf Europas starke Stimme setzt, beharrlich an globalen Lösungen arbeitet und internationale Institutionen schützt, ist für multilaterale Friedens- und Sicherheitspolitik unverzichtbar.